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Die Politik und das Politische
ОглавлениеWenn in den letzten Jahren vom politischen Theater die Rede ist, wird meist auf die Unterscheidung zwischen der Politik und dem Politischen verwiesen. Eine Differenzierung, die nicht neu ist, aber besonders seit dem Ende vermeintlicher Gewissheiten nach dem Fall der Mauer deutlich an Bedeutung gewonnen hat. Das Zerbröseln der ideologischen Fundamente in Ost und West beantworten nach und nach französische Philosophen wie Jean-Luc Nancy, Alain Badiou, Jacques Rancière oder Claude Lefort (aber auch die Nicht-Franzosen Giorgio Agamben, Ernesto Laclau und Chantal Mouffe) mit – wie der Politologe Oliver Marchart schreibt – »postfundamentalistischen« Theorien, bei denen das Politische eine zentrale Rolle spielt.
Die Politik umfasst hier, mit leicht unterschiedlichen Grenzziehungen der verschiedenen Ansätze, das konkrete Feld staatlicher Funktionen und staatlichen Handelns (Parteien, Regierung etc.). Es ist die Politik des Alltags, der Politiker, der Parlamentsroutinen. Ihr Problem: Sie bleibt letztlich immer pragmatisch, bohrt bestenfalls langsam harte Bretter, lässt aber kaum Raum für Utopien, für die großen Fragen. Bei den TheoretikerInnen des Politischen hat die Politik deshalb in der Regel keinen guten Ruf.
Das Politische hingegen ist schwerer zu umreißen. In seiner landläufigen Verwendung verweist es – eher diffus – auf die Dimension des Sozialen, zuweilen des Kollektiven, auf die Sphäre, in der sich auch politische Bewegungen manifestieren – von Occupy Wall Street bis zu den Gelbwesten in Frankreich. Das Politische bezeichnet also das Nicht-pragmatische, das Ungefilterte, Direkte: »Sich auf das Politische und nicht auf die Politik beziehen […] heißt von allem sprechen, was ein Gemeinwesen jenseits unmittelbarer parteilicher Konkurrenz um die Ausübung von Macht, tagtäglichen Regierungshandelns und des gewöhnlichen Lebens der Institutionen konstituiert«, schreibt der Politologe Pierre Rosanvallon.26
Grundlegender ist die Verwendung des Begriffs im Denken obengenannter postfundamentalistischer TheoretikerInnen – wobei das Wort »grundlegend« offensichtlich auf ein Paradox verweist. Denn in der Tat ist das Politische so etwas wie die Basis in einem Denken, in dem es keine verlässlichen Fundamente mehr gibt: Das Politische ist das sich immer verändernde, unsichere, kontingente Fundament der Politik. Es ist das, was die Politik immer hinterfragt – und nur so eine lebendige Demokratie ermöglicht. Ohne Ordnung (und damit eine Begründung) kann Gesellschaft nicht existieren. Aber ihre Ordnung ist nicht endgültig, muss immer neu verhandelt werden. Ihre Wahrheiten sind Arbeitsthesen, worauf auch Derridas erwähntes Konzept einer Demokratie »im Kommen« verweist.27
Diese Unterscheidung zwischen der Politik und dem Politischen ist wichtig und hilfreich. Sie zeigt die innere Widersprüchlichkeit politischen Agierens – und dass Demokratie permanent neu errungen, neu gegründet werden muss. Indem sie außerdem die Möglichkeit politischer Imagination, eines alternativen Denkens und Handelns eröffnet, ermöglicht sie nicht nur, die zahlreichen außerparlamentarischen Bewegungen weltweit zu verstehen, sondern auch das besondere Potential von Kunst als politischem Raum zu fassen.
Aber der Fokus auf das Politische birgt auch das Risiko eines reinen »Philosophismus«, wie Marchart es nennt: »Der Glaube an ein ›reines‹ Politisches wird dann zur intellektuellen Spielart einer destruktiven Politikverdrossenheit, statt produktives eigenes Handeln zu ermutigen.« Dass sich das durchaus auch auf die Kultur übertragen lässt, merkt Marchart an anderer Stelle selbst an: »Eine vergleichbare Operation findet sich übrigens im Kunstdiskurs, wenn behauptet wird, alle Kunst sei an sich schon politisch, um damit letztlich nichts anderes zu bezwecken, als die Delegitimierung tatsächlich politischer Kunst.«28
Tatsächlich wurde eine Generation von PhilosophInnen, die ihre Theorien direkt aus ihren eigenen politischen Erfahrungen und Engagements hergeleitet hatte (Michel Foucault kämpfte mit der Groupe d’information sur les prisons für Menschenrechte in Gefängnissen, Alain Badiou engagierte sich in der Organisation politique für Migration und Asylpolitik, Jacques Rancière war kurzzeitig Mitglied einer Maoistengruppe – um nur einige zu nennen), nach und nach von PhilosophInnen (und KünstlerInnen, DramaturgInnen, KuratorInnen etc.) abgelöst, die auf deren Überlegungen aufbauten und sie weiter abstrahierten – aber allzu oft, ohne sie erneut an die eigene gegenwärtige, konkrete Realität rückzubinden.
Und so hat sich auch die Theaterwelt weitgehend daran gewöhnt, philosophische Theorien und Kunstwerke politisch zu nennen, selbst wenn sie nur auf Ideen beruhen, die bereits von den konkreten politischen Impulsen, die sie entzündeten, abstrahiert wurden. Ein homöopathisches Secondhand-Verständnis politischer Philosophie und Kunst ist zur Grundlinie vieler zeitgenössischer kultureller Diskurse geworden.
Dabei manövriert uns das konstante Bewusstsein um die Komplexität von Begriffen wie Wahrheit, Realität oder auch Politik nicht selten in eine Sackgasse: Entweder begreifen und beschreiben wir die Welt zu einfach oder zu komplex, zu populistisch oder zu eremitisch. Wir schließen zu viel ein oder zu viel aus. Wir sind an einem Punkt angelangt, wo das nötige Bewusstsein darüber, dass alles kontingent ist, zu oft zur Entschuldigung für intellektuellen Relativismus geworden ist.
Besonders die Schriften von Jacques Rancière werden seit den späten 1990ern gern hierfür in Stellung gebracht. Seine Skepsis gegenüber jedem klaren politischen Statement in der Kunst und sein starkes Vertrauen in die Kraft ihrer »Unbestimmtheit«29 halfen, den Weg für sehr weite Definitionen des Politischen zu bereiten. Seine These, Kunst sei vor allem widerständig, indem sie »die Ordnung der Wahrnehmung durchbricht und die sinnlichen Hierarchien erschüttert«30, wurde vielfach zum Blankoscheck einer Kunst, die zwar (oft auch nur vermeintlich) Sehgewohnheiten irritiert, aber ansonsten kein politisches Anliegen erkennen lässt.
Das Diktum Hans-Thies Lehmanns, »im Wie der Darstellung« sei »das Politische, die politische Wirkung, die politische Substanz [des Theaters] zu suchen«,31 wird von derzeitigen politisch engagierten TheatermacherInnen variiert und ergänzt: Die politische Substanz des Theaters liegt darin, das Was und das Wie der Darstellung in Einklang zu bringen. Denn so groß das politische Potential einer Ästhetik der Irritation und der veränderten Wahrnehmungen auch ist – die Auseinandersetzung mit einem konkreten Gegenstand ersetzt sie nicht.
Wissend, dass die Frage nach Repräsentation nie eine rein formale ist, haben TheatermacherInnen in jüngster Zeit zunehmend versucht, ein selbstreflexives Bewusstsein für Fragen der Form zu bewahren und es zugleich für konkrete politische Inhalte zu nutzen – und so Komplexität und Klarheit im Wechselspiel von Ästhetik und Ethik künstlerisch miteinander zu verbinden.