Читать книгу Gesellschaftsspiele - Florian Malzacher - Страница 8

PROLOG

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Die einen schreien sich mit roten Gesichtern an, andere versuchen in eindringlichem Ton, die zahlreichen Zaungäste zu überzeugen: Ihr Land ist von Fremden überrannt, ihre Kultur in Gefahr, ihre Familien, ihre Identität. Ein alter Mann schwenkt mit feuchten Augen eine Zeitung, die seine Befürchtungen in Großbuchstaben zur Schlagzeile macht. Eine Handvoll koreanischer TouristInnen beobachtet ratlos das seltsame Spektakel: Das »kleine Österreich« gegen den Rest der Welt.

Zwanzig Jahre sind vergangen, seit Christoph Schlingensief seine längst legendäre Containerinszenierung Bitte liebt Österreich! (2000) mitten im Zentrum von Wien, direkt neben der Oper, landen ließ. Gerade erst hatte der konservative Kanzler Wolfgang Schüssel seinen Teufelspakt mit dem rechten Demagogen Jörg Haider und dessen FPÖ geschlossen. Die anderen EU-Länder diskutierten Sanktionen gegen den Mitgliedsstaat Österreich, und Österreich diskutierte über die Grenzen des Landes, die Grenzen der Demokratie und die Grenzen der Kunst. Die Welt schaute zu.

Vor diesem Hintergrund und unter dem leuchtenden Banner »Ausländer raus!« inszenierte Schlingensief eine reality show mit realen Asylsuchenden. Sechs Tage lang beherbergten die Container eine Gruppe ImmigrantInnen, die mittels Überwachungskameras im Internet rund um die Uhr beim Leben beobachtet werden konnten, während die österreichische Bevölkerung eingeladen war, einen nach der anderen aus dem Land zu wählen.

Der Skandal war enorm: Konservative fühlten sich durch die Parodie ihrer eigenen Argumente diffamiert; Linke waren verärgert über die aus ihrer Sicht zynische Zurschaustellung menschlichen Leids und das Ignorieren jahrelanger aktivistischer Arbeit vor Ort, die durch das Spektakel erschwert werde. Es war das Jahr der ersten deutschsprachigen Big-Brother-Staffel, die einige aufgeregte FeuilletonistInnen für nichts weniger als den Anfang vom Ende des humanistischen Zeitalters hielten.

Lang ist’s her. Das einst umstrittene TV-Format läuft – mit kurzen Unterbrechungen – zwar noch immer, wirkt aber neben den vielen anderen, mindestens ebenso zynischen reality shows längst eher altbacken. In Österreich ist die FPÖ, allen Skandalen zum Trotz, noch immer omnipräsent und stellte zwischenzeitlich neben Innen-, Außen- und VerteidigungsministerIn sogar den Vizekanzler. Damit ist sie nicht allein: Rechtsaußenparteien gehören nun fast überall in Europa zum parlamentarischen Alltag, nicht nur in Ungarn und Polen werden Rechtsstaaten in »illiberale Demokratien« umgewandelt. Dass Bitte liebt Österreich! damals bei aller harten Konfrontation und leidenschaftlicher Streitlust durchaus spielerisch blieb und es Schlingensief gelang, auf dem schmalen Grat zu balancieren, auf dem fast keiner ihn für seine Ziele vereinnahmen konnte: Es würde heute wohl nicht mehr funktionieren. Die politischen und sozialen, aber auch die künstlerischen Auseinandersetzungen haben sich verhärtet und verkantet, die Welt ist so unübersichtlich geworden, dass es für Ambivalenz keine Kunst mehr zu brauchen scheint. Vermeintlich eindeutige Konfliktlinien rund um Nationalismus, Rassismus, Klimakatastrophen, soziale Spannungen etc. sind zu tiefen, offenbar unüberwindbaren Gräben aufgebrochen.

Noch immer leiden wir unter den Spätfolgen von »TINA« (»There is no alternative«), jener vielzitierten Doktrin, mit der die damalige britische Premierministerin Margaret Thatcher bereits Anfang der 1980er-Jahre ihren verheerenden sozialen Kahlschlag legitimierte – eine frühe Sternstunde jenes Neoliberalismus, der bis heute, trotz veränderter Rhetorik, wenig von seiner Wirkmacht eingebüßt und sich längst tief in wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Strukturen eingeschrieben hat.

1989 fiel die Mauer: Der Zusammenbruch des sozialistischen Systems im Osten und die Aufgabe des fürsorglichen Staates im Westen fanden zeitgleich statt. Ende der 1990er-Jahre brachten der britische Premier Tony Blair und der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder mit ihrem »Dritten Weg« die Sozialdemokratie auf den marktwirtschaftlicheren Kurs jener »neuen Mitte«, in die wenig später aus entgegengesetzter Richtung auch Angela Merkel steuerte. Das Adjektiv »alternativlos« wurde zu einem Markenzeichen, das im Zusammenspiel mit der Wahlkampfstrategie einer »asymmetrischen Demobilisierung«, bei der jede kontroverse Position vermieden wird, nicht nur der Opposition erfolgreich den Wind aus den Segeln nahm – als Kollateralschaden blieb auch ein Gutteil des offenen politischen Wettstreits auf der Strecke. Bereits 1992 lieferte der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama eine Art geschichtsphilosophischer TINA-Legitimation mit seinem Buch vom Ende der Geschichte2: Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und damit der kommunistischen Ideologie sah er liberale Marktwirtschaft und parlamentarische Demokratie als unaufhaltbare Sieger. No need to argue anymore.

Die Geschichte war dann bekanntlich doch nicht zu Ende und die Nebenwirkungen von TINA & Co sind bis heute spürbar. Sie haben – flankiert vom ebenfalls als alternativlos verkauften, vieles überschattenden »War on Terror«, der seit dem 11. September 2001 währt – das Feld für einen gesellschaftlichen Zustand bereitet, in dem die Abwesenheit von Alternativen als gesunder Menschenverstand gilt und politische Vorstellungskraft durch positivistischen Pragmatismus, larmoyante Resignation oder freudige Komplizenschaft ersetzt wird. »Postpolitik« nennen TheoretikerInnen wie Chantal Mouffe oder Slavoj Žižek dieses Phänomen, wenn sich Gesellschaften im Konsensus einrichten und politische Werte durch moralische ersetzen.

Dass sich in den letzten Jahren parallel dazu politische und gesellschaftliche Positionen zunehmend radikalisieren und gegensätzliche Meinungen immer unversöhnlicher formuliert werden, ist, wie der damit einhergehende Siegeszug rechter bis rechtsradikaler Parteien, nur ein scheinbarer Widerspruch zur postpolitischen Konsensgesellschaft. Brexit, Trump, die Geschichtsvergessenheit der AfD etc. sind durchaus auch direkte Konsequenzen von TINA: Das Leugnen oder Dämonisieren möglicher politischer Alternativen als eine Art politischer Konsens-Erpressung ist einer der Gründe für die Radikalisierung von Meinungen, vor allem am rechten Rand des Spektrums.

Dabei ist die Behauptung vom »Ende der Geschichte« ironischerweise die perfide Variante eines auf Einigung zielenden Gesellschaftsmodells, wie es sich gerade viele linke oder liberale PhilosophInnen – von Karl Marx bis Jürgen Habermas oder John Rawls – gewünscht haben: Rationale Erwägungen würden die Menschen eines Tages schon noch dazu bringen, individuelle Interessen zu überwinden und sich auf das Richtige zu einigen.

Aber zum einen sind wir nun mal nicht sonderlich vernünftige Wesen; Gefühle, auch egoistische Erwägungen, werden immer eine Rolle spielen. Zum anderen existiert für manche Konflikte, wie Chantal Mouffe betont, schlicht nicht die eine rationale Lösung. Eine Welt ohne Machtstrukturen und partikulare Interessen wird es nie geben: »Wir wünschen uns zwar ein Ende allen Konflikts, doch wenn wir wollen, dass Menschen frei sind, müssen wir Konflikte immer hervortreten lassen, und eine Arena zum Austragen von Differenzen bereitstellen. Der demokratische Prozess sollte diese Arena bieten.«3

Mouffes Konzept eines agonistischen Pluralismus beschreibt Demokratie deshalb als ein Kampffeld, auf dem wir die Gelegenheit haben müssen, unsere Differenzen als Gegner auszuagieren, ohne sie beizulegen. Diese Forderung ist nicht leicht zu verdauen, denn sie widerspricht nicht nur jeder Hoffnung auf Demokratie als umfassenden safe space, sie geht auch über das Modell »Konkurrenz belebt das Geschäft« weit hinaus: »Die Gegner bekämpfen sich – sogar erbittert –, aber sie halten sich dabei an einen gemeinsamen Regelkanon. Ihre Standpunkte werden, obwohl letzten Endes unversöhnlich, als legitime Perspektiven akzeptiert.«4 Nur wenn wir dazu bereit sind, können wir einen Antagonismus verhindern, der allem Verhandeln und Verstehen ein Ende setzt und dessen letzte Konsequenz (realer oder zumindest symbolischer) Bürgerkrieg ist. »Als Hauptaufgabe der Demokratie könnte man die Umwandlung des Antagonismus in Agonismus ansehen«.5 Denn Demokratie muss immer neu erstritten und ausgehandelt werden, sie lebt von Konflikt und Parteinahme.

Welche Meinungen halten wir aus, welchen wollen wir den Raum verweigern? Welche Konflikte kann das Theater abbilden, zu welchen sollte es schweigen? In einer Zeit, in der einerseits George W. Bushs Diktum »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns« auf allen Seiten des politischen Spektrums eine erstaunliche Renaissance erlebt, andererseits die Logik des Konsens noch immer viele demokratische Diskussionen einschläfert, kann Theater ein Raum sein, in dem ein spielerischer (aber ernsthafter) Agonismus Widersprüche nicht nur am Leben hält, sondern vor allem erlaubt, sie frei zu artikulieren. Schließlich ist es kein Zufall, dass Mouffes Konzept seinen Namen den antiken Turnieren in Sport und Kultur entlehnt hat. Agon, so heißt auch der Wettstreit der Argumente in der griechischen Tragödie.

Theater westlicher Prägung war immer vor allem ein Medium zur Darstellung von Konflikten und Gegensätzen: zwischen Gut und Böse, zwischen Ideen und Ideologien, Gesellschaften und Nationen, Mächten und Mächtigen, Idealen und Traditionen, zwischen Generationen, Familien und Ehepaaren – oder gar innerhalb der Psyche eines einzelnen Menschen. Auseinandersetzungen werden stellvertretend ausgetragen, mal körperlich, mal psychologisch, mal diskursiv. Theater ist ein Ort des Verhandelns, ein – wenn auch oft parteiischer – Raum agonistischen Pluralismus’, mögen letzte Akte noch so oft einen beruhigenden Abschluss suggerieren.

So alarmierend also die soziale, ökologische, politische Lage ist, in der wir derzeit leben, für das Theater ist sie zugleich auch eine Chance, gemeinsam oder auch in Reibung mit den zahlreichen Bewegungen in aller Welt, neue gesellschaftliche Imagination zu entfachen. Wie können im Theater andere Formen des Zusammenlebens gemeinsam gedacht, ausprobiert, diskutiert und miteinander konfrontiert werden? Wie kann Theater sich am Nachdenken darüber beteiligen, welche Gesellschaft, welche Welt wir eigentlich wollen? Wie kann Theater, ohne wohlfeil zu predigen und zu belehren, gleichwohl gemeinsam mit seinen BesucherInnen selbstbewusste Antwortversuche wagen? Welcher – sowohl ästhetischen wie ethischen – Formen bedarf es, um tatsächlich politisch zu sein und nicht nur eine politische Attitüde an den Tag zu legen?

Ein Blick auf die gegenwärtige internationale Theaterszene zeigt, dass es bei KünstlerInnen und Publikum einen starken Wunsch nach einem Theater gibt, das drängende politische Fragen nicht nur aufgreift, sondern selbst zu einem öffentlichen Raum wird, in dem Ästhetik und Ethik kein Widerspruch sind. Ein Theater, das – wie einfach das klingt – sowohl in seinen Inhalten als auch in seinen Formen politisch ist.

Dieses Buch ist ein Versuch, zu verstehen, wie Theater heute ein konkreter Ort sein kann, an dem die Welt um uns herum – politisches Geschehen, gesellschaftliche Visionen, große Kämpfe und pragmatische Lösungsversuche – nicht nur gezeigt, sondern bewusst mitgestaltet wird. Und zu begreifen, wo dabei künstlerische wie politische Gefahren lauern.

Dieser Streifzug durch das politische Theater erhebt keinen Anspruch auf Lückenlosigkeit, im Gegenteil: Er beruht großenteils auf eigenen, direkten Begegnungen, Seherfahrungen, nicht selten auch auf meiner Beteiligung an Projekten als Kurator, Dramaturg oder Mitinitiator. Daher gibt es Schwerpunkte, Abschweifungen, blinde Flecken. Auch wenn KünstlerInnen aus vielen Teilen der Welt eine wesentliche Rolle in diesem Buch spielen, liegt der Fokus doch auf dem deutschsprachigen Raum. Und dort zudem auf dem sogenannten postdramatischen Theater, das wiederum auf vielfältige Weise international verstrickt ist und permanent in Wechselwirkung mit künstlerischen Arbeiten und Diskursen aus unterschiedlichsten Regionen steht.

So versucht dieses Buch gar nicht erst eine umfassende Darstellung von allem, was man derzeit als politisches Theater verstehen könnte. Vieles, das die Feuilletons füllt, kommt hier nicht zur Sprache. Es ist ein parteiisches Buch. Und zugleich ein suchendes Buch über ein suchendes Theater, das Teil einer suchenden Gesellschaft ist. Antworten sind provisorisch, so wie Theater ohnehin immer provisorisch ist. Was heute funktioniert und wichtig ist, wird morgen antiquiert sein, bestenfalls ein Vorläufer, schlimmstenfalls der Weg in eine Sackgasse. Aber gleichzeitig geht es im politischen Theater genau darum: Einem – oft diskursiv vermeintlich gut begründeten – Relativismus ernstgemeinte, konsequente Behauptungen entgegenzusetzen und dabei zu wissen, dass es sich dennoch immer nur um Arbeitsthesen handeln kann. Alle Beispiele in diesem Buch sind nur im Kontext ihrer Zeit zu verstehen – und im Kontext ihres geographischen Entstehens. Manchmal verändern ein Jahr oder auch nur 100 Kilometer bereits das ganze Bild.

Die beschriebenen Arbeiten sind Gesellschaftsspiele, die man nur gemeinsam spielen kann, und die zugleich, im Doppelsinn des Wortes, stets eine größere soziale Dimension im Auge haben. Ihre Regeln werden oft erst während des Spiels verständlich; zuweilen sind sie nicht einfach herauszufinden. Aber so sehr man vom Spiel gefangen sein mag: Es geht immer darum, im Blick zu behalten, was auf dem Spiel steht. Auf welcher Grundlage wird gespielt, wer hat die Regeln aufgestellt, und inwiefern bestimmen sie, was überhaupt gespielt werden und wer mitspielen kann?

Diese Spiele finden in der paradoxen Maschine des Theaters statt, in der alles echt ist und fiktiv zugleich, tatsächlich und symbolisch. Man kann mitspielen, mittendrin sein und sich gleichzeitig von außen beobachten. Theater ist immer eine soziale, aber auch eine selbstreflexive Praxis. Politisches Theater macht sich genau das zunutze.

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