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REPRÄSENTATION

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Eine Familie sitzt an einem Tisch. Eine »mittelreiche« Familie, die es ein bisschen zu was gebracht hat. Die etwas zu verlieren hat – und nicht viel zu gewinnen. Es ist eine Geschichte von Krieg, Vergewaltigung, Einsamkeit, Furcht, aber auch ganz profan von Wohlstand und Abstiegsängsten, von dominanten und doch feigen Vätern, von Sprachlosigkeit und der Flucht vor Verantwortung. Eine Geschichte, die überall spielen könnte. Und zugleich eine, die tief im kollektiven nationalen Bewusstsein wurzelt; eine Nachkriegserzählung aus einer Zeit, als Verdrängen zur deutschen Tugend wurde. Hart, aber auch melancholisch entrückt – umrahmt von Brahms Deutschem Requiem; das Banale schmiegt sich ans Transzendentale: »Denn alles Fleisch ist wie Gras / und alle Herrlichkeit des Menschen / wie des Grases Blumen. / Das Gras ist verdorret / und die Blume abgefallen.« Doch das Bild in diesem kargen, großen und zugleich klaustrophoben Allzwecksaal scheint nicht zusammenzupassen: Die Familie am Tisch ist schwarz. Ein Anblick, den man in Deutschland aus amerikanischen Fernsehserien kennt, aber nicht aus bayrischen Familiensagas.

In einem Land, in dem schwarze Menschen im Theater fast nur als explizit Schwarze auftauchen (weshalb schwarze SchauspielerInnen nicht nur immer die gleichen Typen, sondern oft auch exakt die gleichen Rollen spielen müssen), hat die Regisseurin Anta Helena Recke eine, wie sie es doppeldeutig nennt, »Schwarzkopie« der bereits existierenden Inszenierung Mittelreich (2015) von Anna-Sophie Mahler (nach einem Roman von Josef Bierbichler) auf die große Bühne der Münchner Kammerspiele gestellt. Eins zu eins: gleiches Bühnenbild, gleicher Text, gleiche Darstellung, gleicher Ablauf – nur die SchauspielerInnen, der Chor, die MusikerInnen wurden ausgewechselt. Eine Nachahmung in der Tradition US-amerikanischer appropriation-KünstlerInnen wie Elaine Sturtevant oder Sherrie Levine, die seit den 1970er-Jahren ein raffiniertes, oft feministisches oder institutionskritisches Spiel mit der männlich dominierten Kunstwelt trieben, indem sie bekannte Bilder nachmalten, nachempfanden, nachstellten oder sich auf andere Weise aneigneten.

Aber diese Mittelreich-Kopie (2017) ist nicht nur eine ziemlich exakte Aneignung der Inszenierung einer anderen Regisseurin. Und sie weist durch die Aneignung weißer Figuren (und deren Verkörperung von weißen SchauspielerInnen) durch schwarze AkteurInnen auch nicht nur darauf hin, wie unter- bzw. gar nicht repräsentiert schwarze Körper und Geschichten auf deutschen Bühnen sind. Es geht zugleich um eine völlig andere – zwiespältige – Aneignung. Diese appropriation verbildlicht auch den (Alb)Traum völliger Assimilation: Eine schwarze Familie, die alle nichtweißen kulturellen Einflüsse verdrängt zu haben scheint, wenn etwa der Sohn damit hadert, dass er nicht weiß, »was der deutsche Wehrmachtssoldat in Russland und Frankreich tat, der mein Vater war« (Die Regisseurin selbst schreibt, dass sie unweigerlich an ihren senegalesischen Großvater denken muss, »der für die Franzosen nach dem Krieg in Berlin Bonbons an deutsche Kinder verteilt hat«6).

Neben der sehr klaren Forderung nach mehr Sichtbarkeit nichtweißer Menschen auf der Bühne und in der Gesellschaft ist es die hintergründige Ambivalenz dieser Arbeit, die das Publikum herausfordert. Denn die Inszenierung beschränkt sich ja nicht auf die Bühne. Wie jede gute appropriation art verweist sie permanent auf das, was drumherum ist. Auf die weißen ZuschauerInnen beispielsweise, die sich in einer Situation befinden, in der es kein eindeutiges Richtig gibt. Fortwährend muss die eigene Interpretation interpretiert werden: Ist weltläufige Aufgeschlossenheit nicht eher paternalistisches Wohlwollen? Bewerten wir familiäre Machtstrukturen anders, je nachdem, ob wir einer weißen oder einer schwarzen Familie zuschauen? Woran denken wir, wenn von Flüchtlingen (aus den Ostgebieten) die Rede ist – und diese ähnlich wenig willkommen sind wie die Geflüchteten fast siebzig Jahre später? (»Das sind einfach ganz andere Menschen, diese Flüchtlinge. Die passen einfach nicht in unsere Gegend.«7) Und warum denken wir überhaupt daran, wo doch die SchauspielerInnen auf der Bühne, wie auch die Regisseurin, allesamt in Deutschland geboren wurden? Und wenn wir umgekehrt glauben, tatsächlich »farbenblind« zu sein (oder es im Sog der Aufführung zu werden) – ignorieren wir damit nicht einfach selbstberuhigend eine Differenz, die wir sonst, zumindest strukturell, selbst aufrechterhalten? Der oft tastende, teils unbeholfene – nicht selten »superhöfliche«8 (Recke) – Ton der Publikumsgespräche erzählt viel darüber, wie schwer das gesellschaftliche Reden über Diskriminierung noch immer fällt, sobald es direkt oder gar öffentlich geführt wird.

Aber auch wenn das Dilemma der weißen ZuschauerInnen ein wesentlicher Teil der Inszenierung ist: Der Abend richtet sich mindestens genauso an die nichtweißen ZuschauerInnen im ungewöhnlich gemischten Publikum, denn er bietet Identifikationsmöglichkeiten, die sonst fast immer fehlen.

Mittelreich ist zudem eines der überraschend wenigen Beispiele für institutional critique im Theater. (Auch das ein Genre der bildenden Kunst, bei dem das Kritisieren einer Kunstinstitution zur eigentlichen künstlerischen Praxis wird – meist im Auftrag eben jener kritisierten Institution.) Denn nicht nur die Tatsache, dass die Besetzung komplett auf Gäste angewiesen war, weil das Ensemble über keine schwarzen Mitglieder verfügt, hinterfragt das eigene Haus. Mittelreich ist vor allem auch eine deutliche Kritik an einem Repertoire, das, wie Recke sagt, fast immer ein weißes Publikum imaginiert – und dieses Publikum zugleich für universal hält.9 Es gibt nicht viele Häuser, die das öffentliche Untersuchen des eigenen Tuns zum Teil ihres Spielplans machen.

In den Blick geraten aber auch die gesamte deutschsprachige Theaterszene, die Auswahlkriterien für Schauspielschulen, Ensembles und Repertoire, und nicht zuletzt das Feld der professionellen Kritik mit seinen Qualitätsmaßstäben. Während die meisten Besprechungen von Mittelreich versuchten, den Ansatz des Stückes zu würdigen (und die Arbeit von einer Kritikerjury zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde), gab es doch auch absurde Entgleisungen. Die Rezensentin der Süddeutschen Zeitung brachte unter der Überschrift »Schwarz allein reicht nicht« ihre Enttäuschung darüber zum Ausdruck, dass die schwarze Besetzung nicht die erhoffte »belebende Blutzufuhr« für die spröde Originalbesetzung brachte (und erklärte kokett gleich selbst – das wird man doch wohl noch sagen dürfen –, dass dies natürlich »politisch unkorrekt [sei], da von, wenn auch positiven, Vorurteilen gesteuert«.) Aber vielleicht waren die Darsteller dafür einfach nicht schwarz genug – denn »so schwarz sind sie dann ja auch wieder nicht, diese neuen sechs Körper und Gesichter.« Die eigentliche Diskriminierung läge denn auch nicht im Theatersystem, sondern in diesem »auf ganzer Linie schlechten Laientheater«.10

Anta Helena Reckes Mittelreich-Kopie zeigt, wie sehr alle am Theater Beteiligten – ob SchauspielerInnen, PerformerInnen, ZuschauerInnen oder KritikerInnen – immer auch als RepräsentantInnen einer größeren Gemeinschaft wahrgenommen werden, unterschieden durch Hautfarbe, Gender, Körperlichkeit, soziale Schicht, Berufsstand … So spiegeln sich die Fragen, die gegenwärtig alle Demokratien verfolgen – Wer wird auf welche Weise, von wem und mit welchem Recht repräsentiert? – im Theater wider: Kann eine bürgerliche Schauspielerin eine Geflüchtete repräsentieren? Kann der Westen den globalen Süden repräsentieren? Kann ein Mann eine Frau repräsentieren? Ist die Repräsentation von Stereotypen und Klischees (von Ethnien, Geschlechtern, Sexualität etc.) entlarvend oder einfach nur die Wiederholung entwürdigender Beleidigungen?

Die Probleme, die durch jüngere Diskussionen rund um black face (das Schwarzschminken weißer SchauspielerInnen), das Verwenden als diffamierend empfundener Bezeichnungen und Ähnliches manifest wurden, stellen weit mehr in Frage als nur das Recht und die Befähigung weißer SchauspielerInnen, Charaktere of colour darzustellen. Es sind politisch und künstlerisch komplexe Herausforderungen, die – wie der gesamte postkoloniale Themenbereich – im deutschen Theater spät angekommen sind. Postmigrantische Ansätze, die hervorheben, wie sehr unsere Gesellschaft durch Migration bereits verändert ist, prägen beispielsweise das Programm des Berliner Gorki-Theaters unter der Leitung von Shermin Langhoff und Jens Hillje mit seinem kulturell und ethnisch sehr diversen Ensemble. Das setzt auch andere Stadttheater unter Druck, während Häuser wie das Berliner Ballhaus Naunynstraße oder junge KünstlerInnen of colour wie Simone Dede Ayivi oder Anta Helena Recke eine Sichtbarkeit schwarzer Körper und Biografien auf der Bühne einfordern.11

Dass ein weißer Körper als neutral angesehen wird, während ein schwarzer immer bereits eine besondere Bedeutung hat, steht auch im Zentrum der Arbeit Black Bismarck (2015) des Theaterkollektivs andcompany&Co., die sich auf Überlegungen der critical whiteness studies bezieht, die »Weißsein« als soziale Machtkonstruktion beschreiben:

Ein Gespenst geht um in Europa. […] Das Gespenst des Kolonialismus. Die Europäer nennen ihn nur den Geist. Den Geist lockt das Weiß, das Weiß des unbeschriebenen Papiers, die weißen Flecken auf der Karte. Am Anfang war nicht das Wort, am Anfang war die leere Seite. Das Wunder der Schöpfung aus Nichts wiederholt sich jedes Mal aufs Neue, wenn Zeichen die weiße Leere füllen, mit Schwärze, Druckerschwärze. Schwarz wie das Pulver, das man in die Gewehre lädt oder schwarz wie die Nacht, wie man so sagt. Doch nachts sind alle Katzen grau, man bleibt anonym, aber man vergibt Namen – und dieses man ist weiß. Das ist die Lektion der critical whiteness für überprivilegierte Unterpigmentierte: Man ist nicht normal, man ist nicht neutral, man ist weiß. Man ist ein Geist.12

Ikonoklastisch, wortspielüberbordend und – wie immer in den Arbeiten von andco. – mit Pop-Zitaten gespickt sucht Black Bismarck zum 200. Geburtstag des »eisernen Kanzlers« nach afrikanischen Spuren in Berlin und erteilt der verbreiteten Auffassung, die deutsche Kolonialzeit sei – trotz Völkermords an den Herero – im Schatten späterer, noch schlimmerer deutscher Verbrechen doch vergleichsweise kurz und harmlos gewesen, eine klare Absage. Vor allem aber ist der Abend ein Versuch, sich als »überprivilegierte Unterpigmentierte« nicht anzumaßen, für andere zu sprechen oder sie zu repräsentieren.

Die Strategie der appropriation, die Recke mit Mittelreich verhandelt, hat noch einen weiteren komplexen Aspekt: Als Miley Cyrus, Popsängerin mit sicherem Instinkt für skandalprovozierende Selbstvermarktung, vor einigen Jahren bei den Video Music Awards eine twerking-Choreografie aufführte, wurde das heftig und polemisch diskutiert: Stahl da eine weiße Frau ein Stück afroamerikanischer kultureller Identität für den eigenen nächsten Hit? War ihre Aneignung des rhythmischen, sexuell expliziten Hinternschüttelns eine Hommage oder eine Karikatur? Auch das ist eine Frage der Machtverhältnisse: Die Aneignung von »unten« nach »oben« ist Selbstermächtigung, Integration, Assimilation, Identitätserweiterung oder Identitätsverlust. Die Aneignung in die umgekehrte Richtung – Raub? Verstehen-Wollen? Anerkennung?

Die Theatermacher Julian Warner und Oliver Zahn verfolgen in ihrer Performance Situation mit Doppelgänger (2015) die Aneignung und Vermarktung schwarzer und anderer minoritärer Tanzformen im Pop zurück bis in die Zeit der Minstrel Shows des 19. Jahrhunderts, in denen geschminkte Weiße stereotypische Schwarze darstellten – mal romantisierend, mal gehässig. Später wurden auch schwarze TänzerInnen und MusikerInnen selbst für solche Shows engagiert, ein Klischee im Feedbackloop.

Die Fragen, die solche kulturellen Aneignungen aufwerfen, sind seither die gleichen geblieben: Wem gehören solche Tänze, wer darf sie tanzen? Wann ist Imitation ein subversives Mittel, wann verstärkt sie existierende Machtstrukturen? In Situation mit Doppelgänger interpretieren Warner und Zahn – der eine schwarz, der andere weiß, aber beide keine ausgebildeten Tänzer – synchron sehr unterschiedlich konnotierte Minstrel-, Pop- und Volkstänze, in denen nicht nur Weiße Schwarze, sondern in einer Art Selbstermächtigung umgekehrt auch schwarze Tänzer die weißen Kolonialherren imitieren. Auf dünnem Eis untersuchen die beiden – analytisch und spielerisch zugleich – Modelle von Authentizität, Identität und Deutungshoheit.

Dass solche Konstruktionen permanent neu ausgehandelt werden müssen, prägt unübersehbar die Performances der deutschivorischen Gruppe Gintersdorfer/Klaßen – nicht nur thematisch und ästhetisch, sondern vor allem auch in der kollaborativen Form ihres Entstehens. Wenn »die Tänzer singen, die Comedians tanzen, die Sänger texten«, dann ist das für Gintersdorfer/Klaßen ein bewusstes

Spekulieren in fremden Kompetenzen […], mit dem wir der Repräsentationslast entgehen und eine direkte Kommunikation ermöglichen. Diese Kommunikation findet auf allen Ebenen statt und beinhaltet auch das Publikum als Mitdenker und eventuell Sprecher. In diesem System gibt es keine Störung durch Unvorhergesehenes, es ist eine diskursive Dramaturgie und keine der geregelten, getimten Abläufe. Nicht getimt bedeutet nicht schlecht getimt oder langsam, sondern getimt im Verhältnis zum Moment.13

Der Titel ihrer Performance Das neue schwarze Denken – Chefferie (2013) verweist auf ein politisch-administratives Modell der Versammlung vieler gleichberechtigter Chefs aus vorkolonialen Zeiten, das in Subsahara-Afrika bis heute parallel zu offiziellen staatlichen Strukturen praktiziert wird. Damit ist »Chefferie« auch eine Metapher für die eigene Zusammenarbeit der deutschen Regisseurin Monika Gintersdorfer mit meinungsstarken PerformerInnen von der Elfenbeinküste, aus Deutschland und in diesem Fall auch aus Ruanda und Kongo. Obwohl Gintersdorfer nie selbst im Rampenlicht der Aufführung steht, bleiben Widersprüche und diskursive oder persönliche Differenzen aus dem Probenprozess für die Zuschauenden sichtbar.

Mit Witz und Lässigkeit werden kontroverse Deutungen und Repräsentationen eines afrikanischen Selbstverständnisses gegeneinander ausgespielt und jeder westliche Versuch, das Bild des Kontinents zu homogenisieren, lustvoll unterlaufen. Dabei gehen die PerformerInnen verbal und physisch keiner Konfrontation aus dem Weg und scheuen auch vor politisch heiklen Stereotypisierungen nationaler Identitäten nicht zurück – das Unbehagen der weitgehend weißen ZuschauerInnen kommt ihnen gerade recht.

In Chefferie und vielen anderen Arbeiten von Gintersdorfer/Klaßen repräsentiert der Schauspieler Hauke Heumann auf der Bühne die Westler im Publikum, überträgt aber zugleich den Text der anderen PerformerInnen rasant zwischen Französisch, Deutsch und Englisch hin und her und erlaubt sich dabei durchaus eigene Wertungen – ein vergeblicher, doch immer hoffnungsfroher und sehr komischer Kampf mit einer Rolle zwischen Selbstverleugnung und Selbstbehauptung.

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