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1 Am Rand der Au, 24. Juni

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„Was ist denn da drüben los?“ Karl-Heinz Silberschmied schirmte seine Augen gegen die tief stehende Sonne ab. So konnte er die lange Wagenkolonne besser sehen, die sich am anderen Ende des Feldes den Forstweg entlang wälzte. „Verdammt, Franka, komm schnell her! Das musst du dir angucken!“

Seine Freundin steckte den Kopf bei der Tür des Wohnmobils heraus. „Was ist denn so wichtig, dass es nicht warten kann, Karlo?“ In der rechten Hand hielt sie ein Küchenmesser, mit dem sie gerade Kartoffeln geschnitten hatte, die sie untertags von einem Feld geklaut hatten.

„Ich glaub, das sind Bullen. Jede Menge Bullen … eine ganze Armee!“

Franka riss ihre dunklen Augen weit auf, sprang die Treppe herunter und stellte sich neben ihn. „Du hast recht. Manno, das ist echt abgefahren. Da muss was passiert sein.“

Sie beobachteten staunend, wie etwas mehr als ein Dutzend Wagen nach und nach im Wald untertauchten, bis nur noch eine riesige Staubwolke an sie erinnerte.

„Die werden doch nicht etwa wegen uns hier sein?“

Karlo lachte. Es war ein knapper Laut, der von Unsicherheit geprägt war. „Nee, das glaub ich nicht. Wegen dem bisschen Gemüse? Franka! Da kommt vielleicht ein Dorfbulle auf dem Fahrrad, aber nicht ´ne ganze Legion.“

Im selben Moment vernahmen die beiden jungen Leute das Rattern von Rotorblättern und wendeten ihre Köpfe in Richtung des nahegelegenen Dorfes. Ein Helikopter tauchte über den letzten Häusern auf und wurde rasch größer; und je näher er kam, umso lauter wurde das Geräusch.

„Scheiße!“, rief Franka. „Der kommt genau auf uns zu!“ Instinktiv ging sie hinter dem Camper in Deckung und zog ihren Freund mit sich. Die Neugier bewog die beiden jedoch dazu, hinter dem Gefährt hervor zu spähen.

Der Polizeihubschrauber flog knapp über dem Boden, sodass die Ähren des Feldes vom Druck durcheinandergewirbelt wurden. Es war ein furchteinflößender Anblick, wie er mit gesenkter Schnauze auf sie zuraste. Er erinnerte die beiden an einen wütenden Stier, der in der Arena mit gesenkten Hörnern auf den Matador losging. Karlo und Franka zogen ihre Köpfe ein.

„Lass uns abhauen!“ Die junge Frau wollte zum Waldrand laufen, um im Dickicht unterzutauchen.

Er bekam ihren Arm zu packen und hielt sie zurück. „Spinnst du? Bleib da! Wenn die sehen, dass du wegrennst, denken sie, wir hätten was ausgefressen!“ Das Fluggerät knatterte über ihre Köpfe hinweg, wirbelte jede Menge Feinstaub auf und verschwand hinter den Baumkronen. Das Getöse entfernte sich rasch. „Siehst du“, sagte Karlo, als nur noch ein feines Brummen zu hören war. „Die ganze Panikmache für nix.“

Franka riss sich los. „Von wegen Panikmache“, herrschte sie ihren Freund an. „Du weißt genau, dass die Bullen nach uns suchen. Wir sollten von hier verduften.“ Wütend ging sie auf den Eingang zu. Dabei warf sie ihre Rasta-Locken in den Nacken.

Er heftete sich an ihre Fersen. „Franka, sei vernünftig. Kein Mensch sucht uns in Österreich. Wir sind hier am Arsch der Welt. Denk mal nach. Die deutsche Polizei hat doch kein Interesse international nach uns zu fahnden. Dafür sind wir nicht wichtig genug.“

Im Wohnmobil drehte sich Franka zu ihm um. Als sie seine zerzauste, dunkle Mähne sah, musste sie grinsen. „Wäre aber ganz schön aufregend; Wir beide auf der Flucht, gegen den Rest der Welt, wie Bonnie and Clyde.“

Karlo seufzte. „Ja, aber du weißt, wie die Geschichte für die zwei endete.“

„Komm her zu mir, Clyde. Ich will es noch ein letztes Mal tun, bevor die Kugeln uns zerfetzen.“ Mit diesen Worten zerrte sie ihn auf das ungemachte Bett.

***

„Hörst du das Knistern im Wald? Ich glaube sie kommen.“ Franka flüsterte, um die Rehe nicht zu verschrecken. Mit einer vorsichtigen Bewegung nahm sie die Beine von der Kiste und beugte sich erwartungsvoll in dem Klappstuhl vor, der ein leises Quietschen von sich gab.

„Ja, aber ich glaube nicht, dass Rehe Taschenlampen benutzen“, zischte Karlo.

Jetzt sah auch sie das unstete Funkeln und Leuchten. Lichtfinger durchschnitten das in Dunkelheit gehüllte Dickicht. „Wer ist das, Karlo?“

„Keine Ahnung. Aber es gefällt mir nicht.“

„Ich hab Angst.“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, senkte sich wie ein kühler Hauch über ihn und bescherte ihm eine Gänsehaut.

Er spürte, wie sie nach seinem Arm suchte, ergriff ihre Hand und zog sie hoch. Als beide standen, bereit in die relative Sicherheit ihres Campers zu flüchten, erfasste sie ein Strahl und eine Gestalt brach aus dem Unterholz hervor. Dann noch eine und noch eine, immer mehr schienen daraus hervor zu quellen.

„Wer ist da?“, fragte Karlo. Seine Stimme klang gepresst. Vor Schreck hatte seine Lunge für einen Moment aufgehört, das zu tun, wofür sie gemacht war; zu atmen.

„Polizei!“ Die Vorderste der Gestalten näherte sich ihnen rasch und hielt unmittelbar vor dem Pärchen an. „Was machen Sie hier?“ Die Stimme klang barsch, befehlsgewohnt.

Immer mehr Leute drängten aus dem Wald und begannen sie einzukreisen. Franka und Karlo erkannten hauptsächlich Uniformen. Die Gesichter waren unkenntlich, da sie noch immer von dem Licht geblendet wurden.

„Wir campen hier nur, Herr Wachtmeister.“

„Ihre Papiere, wenn ich bitten darf?“

„Ja, klar.“ Franka eilte in das Wohnmobil, um die geforderten Ausweise zu holen. Das Poltern ihrer Schritte drang zu den Männern heraus. Dann hörte man, wie einige Schubladen hektisch geöffnet wurden.

Karlo blieb stehen und versuchte seine Lähmung abzuschütteln. „Sind Sie auf der Suche nach etwas Bestimmten, Herr Wachtmeister?“

„Bezirksinspektor Teigl. Kein Wachmann“, bemerkte der Polizeibeamte knapp und richtete seine Aufmerksamkeit auf die offenstehende Tür des Campers. Frankas Silhouette tauchte soeben im hell erleuchteten Türrahmen auf.

„Hab sie!“ Sie hastete die Treppe herunter. Warum sie sich so beeilte, konnte sie sich selbst nicht erklären. Die Warnung ihres Freundes kam ihr in den Sinn. Wenn sie sich nicht beruhigte, dann machten sie sich nur verdächtig und das Letzte, was sie brauchen konnten, waren Schwierigkeiten mit der hiesigen Polizei. „Hier sind sie.“ Sie bemühte sich um eine ruhige Stimme, aber ihre Hände zitterten, als sie dem Ordnungshüter die Ausweise entgegenstreckte.

„Immer mit der Ruhe, junge Frau“, entgegnete dieser und nahm die Eu-Pässe von ihr entgegen, schlug den ersten auf und lenkte das Licht darauf. „Franka Rotter?“, fragte er.

„Ja, das bin ich“, antwortete sie gehorsam und tastete nach der Hand von Karlo.

Er schloss seine Finger um ihre und drückte sie. Bonnie and Clyde, dachte er, während er hoffte, dass er mit der Annahme Recht behielt, dass sie auf keiner Fahndungsliste standen. Franka bekam den Ausweis ausgehändigt, dann war er an der Reihe.

„Sie wissen schon, dass das hier kein Campingplatz ist, Herr Silberschmied“, klärte ihn der Polizist auf.

„Entschuldigen Sie, Herr Bezirksinspektor. Wir werden sofort wegfahren.“ Karlo war erleichtert und gleichzeitig bemüht, es auf keinen Konflikt ankommen zu lassen. Angesichts der Übermacht wohl eine kluge Entscheidung. Inzwischen waren sie von mindestens zehn Uniformierten umringt.

„Haben Sie etwas getrunken?“

„Nur eine Flasche Wein“, gestand er.

Der Exekutivbeamte gab ihm seinen Pass zurück. „Dann ist es wohl besser, wenn Sie bis morgen warten“, meinte der Polizist. „Ausnahmsweise belasse ich es bei einer Ermahnung.“

„Was ist denn eigentlich los? Wonach suchen Sie?“ Franka hielt die Spannung nicht mehr aus. Sie verlangte nach Aufklärung.

„Wir sind auf der Suche nach einem vermissten Mädchen. Jasmin Gruber, siebzehn Jahre, helles Haar, mit Jeans und hellgrünem T-Shirt bekleidet. Vielleicht haben Sie etwas gesehen?“ Er hielt ihnen eine foliierte Farbkopie eines Fotos unter die Nasen. Ein hübsches Mädchen war darauf abgebildet.

Beide schüttelten zeitgleich die Köpfe. Bis auf einen Spaziergänger mit Hund waren sie den ganzen Tag niemanden begegnet. „Tut uns leid, die ist uns nicht aufgefallen“, antwortete Franka. „Wie ist denn das passiert, … ich meine, wie ist sie denn verschwunden, diese Jasmin?“

„Bei einem Schulausflug. Ihre Lehrer haben sie gegen Mittag als vermisst gemeldet. Wie lange sind Sie schon hier?“

Die beiden tauschten einen kurzen Blick, bevor Karlo antwortete. „Äh, es muss nachmittags gewesen sein, … kurz bevor dieser Helikopter kam.“

„Ja, der hat uns einen riesen Schreck eingejagt, ist direkt über unsere Köpfe hinweg geflogen“, sagte Franka und kassierte dafür einen leichten Rempler mit dem Ellenbogen von ihrem Freund. „Äh, weil wir dachten, hier wären wir ungestört. Die Natur genießen, die Stille und so, … Sie wissen schon.“

Sie glaubten auf dem Gesicht des Mannes ein Grinsen zu erkennen. „Alles klar, Frau Rotter, Herr Silberschmied, ich wünsche Ihnen eine angenehme Nachtruhe. Und falls Sie das Mädchen sehen, oder Ihnen irgendetwas Ungewöhnliches auffällt, dann rufen Sie unverzüglich eins drei drei.“

Er tippte zum Abschied auf die Stirn, als wollte er salutieren, und wandte sich seinen Leuten zu. „Alles kehrt! Wir durchkämmen den Wald in diese Richtung! Lockere Formation, Männer, und haltet die Augen offen!“

Karlo und Franka sahen den Polizisten nach, wie sie zwischen den Bäumen untertauchten. Bald hatte sie der Wald verschluckt und kein Laut drang mehr zu ihnen vor.

„Scheiße, das arme Ding. Hast du gesehen, wie hübsch sie war, Karlo?“

Er nickte. „Jasmin, ein schöner Name.“

„Was ihr wohl zugestoßen ist?“

„Ich fürchte nichts Gutes. Hoffentlich wird sie bald gefunden.“

Vermisst

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