Читать книгу Die Neue Welt - Florian Hoffmann - Страница 9
ОглавлениеEIN WINTERMORGEN IN DER SCHWEIZ. Ich stapfe mit Niall Dunne durch den Schnee. Eiskristalle auf den Autofenstern. Klarheit in der Luft. Niall ist ein smarter Typ. Lange, schwarze Haare. Fast schon ein Hollywoodlächeln, dabei lebt und arbeitet er in London. Ich kenne Niall bereits eine Weile, und gemeinsam mit Freunden teilen wir uns diese Woche eine winzige Wohnung in Davos. In dem kleinen Schweizer Skiort kommt jedes Jahr die globale Prominenz aus Politik und Wirtschaft zum Weltwirtschaftsforum zusammen, um im erlauchten Kreis große Fragen zu diskutieren. Davos funktioniert wie eine Zwiebel. Macht, Geld und Berühmtheit bestimmen, zu welchen Straßen, Hotels und Meeting-Räumen man Zugang erhält.
Niall und ich sind ziemlich weit weg vom Zentrum der Zwiebel, als wir uns den Weg von unserem winzigen, völlig überteuerten Apartment zu unseren ersten Verabredungen bahnen. Neben uns schieben sich schwarze Limousinen und Polizeiautos in Richtung Hauptstraße, die sich für die paar Tage wie jedes Jahr in eine Promenade mit Showrooms und Pavillons verandelt hat.
Ich bin das Unternehmerleben gewohnt und habe Spaß daran. Niall hingegen müsste nicht hier sein, um sich in Cafés mit Manager:innen auf ein irgendwie unverbindliches Gespräch zu treffen. Vor ein paar Jahren saß Niall noch selbst in einer dieser schwarzen Limousinen und gab abends Champagnerempfänge. Er war da Anfang 40 und Vorstand einer der größten Telekommunikationsfirmen der Welt. Am Zenit angekommen, wie man so schön sagt. Mit Geld, Einfluss, Macht. Alle Türen offen. Doch eines Tages stand er auf und drückte die Stopptaste. Niall reichte seine Kündigung ein und ging. Einfach so.
Als ich neben ihm durch Davos laufe, erinnere ich mich an unzählige Gespräche, die ich seit Jahren mit Manager:innen führe. Egal ob in New York, Hamburg oder Singapur – sie verlaufen ziemlich gleich. Trotz anstrengender Reise und mitunter Jetlag in den Knochen bin ich neugierig. Ich will diese Menschen näher kennenlernen und ihnen meine Ideen für ein gemeinsames Projekt vorstellen. Doch dann sitze ich auf einem schicken Stuhl und höre mir an, wie enttäuscht mein Gegenüber über seine Vorgesetzten, die Shareholder oder die Firmenstrategie ist. Und warum sie/er jetzt– desillusioniert und frustriert – nur noch das Nötigste zu tun gedenkt. Im Gegensatz zu Niall bleiben die Manager:innen auf ihren Posten sitzen. Weil sie noch ihr Ferienhaus abzahlen wollen. Weil nirgendwo sonst ein so gutes Package auf sie wartet. Weil das Geld, der Titel, die Firmenautos immer wieder über den Frust hinwegtrösten. Weil sie wie in einem goldenen Käfig sitzen – eingesperrt zwar, aber sehr bequem. Wenn eine:r den Absprung schafft, dann oft, um bei der Konkurrenz einen ähnlichen Job zu übernehmen. Mit manchen Menschen führe ich diese Gespräche jahrelang. Wirtschaftlicher Erfolg und Einfluss, so schien lange Zeit die Rechnung zu gehen, gehen Hand in Hand mit vielen persönlichen und beruflichen Kompromissen.
Überall auf der Welt sind Menschen jetzt mehr denn je auf der Suche nach Sinn. Es beginnt das globale Rennen um neue Innovationen und die Gestaltung unserer Arbeitswelt.
Niall Dunne
Niall indes hat sich für einen anderen Weg entschieden. Er will mehr vom Leben haben. Deshalb hat er seinen Vorstandsposten aufgegeben, um sich dem Start-up Polymateria anzuschließen, gegründet von einer Gruppe von Wissenschaftler:innen, alle mit dem Traum, endlich eine Lösung für die Umweltverschmutzung durch Plastik und Mikroplastik zu finden. Eine turbulente Idee, mit Folgen. Als Niall einstieg, war die Erfindung noch in der Testphase, und es war komplett offen, ob sich daraus jemals ein Business entwickeln würde. Aber Niall war überzeugt von der Idee und bereit, dafür noch einmal von vorne anzufangen. Sein Know-how und sein Netzwerk für etwas Sinnvolles einzubringen, erschien ihm wichtiger als (angebliche) Sicherheit und (angeblicher) Komfort.
Wenn ich ihn so von der Seite betrachte, sieht man ihm die Anstrengung an, die Sorgen eines freien Unternehmers: Wie Investor:innen finden, die an einen glauben? Wie Mitarbeitende motivieren, nicht vorzeitig aufzugeben? Wie den Lebensunterhalt für sich und seine Familie sichern? Auf den ersten Blick wirkt er müde und gestresst, auf den zweiten Blick sieht man seine Begeisterung und Leidenschaft.
Aber warum hat Niall im Gegensatz zu vielen anderen Manager:innen den Absprung geschafft? Ist Niall verrückt? Ein Held? Einer unter Tausenden? Perfekt für ein Buchkapitel? Inzwischen bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass Nialls Entscheidung weder besonders wagemutig noch irre ist. Niall ist wie Millionen andere auch in der Arbeitswelt der Zukunft angekommen. In einer Zukunft, in der Menschen sich in Eigenregie immer neue Herausforderungen suchen, die ihren Vorstellungen und Neigungen entsprechen. Sie wollen die Welt um sich herum verändern. Ihrer Begeisterung folgen. Weil sicher längst nicht mehr sicher bedeutet. Auch nicht auf den obersten Rängen. Und genau das schafft Freiheit.
Von Produktion bis Strategie – über alle Level hinweg lösen sich Arbeitsstrukturen schneller auf, als wir das Wort »Jobsicherheit« buchstabieren können. Ich erinnere mich noch an ein Gespräch mit einem Personalchef vor ein paar Jahren, in dem er mir erzählte, dass er mit den frisch eingestellten High Potentials bereits an Tag eins eine zehnjährige Laufbahnentwicklung festlege. Heute kann er darüber nur noch seufzend mit den Achseln zucken. Aus und vorbei. Getrieben durch Digitalisierung, Klimawandel und neue Geschäftsmodelle sind Unternehmen gezwungen, ihre Strukturen, Teams und Positionen immer wieder neu auf-, um- und abzubauen. Und laut Sven Seidel, einem CEO, mit dem ich mich seit Jahren immer wieder austausche, »hat der Wandel im Unternehmenskontext heute nicht mehr einen Anfang und ein Ende, sondern ist konstant«.
Wenn du Sicherheit möchtest, mache etwas Verrücktes.
Und greife nach deinen Stärken.
Konstanter Wandel reduziert gelernte Sicherheiten. Stromlinienförmige Karrieren versanden. Zudem lassen Digitalisierung, agiles sowie zeit- und ortsunabhängiges Arbeiten etliche Insignien der Macht verpuffen. Statt Vorstandsbüro, Sekretär:in, Firmenparkplatz und Managementkantine begegnen wir uns in Videokonferenzen in gleich großen Kästchen. Wir Unternehmer:innen oder Manager:innen stehen vielleicht noch nicht wie der Kaiser nackt vor unseren Teams, haben aber schon etliche Kleider verloren. Doch wenn wir wie Niall unseren Kompass neu kalibrieren und die Nadel in Richtung »Werte und Sinn« zeigen lassen, gewinnen wir Freiheit und jede Menge Freude.
Niall hätte auch auf altbewährtem Kurs bleiben können – und wenn sich sein Unternehmen, warum auch immer, von ihm hätte trennen wollen, wäre er sicherlich weich gefallen. Doch er hat die Chancen in der Veränderung beim Schopf gepackt. Und sich wie viele andere Menschen die Frage gestellt, was ihn begeistert, wohin er sich weiterentwickeln will, was ihn antreibt. Niall hat realisiert, dass er trotz Geld, Einfluss und Status nicht mehr zufrieden ist, und suchte sich passend zu seinen Stärken den nächsten Wirkungskreis. Nach dem Motto: Ich gewähre mir einen breiten Spielraum des Ermessens, um meiner Selbstentfaltung auf die Spur zu kommen.
In der Neuen Welt können wir alle diesen Schritt gehen, wenn wir möchten. Auszusteigen und ein Start-up zu gründen, ist genauso realistisch, wie weiterhin als Manager:in die Geschicke eines Unternehmens zu leiten. Es kommt einzig und allein auf die Leidenschaft an. Die Frage: Für was schlägt mein Herz?
Vielleicht denkst du jetzt: Nialls Geschichte klingt ja ganz nett – aber schon auch nach den Möglichkeiten eines weißen Mannes mit finanziellen Rücklagen. Teil der Elite. Dazu fällt mir eine Frau ein. Nicht Alte Welt und auch voller Leidenschaft.