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1. Die EMRK und ihr Einfluss auf die nationalen Rechtsordnungen

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Rechtlich konstituiert ist die am 4. November 1950 von den Mitgliedern des Europarats unterzeichnete Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) als multilateraler völkerrechtlicher Vertrag. Nach Art. 1 EMRK werden die Vertragsstaaten verpflichtet, allen unter ihrer Hoheitsgewalt stehenden Personen die von der Konvention gewährleisteten Rechte und Freiheiten zuzusichern. Dabei sind die Individuen nicht nur Objekt, sondern Subjekt der Regelungen.78 Denn mit der Erhebung einer Individualbeschwerde79 nach Art. 34 EMRK beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) kann jede natürliche Person nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs die Verletzung eines ihr gewährleisteten Konventionsrechts durch einen Vertragsstaat rügen. Dem EGMR kommt dabei nach Art. 32 Abs. 1 EMRK ein Auslegungsmonopol hinsichtlich des Umfangs der in der Konvention enthaltenen Rechtspositionen zu. In Anbetracht dessen wird deutlich, dass die EMRK auch im Rahmen des kirchlichen Arbeitsrechts virulent werden kann, dem in seinen verschiedenen Teilbereichen ein Konfliktpotential zwischen den Grundrechten der kirchlichen Arbeitgeber und ihrer Arbeitnehmer inhärent ist. Entsprechend sind vom EGMR bereits drei Urteile zur Zulässigkeit von Kündigungen wegen der Verletzung von Loyalitätsobliegenheiten im Zusammenhang des deutschen kirchlichen Arbeitsrechts erlassen worden, die an entsprechender Stelle darzustellen sein werden.80

Infolge ihrer Genese als durch den Europarat geschaffenes Völkerrecht ist die EMRK aber kein Gemeinschaftsrecht im „engeren Sinne“ und unterliegt infolgedessen einer grundlegend abweichenden dogmatischen Einordnung in die nationalen Rechtsgefüge.81 Dabei überlässt es die EMRK der Ausgestaltungsfreiheit der einzelnen Konventionsstaaten, in welcher Weise sie ihrer Pflicht zur Befolgung der Konventionsvorschriften nachkommen.82 Dies hat eine Vielfalt unterschiedlicher Umsetzungsmodi zur Folge, die sich in drei Gruppen schematisieren lassen.83 Österreich ist dabei der Gruppe von Staaten zuzuordnen, in denen die EMRK Verfassungsrang genießt.84 Frankreich nimmt eine mittlere Stellung ein, indem die Konvention dort in einen Rang zwischen der Verfassung und den einfachen Gesetzen erhoben wurde.85 In England steht die EMRK hingegen als Folge ihrer Umsetzung durch den Human Rights Act 1998 nur auf der normenhierarchischen Position des Gesetzesrechts.86 Auch in Deutschland kommt der EMRK entsprechend ihrer Umsetzung nach Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG in formaler Hinsicht nur der Rang eines Bundesgesetzes zu.87 Dementsprechend ist die Menschenrechtskonvention innerhalb der deutschen Rechtsordnung kein unmittelbarer verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab.88 Das Grundgesetz genießt gegenüber der EMRK normenhierarchisch den höheren Status und unterwirft sich nicht gegenüber nichtdeutschen Hoheitsakten.89

Allein auf Grundlage dieser Prämissen ließe sich aber ihre besondere Bedeutung für das deutsche Recht noch nicht ableiten. Diese folgt vielmehr daraus, dass nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das gesamte nationale Recht einschließlich des Grundgesetzes völkerrechtsfreundlich ausgelegt werden muss.90 Entsprechend dieses Grundsatzes haben die an Art. 20 Abs. 3 GG gebundenen deutschen Gerichte die EMRK und die zu ihr vom EGMR ergangene Rechtsprechung bei der Interpretation der Grundrechte und der einfachen Gesetze im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung schonend in das vorhandene, dogmatisch ausdifferenzierte nationale Rechtssystem einzupassen.91 Diesem Erfordernis wird ein nationales Gericht gerecht, indem es die streitrelevanten Konventionsrechte im Sinne einer gebührenden Auseinandersetzung in die Entscheidungsfindung einbezieht.92 Damit erhält die EMRK in Gestalt der Auslegung durch die Rechtsprechung des EGMR eine „normative Leitfunktion“93 für das deutsche Recht. Allerdings erfährt der auf diese Weise konkretisierte Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung insbesondere dann eine Begrenzung, sofern der Grundrechtsschutz des Grundgesetzes eingeschränkt würde.94 Dazu kann es insbesondere im Rahmen der mehrpoligen Grundrechtsverhältnisse der kirchlichen Arbeitsverhältnisse kommen, bei denen der Zugewinn an Freiheit des einen Grundrechtsträgers zugleich eine Einbuße des anderen darstellt.95

Auf der Ebene des Rechts der Europäischen Union entfaltet die EMRK hingegen bislang mangels Inkorporation (noch)96 keine unmittelbare Wirkung.97 Doch nach Art. 6 Abs. 3 EUV sind die Grundrechte, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind, als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts. Daraus folgt ihr Status als Rechtserkenntnisquelle.98 Entsprechend hat sich der EuGH in der Vergangenheit häufig auf die EMRK bezogen und dabei auch die Rechtsprechung des EGMR zugrunde gelegt.99 Im Sinne einer Reziprozität zieht auch der EGMR zuweilen die Rechtsprechung des EuGH heran.100 Seit dem Inkrafttreten der europäischen Grundrechtecharta dürfte die EMRK und die dazu ergangene Rechtsprechung des EGMR allerdings in ihrer Bedeutung als Erkenntnisquelle für europäisches Recht dezimiert worden sein.101

Kirchliches Arbeitsrecht in Europa

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