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Regietheater und frühes postdramatisches Theater

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Es war vor allem das progressive Theater der 1970er- und 80er-Jahre, das in Europa ein paradigmatisches Bild geprägt hat, das vielen bis heute als geradezu synonym für politische Kunst überhaupt gilt. Tatsächlich waren die Bühnen damals (wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise in West und Ost) ein durchaus relevanter Faktor vieler gesellschaftlicher Debatten. In einer Zeit, in der die gegensätzlichen Ideologien noch wirkmächtig und die Trennung zwischen den Blöcken klar markiert war, engagierte sich das Theater in einer Vielzahl politischer Anliegen, indem es das Elend der Welt repräsentierte – vom Vietnamkrieg über Apartheid in Südafrika bis hin zu den alltäglichen Widrigkeiten einer lokalen Arbeiterfamilie. Während im Osten die subversive Kraft oft in versteckten oder kodierten Botschaften lag, waren im Westen offene Provokationen ein wichtiger Teil des Repertoires: türenschlagende ZuschauerInnen, die unter Protest den Saal verließen, gehörten zum Alltag. Ob mit neuen Stücken oder konsequent modernisierten Klassikern: radikale Interpretationen der aufzuführenden Texte waren wesentliches Merkmal eines Regietheaters, das allerdings im Großen und Ganzen trotz seiner vielen neuen Ansätze meist einem – wie sehr auch immer abstrahierten – mimetischen Spiel verhaftet blieb. Auch wenn es dem politischen Theater dieser Zeit oft gelang, jenseits direkter Betroffenheit ein Bewusstsein für die systemischen Gründe hinter den dargestellten Missständen zu erzeugen, konnte es doch meist dem Dilemma nicht entkommen, dass seine Repräsentationen lediglich symbolische Wiederholungen genau jener Übel waren, die es eigentlich bekämpfen wollte. Brecht nannte dieses Phänomen schon in den frühen 1930er-Jahren »Menschenfresserdramatik«: »Der physischen Ausbeutung des Armen folgte die psychische. Doppelte Ministergehälter wurden den Mimen ausgeworfen, welche die Qualen der Ausgebeuteten möglichst naturgetreu imitieren konnten […].«18 Die bemitleidete Figur erzeugt Gefühle der Trauer, Betroffenheit, Schuld oder gar Wut bei den ZuschauerInnen, die aller Wahrscheinlichkeit nach – zumindest strukturell – daran beteiligt sind, genau dieses System der Ausbeutung am Leben zu erhalten.

Letztlich setzt das Theater damit bis heute oft nur fort, was Brecht in seinem Kleinen Organon für das Theater analysiert hat: »Das Theater, wie wir es vorfinden, zeigt die Struktur der Gesellschaft (abgebildet auf der Bühne) nicht als beeinflußbar durch die Gesellschaft (im Zuschauerraum).«19 Nicht nur das Stück auf der Bühne, sondern das gesamte theatrale Setup (ganz zu schweigen von den Hierarchien in der Institution selbst) reproduziert lediglich das System, das es kritisieren will. In den Worten des Theatermachers René Pollesch:

[Schauspielerinnen müssen] den Sexismus, der in der Gesellschaft herrscht, auf der Bühne reproduzieren […], legitimiert durch den Dramenkanon, der keine Frauenfiguren kennt, wo bei den Räubern die Amalie kurz mal reinschneit und in heutigen Inszenierungen immer noch ein kleines, dünnes Kleidchen verpasst kriegt, um für ein bisschen Erotik zu sorgen, und dann wieder rausgeht, und nichts zu sagen hat …20

In Opposition zu einer solchen Repräsentationspraxis entstand vor allem seit den 1990er-Jahren ein Theater, das vorherrschende Modelle nicht nur reformieren, sondern – außerhalb etablierter Theaterstrukturen – grundlegend revolutionieren wollte. Postdramatisches Theater, devised theatre, live arts, Performancetheater, freies Theater – es gibt viele Labels für dieses Genre, das wegen der Mannigfaltigkeit seiner Formen und Überlappungen mit anderen künstlerischen Disziplinen meist nicht leicht zu definieren ist. Mehr noch als die Skepsis gegenüber der dominanten Rolle des Textes, dem Inszenierungen im dramatischen Theater fast immer nachgeordnet sind, stand die Kritik am Gebrauch mimetischer Repräsentation im Mittelpunkt dieser neuen Ästhetiken und Arbeitsweisen. Autorenregisseure wie John Jesurun oder René Pollesch und Kollektive wie Gob Squad oder She She Pop lehnten es als vermessen ab, über andere zu reden, über deren Probleme, Schuld und Leid. Stattdessen wandten sie den Blick auf sich selbst, ihre popkulturelle Umwelt und auf das Theater als Medium. Es galt, wie es im damals viel zitierten Roman Generation X von Douglas Coupland heißt: »Entweder entstehen aus unserem Leben Geschichten, oder es gibt einfach keinen Weg hindurch.«21

Das Theater als Ort, als Verabredung, aber auch als Maschinerie wurde sichtbar gemacht, während auf der Bühne, offensiv subjektiv, die eigene kleine Umgebung einer globalisierten, urbanen, kreativen, semi-prekären Mittelschicht verhandelt wurde, die damals noch im Entstehen war und sich selbst erst definieren musste. Der sehr politische Impuls, die Reflexion bei sich selbst beginnen zu lassen, birgt allerdings die Gefahr, das eigene Wohnzimmer mit der Welt zu verwechseln, wie es die britisch-deutsche Gruppe Gob Squad Jahre später selbstkritisch mit der Arbeit Western Society (2013) auf den Punkt bringt. Zwar wird auch hier, wie gewohnt, das Leben der eigenen bubble auf die Bühne gebracht – doch der Titel gibt den Rahmen vor, durch den ein ironisch-nostalgischer Blick auf eine weiße, westliche Gesellschaft geworfen wird, die es so schon längst nicht mehr gibt, vielleicht nie gab. Wie durch ein verkehrtherum gehaltenes Teleskop erscheint das Nahe plötzlich ganz weit entfernt.

Einen anderen Weg im Umgang mit der Repräsentationsfalle des dramatischen Theaters wählte eine Reihe von TheatermacherInnen seit den 2000er-Jahren, indem sie sich verstärkt dokumentarischen Formaten zuwandten und die Bühne für die Selbstdarstellung von »echten Menschen« öffneten. Regiekollektive wie Rimini Protokoll, die in Manchester ansässige Kompanie Quarantine oder die argentinische Autorin und Regisseurin Lola Arias haben in ihrer Arbeit mit »ExpertInnen des Alltags« (Rimini Protokoll) sehr spezifische und zugleich unterschiedliche Dramaturgien der Fürsorge entwickelt, denen es nicht selten gelingt, sowohl den Bedürfnissen der DarstellerInnen als auch den künstlerischen Ansprüchen der Aufführung gerecht zu werden. Wesentlich für den weltweiten Erfolg eines solchen »dokumentarischen Theaters« ist, dass es sich weder auf das letztlich überschaubare Reservoire verfügbarer oder neu geschriebener Dramenfiguren noch auf die PerformerInnen des Gleichaltrigentheaters der meisten anderen freien TheatermacherInnen beschränken muss. Dass es Leute vorstellt, die man selten so sieht oder nie. Dass es sie – anders als Reality TV und Talkshows – nicht in realen oder künstlichen Ausnahmezuständen präsentiert, sondern unaufgeregt und selbstbewusst. Und dass es kein Geheimnis daraus macht, dass diese Authentizität der Menschen auf der Bühne auch nur eine Rolle ist, wenn auch die Rolle ihres Lebens.

Solche Spiele der (Selbst-)Repräsentation werden vom Theater HORA weiter zugespitzt. Das Schweizer Ensemble ist – neben beispielsweise den Berliner Theatern Thikwa und RambaZamba, dem australischen Back to Back Theatre, den französischen Ensembles Création Ephémère und Oiseau-Mouche, dem belgischen Theater Stap, dem polnischen Teatr 21 und der niederländischen Gruppe Maatwerk – eine der bekanntesten und ältesten Kompanien mit kognitiv beeinträchtigten, meist vom Down-Syndrom betroffenen SchauspielerInnen. Dem üblichen Bild der Gesellschaft setzt sie eines entgegen, in dem jene sich Raum nehmen, die für »nicht normal« gehalten werden – die in der Regel unsichtbar sind, die als unproduktiv, unkultiviert, vielleicht sogar unheimlich gelten. Die Kraft dieses Gegenbildes liegt gerade darin, dass es fragil und fragmentiert bleibt. Zu große Eindeutigkeit wird permanent von den PerformerInnen mit ihren starken, oft unberechenbaren Persönlichkeiten konterkariert.

Als Gastregisseur machte der französische Choreograf Jérôme Bel in Disabled Theater (2012) die eigene heikle Position deutlich, indem er seine strikten Regieanweisungen während der Performance unmissverständlich auf der Bühne verkünden ließ und so die implizite Hierarchie der Produktion betonte. Zugleich aber erfüllten die PerformerInnen diese Aufgaben wie auch immer sie selbst es wollten (also zuweilen gar nicht). Wie sehr die dominierenden Spielregeln des Theaters fortwährend missachtet wurden, irritierte und beeindruckte Bel, dessen Ruf doch selbst auf Regelverletzung beruht:

Als ich anfing, mit ihnen zu arbeiten, bekam ich beinah einen Kollaps. Und dann verstand ich plötzlich, dass da noch viele dieser Theaterregeln in mir arbeiteten, die ich selbst nicht in Frage stellte. Lärm hinter der Bühne zum Beispiel. Anfangs bin ich dann auf der Bühne herumgesprungen und hab rumgeschrien. Aber dann hab ich verstanden, dass dieser kleine Vorfall nur meine eigenen Regeln entlarvt hat. Ich habe noch immer viel zu tun.22

Kontrollsucht trifft auf Subversion, konzeptuelle Kunst auf camp. Christoph Schlingensief erklärte im Kontext seiner Freakstars 3000 (2002), einer Fernseh-Talentshow mit geistig und körperlich behinderten TeilnehmerInnen, von denen viele, wie Werner Brecht, Mario Garzaner, Helga Stöwhase oder Achim von Paczensky, bereits vorher in seinen Filmen oder Theaterarbeiten zu sehen waren: »Der Freak ist die Situation selbst, die uns zur Unterscheidung zwingt, was normal ist und was nicht.«23

Sichtlich inspiriert von poststrukturalistischen Theorien rebellieren all solche Ansätze auf sehr unterschiedliche Weise gegen die Hegemonie des Textes mit einer neuen Komplexität der Theaterzeichen: Wo der Text nicht mehr zwangsläufig das erste und das letzte Wort hat, kann alles in den Vordergrund rücken: Bewegung, Raum, Ton, Licht, die Präsenz der PerformerInnen, das Publikum …

Statt eine Situation (künstlich) zu repräsentieren, also eine andere Wirklichkeit zu zeigen, um sie zu kritisieren, geht es darum, eine eigene (echte) Situation in der Kopräsenz des Publikums zu erzeugen, wie der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann in Postdramatisches Theater schreibt: »Im Unterschied zu allen Künsten des Objekts und der medialen Vermittlung findet hier [im Theater] sowohl der ästhetische Akt selbst (das Spiel), als auch der Akt der Rezeption (der Theaterbesuch) als reales Tun in einem Hier und Jetzt statt. […] Emission und Rezeption der Zeichen und Signale finden zugleich statt24

Der Fokus auf Medium und Form des Theaters selbst, das Misstrauen gegenüber geschlossenen Narrationen und psychologischer Kausalität sowie der Wunsch, individuelle Erfahrungen zu ermöglichen, in denen alle Zuschauenden ihre eigenen Wege der Interpretation finden müssen, hatte auch Auswirkungen auf das Konzept des Politischen im Theater. Dieses wurde nun vor allem im »Wie« seiner Repräsentation gesucht, nicht mehr im »Was« seiner konkreten politischen Inhalte. Philosophen wie Jacques Rancière boten eine breite theoretische Basis dafür, das Medium Theater durch die Analyse des »ästhetischen Regimes« und der Rolle des Betrachters als »emanzipiertem Zuschauer« neu zu denken.25

Auf den oft vereinfachenden oder moralisierenden Gebrauch von Begriffen wie Wahrheit, Realität oder auch Politik reagierten postdramatisches Theater und konzeptueller Tanz konsequent mit einem komplexen Spiel von Schichten, Ambiguitäten und Hinterfragungen. So eröffneten sie neue Perspektiven und künstlerische Möglichkeiten, die schließlich auch das Feld des dramatischen Theaters stark beeinflussten.

Es war ein wichtiger Impuls, ZuschauerInnen auf diese Weise mit ihren eigenen Erfahrungen als Ko-AutorInnen ernst zu nehmen, aber er hatte auch einen signifikanten Nebeneffekt: Das Publikum wurde weniger als ein mögliches Kollektiv denn als eine Zusammenkunft von Individuen gesehen. Postdramatisches Theater und konzeptueller Tanz – wieder einmal in Korrespondenz mit den gesellschaftlichen Veränderungen – schufen BetrachterInnen, die sich zwar von der aufgezwungenen Imagination der RegisseurInnen emanzipierten, aber auch dem idealen neoliberalen Subjekt ähnlicher wurden, das seine Individualität vor allem in aktivem Konsum sucht.

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