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II. Gutachterliche Falllösung

Literatur: Bydlinski, Franz/Bydlinski, Peter, Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 2. Auflage, Wien 2012, S. 17ff.; Hildebrand, Tina, Juristischer Gutachtenstil, 2. Auflage, Tübingen 2011, S. 95ff.; Klaner, Andreas, Wie schreibe ich juristische Hausarbeiten, 3. Auflage, Berlin 2003, S. 78ff.; Körber, Torsten, Zivilrechtliche Fallbearbeitung in Klausur und Praxis, JuS 2008, 289, 290ff.; Mann, Thomas, Einführung in die juristische Arbeitstechnik, 5. Auflage, München 2015, § 5; Putzke, Holm, Juristische Arbeiten erfolgreich schreiben, 5. Auflage, München 2014, |4|S. 6ff., 27ff.; Reimer, Franz, Juristische Methodenlehre, Baden-Baden 2016, S. 52ff.; Rollmann, Christian, Die juristische Hausarbeit, JuS 1988, 42, 43f.

Einstiegsfall (verkürzter Abschnitt aus der Musterhausarbeit im Anhang):

Hobbyimker V einigt sich im Oktober 2014 mit K über den Verkauf eines Bienenvolkes für € 150. Eines seiner Bienenvölker wird mit Sicherheit – voraussichtlich Ende Juni 2015 – eine neue Bienenkönigin hervorbringen. Die alte Bienenkönigin wird dann zusammen mit einem Großteil des alten Volkes aus einem der Bienenkörbe ausziehen. Sobald dies geschieht, soll der Schwarm gefangen und dem K übereignet werden.

Ende Mai 2015 kommt es zum verfrühten Ausbrechen des neuen Schwarms. Vom Nachbarn N informiert, eilt der V gerade noch rechtzeitig hinzu, um den Schwarm zu verfolgen. Auf einer Eiche wenige Kilometer weiter lässt sich die Königin mit dem Schwarm nieder. Für V vollkommen unerwartet kommt es dort zur Vereinigung mit einem weiteren, am selben Tag in der Nähe ausgezogenen Schwarm des Imkers (I), der diesen ebenfalls verfolgt hat. V und I gelingt es, das nun vereinigte große Volk in einen von V mitgebrachten Bienenkorb zu überführen.

K ist über die Vereinigung sehr verärgert. Er habe schließlich sein „eigenes“ Volk erwerben wollen. Da sich das neue Bienenvolk nicht mehr aufteilen lasse, müsse er sich die ganze Angelegenheit nochmals überlegen.

Wie ist die Rechtslage?

Ist die Arbeit als Falllösung konzipiert, so sind zunächst der Sachverhalt und die Fragestellung zu erfassen. Dies ist selbstverständlich. Dennoch ist die Ursache einer überwiegenden Anzahl von Fehlern bei der Bearbeitung das Fehl- oder Nichtverständnis des Sachverhalts oder der Aufgabenstellung. Zum Teil werden Fallfragen falsch verstanden oder sogar ganz oder teilweise übersehen.

1. Ausgangspunkt: Aufgabenstellung

Für die Erstellung einer gutachterlichen Falllösung kommt es zunächst auf die Aufgabenstellung – d.h. die konkrete Fallfrage – an. Die Fallfrage steht am Anfang und im Zentrum der Bearbeitung. Nur bei genauer Kenntnis und Beachtung der Fallfrage kann der Sachverhalt mit der richtigen Konzentration und Gewichtung verstanden und beurteilt werden.[3]

Eine zivilrechtliche Aufgabenstellung ist in der überwiegenden Zahl aller Fälle daran ausgerichtet, Ansprüche der Beteiligten zu prüfen. Dies kann bereits konkret für ein bestimmtes Verhältnis und einen bestimmten Anspruch formuliert sein:

 Kann V von K den Kaufpreis in Höhe von € 3.000 verlangen?

 Hat B gegen U einen Anspruch auf Nacherfüllung?

|5|In diesen Fällen ist nur das konkrete Verhältnis (hier: V – K, B – U) und der bestimmte Anspruch (hier: Kaufpreis, Nacherfüllung) zu prüfen. Ausführungen zu Beziehungen zu oder zwischen anderen im Sachverhalt auftauchenden Personen wären nicht nur verfehlt und führten zu Punktabzügen. Sie raubten auch wertvollen Platz für die relevanten Ausführungen.

Die Fragestellung kann aber auch weiter gefasst sein:

 Kann A von B die Zahlung von 5.000 € verlangen?

 Hat C gegen D einen Anspruch auf Schadensersatz?

 Wer ist Eigentümer des PKW?

In diesen Fällen ist die Bandbreite der zu prüfenden Ansprüche und Anspruchsgrundlagen weiter. Es muss dann dem Sachverhalt entnommen werden, woraus sich etwa der Zahlungsanspruch ergeben kann. Dies könnte ein vertraglicher Anspruch, etwa auf Kaufpreiszahlung, ein Anspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung oder ein Schadensersatzanspruch, sei es aus Vertrag (§§ 280ff. BGB) oder aus Delikt (§§ 823ff. BGB), sein, wobei mehrere dieser Grundlagen zu prüfen sein können.

Schließlich kann die Aufgabenstellung auch ganz allgemein – wie in der anhängenden Musterhausarbeit – gehalten sein:

 Wie ist die Rechtslage?

In diesem Fall sind sämtliche vernünftigerweise in Frage kommenden Ansprüche zwischen den beteiligten Personen zu prüfen.[4]

2. Grundlage der Falllösung: Sachverhalt

Vor dem Hintergrund der konkreten Aufgaben- oder Fragestellung ist der Sachverhalt zu erfassen. Die Feststellung des Sachverhalts ist, wie es Franz Bydlinski treffend erklärt hat, der erste Schritt zu einer rationalen Rechtsgewinnung.[5] Entscheidend ist das genaue Verständnis aller Tatsachen. Es gilt der Grundsatz, dass jeder Satz des Sachverhalts eine Bedeutung für die Falllösung haben kann – und in der Regel auch hat. Oftmals verbergen sich Hinweise z.B. in wörtlichen Äußerungen der Beteiligten. Aber auch Zeit- oder Ortsangaben können von Bedeutung sein. Die Bedeutung derartiger Hinweise erschließt sich zuweilen erst nach einer gründlichen und zeitlich ausgedehnten Befassung mit dem Sachverhalt. Es ist daher sinnvoll und ratsam, den Sachverhalt auch während der Bearbeitungszeit immer wieder zu lesen.[6] Ob es erforderlich ist – wie es vereinzelt empfohlen wird – den Sachverhalt abzutippen, mag dahinstehen.[7] Entscheidend ist allerdings, dass der Sachverhalt gründlich und vollständig gelesen und verstanden wird. Dabei darf der Sachverhalt nicht „überinterpretiert“ werden, d.h. die geschilderten Tatsachen sind so hinzunehmen, wie sie |6|vom Aufgabensteller formuliert wurden.[8] Keineswegs dürfen Probleme ergänzt oder Fragen beantwortet werden, die der Sachverhalt überhaupt nicht aufwirft.

Nur auf der Grundlage einer gründlichen Sachverhaltserfassung kann Wichtiges von Unwichtigem unterschieden und können die einzelnen Bestandteile des relevanten Sachverhalts in ihrer Bedeutung für die rechtliche Lösung eingeordnet werden. Aus diesem Grund ist es, insbesondere bei komplexen Sachverhalten, auch ratsam, eine Skizze anzufertigen, gegebenenfalls kombiniert mit einer sogenannten Zeitleiste für einen Überblick über den chronologischen Ablauf der Ereignisse im Sachverhalt. Die Reihenfolge der Handlungen und Ereignisse kann von entscheidender Bedeutung sein. Es handelt sich dabei auch keinesfalls um eine Fleißarbeit oder Geduldsübung. Die Umsetzung der Sachverhaltsinformationen in eine logisch-grafische Struktur zwingt den Bearbeiter der Falllösung zum einen dazu, den Sachverhalt tatsächlich umfänglich zu erfassen. Zum anderen ermöglicht die notwendige und meist unvermeidliche Reduktion der Informationen eine Konzentration auf das Wesentliche.

Die nachfolgenden Beispiele einer Beziehungsskizze und Zeitleiste beziehen sich auf den Sachverhalt der Musterhausarbeit am Ende des Lehrbuches.


Abb. 1: Einfache Beziehungsskizze zur Musterhausarbeit


|7|Abb. 2: Detaillierte Beziehungsskizze zur Musterhausarbeit

Oktober 2014: Kaufvertrag zwischen V und K über neues, voraussichtlich Ende Juni 2015 ausziehendes Bienenvolk zum Preis von € 150 (tatsächlicher Wert € 180).
Ende Mai 2015: Verfrühtes Ausbrechen des neuen Volkes und Vereinigung mit einem Schwarm des I.
Kurz darauf: V berichtet K über die Vereinigung; T bietet das Teilvolk auf „The Digital Beemaster“ über den Account des K zur Versteigerung an, Anfangspreis € 60.
Darauffolgender Abend: Anderes Mitglied bietet dem K für das Teilvolk € 210, K nimmt sofort an und fordert noch in derselben Nacht per E-Mail von V die Übereignung des Teilvolkes
Nächster Morgen: K erfährt von T über Angebot des D über € 96 für Teilvolk und „zieht das Angebot zurück“
Einige Tage später: D verlangt von K Übereignung des Volkes, anderenfalls Schadensersatz i.H.v. € 108 (entgangener Gewinn)

Abb. 3: Zeittafel zur Musterhausarbeit

|8|Hat man die Aufgabenstellung und den Sachverhalt in dieser Form erfasst und strukturiert, kommt es im Anschluss darauf an, die relevanten Rechtsprobleme zu erkennen und zu formulieren.[9]

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