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2 Die Anhalterin, vier Wochen später
ОглавлениеSimon Breuer, 52 Jahre, hellhäutig und bis auf einen graumelierten kurzgeschorenen Haarkranz fast kahl, steuerte seinen alten Volvo vorsichtig über die rumplige Schotterstraße und versuchte den Schlaglöchern, so gut es ging, auszuweichen. Das Navi hatte ihn in diese gottverlassene Gegend gelotst. Zum Teil war er selbst schuld an dem Dilemma, in dem er nun steckte, denn er hatte geglaubt, eine Abkürzung durch den Wald nehmen zu können. Doch irgendwie hatten er und sein elektronischer Co-Pilot sich gehörig verzettelt.
Der ständige Wechsel von Sonnenschein und Schatten zauberte eine rasch wechselnde Abfolge von wirren Mustern auf die Frontscheibe, sodass er die Gestalt am Straßenrand erst bemerkte, als er auf gleicher Höhe mit ihr war.
Sie hat gewinkt!
Er trat auf die Bremse und sah in den Seitenspiegel. Eine junge Frau lief durch die aufgewirbelte Staubwolke auf den Kombi zu. In ihrem luftigen, hellblauen Sommerkleidchen, das um ihre schlanken, nackten Oberschenkel flatterte, wirkte sie in dieser naturbelassenen Einöde schrecklich fehl am Platz. Als sie den Wagen endlich erreicht hatte, beugte sie sich auf der Beifahrerseite zum offenen Seitenfenster herein und nahm schnaufend Blickkontakt mit dem Fahrer auf.
„Gott sei Dank“, keuchte das Fräulein außer Atem. „Könnten Sie mich ein Stück mitnehmen?“
Er sah in ihr verschwitztes, hübsches Gesicht, das von der Vorhut eines kinnlangen, blondgefärbten Pagenschnitts umrahmt wurde. „Bitte“ zu sagen, war wohl aus der Mode gekommen. Die jungen Leute von heute hielten alles für selbstverständlich.
„Wo willst du denn hin?“, fragte er mit einer Selbstsicherheit, als würde er jeden Tag hier lang fahren.
„Erst mal raus aus dieser Wildnis“, krächzte sie mit trockener Kehle und hustete den Staub aus den Lungen.
Dafür hatte er vollstes Verständnis. Ihm ging es da nicht anders. Vielleicht konnte sie ihm ja weiterhelfen. „Steig ein.“ Er räumte den Beifahrersitz ab und warf seinen Laptop auf die Rückbank neben eine Fotoausrüstung.
Das Mädchen kletterte in den Wagen und ließ sich seufzend auf den Sitz sinken.
„Was machst du so allein in dieser, … wie hast du es gleich nochmal bezeichnet? …Wildnis?“ Er war neugierig. So etwas passierte einem nicht alle Tage.
„Mein Freund, Charly, und ich haben mit meiner besten Freundin, Jenny, eine Spritztour unternommen, … wollten nur mal so in der Gegend rumfahren. Jedenfalls haben wir uns in die Haare gekriegt, … weiß gar nicht mehr, worum es eigentlich ging, … und ganz nebenbei hat mir diese Schlampe gesteckt, dass sie hinter meinem Rücken mit Charly herummacht“, zeterte sie drauf los. „Können Sie sich so etwas vorstellen? Meine beste Freundin, … diese falsche Gurke, … treibt es mit meinem Lover und lässt sich von uns in der Gegend herumkutschieren, als wäre alles in bester Ordnung! Also bin ich raus aus dem Auto und habe den beiden eine schöne Zukunft gewünscht!“
Simon starrte das Mädchen irritiert an. Ihr Redeschwall hatte ihn unvorbereitet getroffen. Vor allem ihre direkte, offene Art entsetzte ihn. Offenbar nahm sie kein Blatt vor den Mund
„Warum fahren wir nicht?“, fragte sie stirnrunzelnd und deutete durch die schmutzige Windschutzscheibe auf die Schotterpiste. Ihre grünen Augen funkelten ihn angriffslustig an.
„Ich hab keine Ahnung, wo wir sind. Mein Navigationsgerät übrigens auch nicht, und ich hatte gehofft, du würdest den Weg kennen“, gestand er kleinlaut.
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich hab auch keine Ahnung, wo wir sind. Irgendwo in der Silberau! Mein Gott ich hab nicht auf den Weg geachtet, … wegen dem ganzen Stress … und so.“
„Wo kommst du denn her?“, erkundigte er sich.
„Aus Eberaudorf.“
„Aha!“ Simon gab den Ortsnamen in sein Navi ein.
„Route berechnet“, tönte es kurz darauf aus dem Gerät. „Folgen Sie der Straße sechs Kilometer.“
„Na dann mal los“, brummte er hoffnungsvoll und legte den ersten Gang ein.
Er beobachtete aus dem Augenwinkel, wie sich seine schwitzende, staubige Beifahrerin umständlich anschnallte und überlegte, wann das letzte Mal ein weibliches Wesen auf diesem Platz gesessen hatte. Es war schon eine halbe Ewigkeit her. Er konnte sich gar nicht mehr erinnern. Der Anblick tat jedenfalls gut, auch wenn sie nicht in dem Alter war, dass man sie für seine Gefährtin halten konnte. Demnach ging sie eher als seine Tochter durch. Doch in dieser Einöde konnte sie sowieso niemand sehen, also spielte das alles keine Rolle.
Die junge Frau, er schätzte ihr Alter auf etwa 18,19 Jahre, schlüpfte aus den Sneakers und stemmte ungeniert ihre bloßen Füße gegen das Armaturenbrett. Dabei rutschte ihr hellblaues, weiß geblümtes Chiffon-Kleid hoch und entblößte ihre gebräunten Oberschenkel. Sie bemerkte seinen neugierigen Blick, interpretierte ihn jedoch falsch.
„Mir tun die Latschen weh, von dem Herumgerenne in der Hitze“, entschuldigte sie sich stöhnend und bettete den Kopf auf der Nackenstütze.
Der Fahrer seufzte statt einer Antwort übertrieben laut. Er musste aufhören, sie zu beobachten, sonst würde er seinen Wagen noch gegen einen Baum lenken.
„Ich heiße Simon.“
„Hi, Simon!“, trällerte sie lächelnd, dann sah sie aus dem Fenster und genoss mit zusammengekniffenen Augen den Fahrtwind, der ihren Kurzhaarschnitt verwirbelte.
„Hast du auch einen Namen?“, fragte er leicht verärgert.
„Kathi“, antwortete sie einsilbig.
Der Mann verlangsamte das Tempo und hielt das Auto vor einer Weggabelung an. Das Navi schwieg beharrlich. „Links oder rechts? Was meinst du, Kathi?“
„Links“, kam es wie aus der Pistole geschossen. Simon vertraute der weiblichen Intuition und nahm den linken Weg. Der Zustand der Fahrbahn verschlechterte sich jedoch zusehends. Nach einigen Kilometern ging sie in tiefe Spurrillen über und endete schließlich an einer riesigen Lichtung mit einem Hochstand am gegenüberliegenden Waldrand.
„Bei der nächsten Möglichkeit rechts halten“, meldete sich die elektronische Frauenstimme plötzlich zu Wort, während der Wagen ausrollte.
Kathi prustete los und schlug sich gackernd auf die Schenkel. Simon runzelte erst verärgert die Stirn, was ihr Lachen noch verstärkte, und stimmte endlich in das Gelächter ein. Er stieg aus und holte aus dem Kofferraum zwei kleine Flaschen Mineralwasser, ging wieder nach vorne und reichte der Anhalterin eine davon durch das Beifahrerfenster hinein.
„Danke!“ Beide nahmen einen kräftigen Schluck.
Kathi kletterte ebenfalls aus dem Wagen. „Schöne Scheiße“, schimpfte sie und blinzelte gegen das Sonnenlicht.
„Ich geh mal zu dem Hochstand dort drüben.“ Simon zeigte mit dem ausgestreckten Arm auf den hölzernen Aussichtsturm. „Vielleicht kann man von dort oben etwas erkennen.“ Er schnappte sich den Fotoapparat von der Rückbank und stakste durch das hüfthohe Gras davon.
„Warten Sie! Ich komme mit!“ Sie spurtete hinterher.
Die beiden überquerten nebeneinander die Lichtung und zogen zwei parallele Spuren durch die Naturwiese.
„Da ist man mit der modernsten Technik ausgestattet, und sie hilft einem kein bisschen weiter, wenn man sie einmal benötigt“, seufzte Simon, der nun bereute, dass er nicht auf der Landstraße geblieben war.
„Was meinen Sie? Das Navi?“
„Auch! Bei meinem Handy ist der Akku leer und mein LAP-Top nützt mir auch nichts. Ich könnte gerade mal jemandem eine E-Mail schreiben, das wär´s auch schon. Sitze in der Wildnis fest, … weiß nicht wo, … habe eine junge Dame aufgegabelt, … irren nun gemeinsam durch die Wälder. Ich bezweifle jedoch, dass diese Mail irgendwo ankommen würde.“
Kathi kicherte und fächerte sich mit der Hand Luft zu.
„Hast du eigentlich ein Handy dabei?“, fragte er überflüssigerweise, denn er hatte keine Handtasche an ihr bemerkt. Sie schüttelte ihren Kopf, wobei ihre feinen Haare in alle Richtungen flogen.
„Dummerweise habe ich es zusammen mit meiner Handtasche in Charlys Auto vergessen, als ich ausgestiegen bin. Ich hab nur das, was ich momentan am Leib trage. Ich war so wütend, dass ich nicht daran gedacht habe, irgendetwas mitzunehmen. Ich wollte nur schnell weg. Außerdem habe ich damit gerechnet, dass er mir nachfahren würde, um sich bei mir zu entschuldigen. Ich hätte nie gedacht, dass Charly mich tatsächlich mitten im Nirgendwo im Stich lässt.“
Ihrer aufgebrachten Stimmlage entnahm er, dass sie noch immer zornig auf ihre Freunde war.
„Tja! Dann sind wir tatsächlich auf uns selbst angewiesen, wenn wir hier herauskommen wollen“, stellte er verbittert fest und schirmte sein Gesicht vor der tief stehenden Sonne mit einer Hand ab.
Kathi blickte zu ihm hinüber und sah den Fotoapparat vor seiner Brust baumeln.
„Sie haben da eine tolle Kamera. Sind Sie Fotograf?“
Simon umfasste das Objektiv liebevoll und schüttelte seinen Kopf. „Ist nur ein altes Hobby von mir. Ich mache hin und wieder Landschaftsaufnahmen, fotografiere alte Gebäude, Tiere, Sonnenuntergänge … und solches Zeug.“
Sie hatten den Hochstand fast erreicht.
Kathi beschleunigte ihre Schritte und hopste leichtfüßig auf das Ziel zu.
„Haben Sie schon mal Leute fotografiert?“
„Leute?“, fragte er und warf ihr einen skeptischen Blick zu. „Wie meinst du das? Sicher sind da manchmal auch Menschen drauf.“
„Na ja, richtige Porträts und … Nacktaufnahmen, … so was in der Art.“
Nacktaufnahmen! Simon wirkte schockiert. „Du hast vielleicht Ideen“, lachte er. „Nacktaufnahmen!“
„Warum nicht? Das stelle ich mir spannend vor. Ein schöner Frauenkörper in der Landschaft, … oder im Licht der untergehenden Sonne.“
„Wer sollte so etwas machen?“
„Mann, die ganze Welt dreht sich doch nur um das eine; Sex!“, rief sie fröhlich und langte nach der Holzleiter.
„Ich meine nur … eine Frau, … wer sollte sich dafür zur Verfügung stellen …als Model?“ Dieses Thema behagte ihm gar nicht.
Kathi kletterte flink einige Sprossen hoch und grinste frech zu dem Mann hinunter. „Man muss nur mal fragen, dann findet sich schon etwas. Machen Sie doch mal ein Foto von mir!“
Simon blickte stirnrunzelnd zu ihr hoch. „Da würde man dein Höschen auf dem Bild sehen“, wies er sie auf die Sichtbarkeit ihrer Unterwäsche hin.
„Was?“
„Deine Unterhose!“
„Mensch! Darum geht es ja gerade! Los machen Sie schon! Seien Sie nicht so verklemmt! Schießen sie ein paar Fotos!“
Kathi registrierte, wie der Mann unter ihr mit den Achseln zuckte, sie mit der Linse ins Visier nahm und ein paar Aufnahmen machte. Sie warf sich in Pose, lüftete provokant ihr Kleid und kicherte dabei albern. „Na also. War gar nicht so schwer.“
„So eine wie du ist mir noch nicht untergekommen“, wunderte sich der Hobbyfotograf und folgte ihr, während sie leichtfüßig den Rest der Leiter hoch kletterte, um in der Kabine auf ihn zu warten.
Simon wuchtete seinen Körper ins Innere und sank erschöpft auf die Holzbank. „Und? Kann man etwas erkennen?“, fragte er Kathi, die die Umgebung bereits genauestens unter die Lupe nahm.
„Ja, aber leider nur Bäume. Wald, Wald, Wald, soweit das Auge reicht.“
Simon fischte eine Zigarettenpackung aus seiner Hemdtasche und zündete sich eine an.
„Haben Sie für mich auch eine Kippe?“ Kathi leckte sich erwartungsvoll über die Lippen.
Simon grinste zahnreich. „Bist du denn schon alt genug fürs Rauchen?“
„Wenn es fürs Arschfotografieren reicht, dann fürs Rauchen erst recht“, konterte sie frech.
Simon lenkte ein und reichte ihr eine Zigarette. Dann gab er ihr Feuer.
„Sag mal, warum trägst du eigentlich eine hellgrüne Unterhose? Die passt ja gar nicht zu deinem Kleid.“ Er beobachtet Kathi, wie sie an der Zigarette zog und die Augen verdrehte. Dann blies sie den Rauch aus dem Mund.
„Das ist ja der Sinn der Sache. Heutzutage gehört die Unterwäsche zum Outfit dazu. Man versteckt sie nicht mehr. Sie soll ins Auge stechen, damit jeder gleich sieht, was man darunter anhat … Außerdem nennt man das, was ich trage, eine Hipster-Panty.“
„Hipster-Panty? Was ist das eigentlich?“ Er betrat soeben Neuland.
„Den Namen hat sie durch ihren besonderen Schnitt, weil sie besonders tief auf der Hüfte sitzt und wie ein breites Band aussieht“, erklärte sie anschaulich.
„Aha.“ Simon wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Beide zogen an ihren Glimmstängeln. Der Mann musste an das denken, was sie gesagt hatte. Das Bild ihrer Unterwäsche erschien wie von selbst in seinem Kopf. Er wischte es wieder beiseite und richtete den Blick aus Verlegenheit auf den Horizont. Ihre aufgedrehte, direkte Art machte ihn verlegen. Die Sonne stand schon relativ niedrig, deshalb sah er rasch auf seine Armbanduhr. „Es wird bald dunkel. Wir haben höchstens noch eine Stunde Licht, dann wird es finster wie im Keller meiner Großmutter.“
Kathi lachte über den sonderbaren Vergleich. Sie nahmen einen letzten Zug von den Zigaretten und dämpften diese sorgfältig aus, um nicht versehentlich ein Flammeninferno auszulösen. Dann stiegen sie die Leiter wieder hinab und überquerten die Wiese auf dem gleichen Weg, den sie gekommen waren. Die Grillen zirpten lautstark um die Wette und über ihren Köpfen zogen Vogelschwärme auf der Suche nach einem geeigneten Schlafplatz lautlos vorüber. Das Gras raschelte leise im Wind, während sich die Halme im Takt wiegten.
„Eigentlich ist es ganz idyllisch hier!“, rief sie vergnügt. Kathi hüpfte ein Stück abseits verträumt durch die Wiese. Die Wildblumen und Gräser um sie herum blühten in den schönsten Farben und die Wolken im Westen hatten eine orangerote Färbung angenommen. Sie bildeten einen atemberaubenden Kontrast zu dem türkisfarbenen Himmel. Die Strahlen der untergehenden Sonne überzogen die Landschaft mit einem goldenen Schimmer und weichten alle Konturen auf. Simon richtete instinktiv das Objektiv seiner Kamera auf das Mädchen und machte ein paar Aufnahmen. Dabei achtete er darauf, dass er die Stimmung, so gut es ging, einfing. Diese Art von Fotos sagte ihm bei Weitem mehr zu, als irgendwelche pseudo-erotischen Aufnahmen.
Als sie den Wagen erreicht hatten, stiegen sie ein. Simon startete den Motor, wendete umständlich und fuhr denselben Weg wieder zurück. An der Abzweigung nahm er die andere Möglichkeit. Der Wald schien immer dichter an die Schotterpiste heranzurücken. Simon schaltete das Licht ein.
„Bitte wenden“, verkündete das Navi plötzlich völlig unmotiviert. Simon schaltete es ab.
„Alles meine Schuld“, seufzte Kathi. „Wenn Sie mich nicht mitgenommen hätten, dann wären Sie vermutlich schon längst hier raus.“
„Unsinn“, schnarrte er. „Ich hätte von Anfang an auf der Landstraße bleiben sollen, allerdings hätte ich dich dann nie getroffen und du würdest noch immer alleine und zu Fuß durch die Au irren.“
Sie gelangten zu einer weiteren Kreuzung. „Keine Wegweiser! Das ist typisch“, mokierte sich das Mädchen.
Simon entschied sich für den geraden Weg und gab Gas. Es wurde rasch dunkler und die Straße immer unwegsamer, bis sie in eine Graspiste mit tiefen Spurrillen überging. Mittlerweile waren sie nur noch im Schritttempo unterwegs. „Das hat keinen Sinn“, seufzte er und wendete den Kombi abermals. „Am besten ich fahre den ganzen Weg zurück.“
„Ich frag mich nur, wie Charly sich hier zurechtfinden kann? Er ist doch alles andere als ein Naturfreak.“ Kathi betätigte den elektrischen Fensterheber, um die Scheibe hochzufahren. Sie ließ nur einen kleinen Spalt offen. Simon folgte ihrem Beispiel. Die Luft hatte in der Zwischenzeit empfindlich abgekühlt.
„Mich wundert nur, dass wir in der ganzen Zeit keiner einzigen Menschenseele begegnet sind“, sagte Simon nach einer Weile. „Das ist doch recht merkwürdig.“
„Mich wundert das überhaupt nicht. Bei dem schönen Wetter waren doch alle baden.“ Seine Beifahrerin fuchtelte wild gestikulierend mit den Armen durch die Luft. „Keine Ahnung, warum dieser Vollidiot mich und diese hinterhältige Fotze in diese Scheißgegend geschleift hat!“
Simon schwieg dazu. Er dachte, dass es besser wäre, dieses Thema nicht unnötig zu vertiefen und nahm sich vor, es in Zukunft gänzlich zu vermeiden. Es regte seine Beifahrerin offensichtlich auf. Verständlicherweise. Doch diese negativen Gefühlsausbrüche wollten so gar nicht zu der Engelshaften Erscheinung passen. Er dachte dabei an die Unbekümmertheit, Leichtigkeit und Fröhlichkeit, die sie ausgestrahlt hatte, als er die Fotos von ihr gemacht hatte.
„Da vorne haben Sie mich aufgelesen“, stellte sie mit ausgestrecktem Zeigefinger fest und riss ihn aus seinen Gedanken.
Simon inspizierte die Umgebung. Bei hellem Tageslicht sah alles anders aus, als bei dem Zwielicht, das nun herrschte. Er konnte beim besten Willen nicht bestätigen, dass sie Recht hatte.
„Wenn du meinst. Für mich sieht hier alles gleich aus.“
An der folgenden Weggabelung hielt er sich rechts. Ein fataler Fehler, wie sich später herausstellen sollte. Hätte er sich für die andere Möglichkeit entschieden, wären sie schon bald aus dem Auwald herausgekommen. Sie befanden sich weniger als drei Kilometer von der Landstraße entfernt, die sie nach Hause gebracht hätte. So steuerten sie wieder tiefer in die Wildnis hinein. Das Tageslicht bestand nur noch aus einem hellen Streifen in den Baumwipfeln, als Kathi plötzlich einen gellenden Schrei ausstieß.
„Was ist passiert?“, erkundigte sich Simon, der binnen einer Sekunde um Jahre gealtert war.
„Das war sein Auto!“, rief sie. „Charlys Honda!“
„Wo?“, fragte er und sah in den Rückspiegel. Er hatte nichts gesehen.
„Wir sind gerade daran vorbeigefahren.“
Der Mann legte eine Vollbremsung hin, sodass der Wagen im Nu von einer dichten Staubwolke eingehüllt wurde. „Bist du sicher?“ Er sah in Kathis schreckensbleiches Gesicht.
„Ja“, bekräftigte diese. „Ein rotes Auto … im Wald, gleich dahinten.“ Sie deutete über ihre Schulter in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Simon legte den Rückwärtsgang ein und setze ein Stück zurück. Dann konnte er zwischen den Sträuchern das Heck eines roten Autos erkennen.
„Tatsächlich!“, rief er erstaunt. „Wie konnte ich das nur übersehen?“ Die Rücklichter brannten noch und tauchten das Gebüsch in der näheren Umgebung in ein gespenstisches Rot.
Die beiden rissen die Autotüren des Volvos auf und hasteten zu dem, größtenteils von der Vegetation verdeckten, Unglückswagen. Simon umrundete das sperrige Dickicht und näherte sich von vorne. Die Schnauze des Gefährts hatte sich in einen dicken Baumstamm gebohrt. Die Kühlerhaube wölbte sich in steilem Winkel nach oben und die Frontscheibe war geborsten. Er kämpfte sich auf der Beifahrerseite durch das dichte Geäst und blickte durch die offenstehende Tür in eine leere Fahrgastzelle. Gegenüber, an der Fahrerseite, tauchte Kathis bleiches Gesicht auf.
„Charly? … Jennifer? …“, rief sie halblaut.
„Keiner mehr da. Wahrscheinlich sind sie zu Fuß weiter gegangen“, versuchte er sie zu beruhigen. „Ich hol mal eine Taschenlampe. Man kann hier kaum etwas erkennen.“
Mit diesen Worten eilte er zu seinem Wagen zurück, stolperte auf dem Weg dorthin über Steine und Wurzeln, stöberte kurz im Handschuhfach herum und bahnte sich einen Weg durch die allmählich dunkler werdende Umgebung zum Unfallort zurück.
Kathi sah sich inzwischen ängstlich nach allen Seiten um. Die Nacht und ihre bedrohlichen Schatten drängten aus dem Wald immer näher heran. „Beeilen Sie sich!“
Kurze Zeit darauf hörte sie ein Rascheln und ein Lichtkegel fiel in den Innenraum des Wracks. Die leeren Schalensitze waren mit Blut und Glassplittern übersät. Dem Mädchen lief eine zarte Gänsehaut über den Rücken. „Sie sind verletzt“, stellte sie schockiert fest.
„Kein Wunder, … so, wie sich das Auto um den Baum gewickelt hat.“
„Wir müssen sie suchen.“ Sie zitterte am ganzen Körper.
„Wo? Wo sollen wir suchen?“ Simon fuhr sich mit der freien Hand über die glänzende Glatze und ließ den Lichtkegel über die nähere Umgebung streifen. „Wir wissen ja nicht einmal, wo wir selbst uns befinden.“
„Sie können ja nicht weit gekommen sein, vielleicht gibt es irgendwelche Spuren, denen wir folgen können“, erwiderte sie verzagt und blickte in den dunklen Wald.
„Wir haben selbst ziemlich viel aufgewühlt und alle Spuren rund um den Wagen zerstört. Wenn, dann müssen wir einen größeren Radius um den Wagen absuchen. Bleib, wo du bist, ich komme zu dir rüber.“
Simon ging langsam im Halbkreis um den Baum herum und untersuchte den Waldboden nach verwertbaren Hinweisen. Unterdessen rief Kathi immer wieder die Namen der beiden Vermissten in den finsteren Wald hinein.
„Charliii! … Jenniii!“
Die Bäume verschluckten ihre Schreie, und sie hatte das Gefühl, diese würden nur wenige Meter weit in den Wald vordringen, bevor sie auf wundersame Weise verhallten.
“Nichts zu sehen“, meldete Simon, als er zu dem Mädchen stieß. „Es ist auch schon viel zu dunkel, um etwas Genaueres zu erkennen.“
Kathi hatte die Arme um ihren Oberkörper geschlungen und rieb mit den Händen über ihre Oberarme. „Also, wenn ich einen Unfall hätte und verletzt wäre, dann würde ich mich sowieso zur Straße schleppen und nicht in den Wald“, lautete ihre Analyse.
„Okay, dann schauen wir dort mal nach“, entschied Simon. „Auf dem Schotter müsste man eher Blutstropfen erkennen können, als hier im feuchten Laub.“
Er beugte sich in die Fahrgastzelle des Unglückswagens und drehte den Zündschlüssel, woraufhin die Rücklichter erloschen. Danach gingen sie zur Straße zurück und suchten den Boden nach Hinweisen ab.
„Also ich kann nichts sehen, und Sie?“, fragte Kathi nach einer Weile entmutigt.
„Nein, ich leider auch nicht.“
„Was machen wir jetzt?“ Sie sah ihn mit großen Augen an.
„Ich schlage vor, wir setzten uns erst einmal in den Wagen, da ist es wärmer.“ Simon öffnete die Beifahrertür.
„Gute Idee“, pflichtete sie ihm bei und beförderte ihren Hintern auf den Beifahrersitz.
Er ging um das Fahrzeug herum und holte aus dem Kofferraum eine alte, zerschlissene Decke. „Hier, sie sieht nicht besonders gut aus, aber sie ist sauber“, sagte er, als er auf seiner Seite einstieg und Kathi den Wärmespender in den Schoß warf.
„Danke“, murmelte das Mädchen und faltete das alte Ding auf. „Besser als nichts.“ Sie legte die Decke über ihre Schultern und blickte in die Dunkelheit hinaus. „Wie geht es jetzt weiter?“
„So, wie der Wagen von der Straße abgekommen ist, waren deine Freunde in diese Richtung unterwegs“, teilte Simon seine Überlegungen mit. Sein ausgestreckter Finger zeigte geradeaus. „Deshalb werden wir es auch da lang probieren. Vielleicht führt dieser Weg hinaus aus diesem Urwald, oder wir stoßen unterwegs auf deine beiden Freunde.“
Kathi nickte. Das klang in ihren Ohren vernünftig. „Sie haben Recht, aber als Freunde würde ich die zwei im Augenblick nicht bezeichnen.“
Simon startete den Wagen und lenkte ihn vorsichtig die Fahrbahn entlang. Der Wald wurde nach einem Kilometer wieder einmal dichter, die Straße schmaler und ihr Zustand schlechter. Das kam ihnen bekannt vor. Das Fernlicht drang nicht in die üppige Vegetation vor, sondern wurde von dem dichten Blätterwerk am Wegrand reflektiert. Simon blendete es ab und drosselte das Tempo. Sie kamen im Schritttempo an einer Futterkrippe für Waldtiere vorbei. Plötzlich huschte ein Reh vor ihnen über den Weg. Simon trat auf die Bremse. Es folgten noch weitere Tiere einer ganzen Sippe. Ihre geweiteten Augen funkelten im fahlen Schein der Halogenscheinwerfer gespenstisch. Die Wildtiere galoppierten lautlos in den dichten Wald hinein, der sie bald darauf verschluckt hatte, als wären sie nie hier gewesen.
„Unheimlich“, flüsterte Kathi. Es lief ihr kalt den Rücken und an den Armen herunter.
„Finde ich auch.“ Sie sahen einander an, konnten jedoch nur Schemen erkennen. „Der Weg endet wieder in einer Sackgasse“, sprach er ihre Befürchtungen aus.
Er setzte die Fahrt ohne große Hoffnung fort. Die Spurrillen wurden tiefer und sie gelangten an eine weitere Lichtung, wo der Sternenhimmel sich plötzlich über ihnen auftat. Simon lenkte den Wagen behutsam über die grasbewachsene Ebene. Die hohen Halme wurden von der Wagenschnauze niedergedrückt. Man sah kaum, wie es einen Meter dahinter weiterging. Der Wagen schaukelte wegen der Unebenheiten, und sie wurden ordentlich durchgerüttelt.
„Wo fahren Sie hin?“, rief Kathi beunruhigt.
„Es muss ja irgendwo weiter gehen.“ Simon starrte verbissen zur Frontscheibe hinaus. „Ich hab es satt, jedes Mal wieder umzudrehen.“
Plötzlich spürten sie einen heftigen Ruck, der die beiden fast aus den Sitzen gerissen hätte.
„Was war das?“, kreischte Kathi.
„Kein Grund zur Panik. Wir sitzen nur auf.“
„Was bedeutet das?“ Ihre Stimme hatte eine hysterische Färbung angenommen.
„Wir stecken fest.“
„Kommen wir da wieder raus?“
Anstelle einer Antwort gab Simon vorsichtig Gas und bewegte das Lenkrad, der Wagen ruckelte nur einmal ganz kurz, dann drehten die Antriebsräder durch.
„Heute wohl nicht mehr. Es hat, schätze ich, keinen Sinn mehr. Selbst wenn ich die Karre wieder flottkriege, würden wir in der Dunkelheit niemals hier herausfinden“, seufzte er resigniert.
Er stellte die Zündung ab und warf einen entmutigten Blick auf seine Beifahrerin. Kathi hatte die Decke bis zum Kinn hochgezogen und spähte skeptisch aus dem Fenster. „Na super“, murmelte sie halblaut. „Heißt dass; ich muss die Nacht hier am Arsch der Welt verbringen?“
„Wenn du nicht zu Fuß weiterwandern willst, … dann ja.“
Simon schaltete das Licht aus. Es wurde finster um sie herum. Sie schwiegen und lauschten dem Knistern des abkühlenden Motors.
„Wir haben meine Handtasche im Wrack vergessen“, meldete Kathi sich nach einer Weile zu Wort. „Wie konnte ich nur so blöd sein?“
„Ich hätte auch daran denken können. Wir holen sie morgen“, schlug er vor.
„Ich muss pinkeln“, sagte sie.
„Ich auch.“
Beide stiegen aus. Kathi hielt die Taschenlampe und leuchtete dem Mann den Weg um den Wagen herum aus, während sie auf ihrer Seite auf ihn wartete. Dann staksten sie gemeinsam durch das hohe Gras und Unkraut zu einem mannshohen Strauch in der Nähe. In der Nacht hatte dieser Ort nichts Idyllisches mehr an sich, stellte Kathi fest.
„Bleiben Sie ja in meiner Nähe“, forderte sie ihn auf, während sie ihren Kopf ängstlich nach allen Richtungen wendete.
„Klar doch“, versprach Simon und öffnete seinen Reißverschluss. Kathi ging ein kleines Stück um den Busch herum und legte die Taschenlampe vor sich auf den Boden. Sie hatte dem Mann den Rücken zugekehrt und wähnte sich außerhalb seines Sichtbereichs. Als sie sich umdrehte, konnte sie nur ihre nächste Umgebung wahrnehmen.
Simon sah ihr nach und beobachtete, wie sie den grünen Slip bis zu den Knien hinabstreifte und das Kleidchen an der Hüfte zusammenraffte. Ihre Konturen zeichneten sich in dem Lichtkegel deutlich ab, und er konnte mehr erkennen, als ihr wahrscheinlich lieb war. Plötzlich vernahm er den Ruf eines Waldkauzes. Er wandte den Kopf in die Richtung, aus dem er den Tierlaut vernommen hatte, und starrte in die Dunkelheit. Er dachte über die seltsamen Verstrickungen nach, die ihn und seine neue Bekanntschaft hierher geführt hatten.
Wir geben schon ein seltsames Paar ab.
Kathi ließ den Lichtkegel durch die Nacht gleiten, bis er davon erfasst wurde. Das verscheuchte jäh seine Gedanken.
„Haben Sie geguckt?“, fragte sie eher belustigt als ärgerlich, während sie sich auf ihn zu bewegte.
Simon bedeckte seine Augen mit einem Unterarm. „Kathi, du blendest mich, … richte das Licht bitte nach unten.“ Er wich ihrer Frage aus. Es war ihm peinlich, dass sie ihn ertappt hatte.
„Na wenn schon.“ Sie kicherte. „Viel können Sie ohnehin nicht gesehen haben.“
Beim Auto angekommen, holte sie die Decke heraus und schaltete die Taschenlampe aus. „Wahnsinn, wie viele Sterne man von hier aus sehen kann“, stelle sie erstaunt fest und wickelte das zerschlissene Teil um ihren Oberkörper.
Simon kramte die Zigaretten aus der Brusttasche seines Hemdes und bot Kathi eine an. Sie lehnten sich mit dem Rücken gegen das Auto, legten ihre Köpfe in den Nacken und schauten in den wolkenlosen Nachthimmel. So standen sie eine Weile schweigend und rauchend beieinander. Simon warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Die Zeiger standen auf Viertel nach zehn. Er wunderte sich, wie schnell die Zeit verflogen war.
In der Nähe war ein abgehacktes, heiseres Bellen zu hören. „Ein Fuchs“, flüsterte das Mädchen.
„Ich hab ihn auch gehört.“
Der Mond war über den Baumwipfeln aufgegangen und streute sein silbriges Leuchten über die einsame Lichtung. Simon ging zur Heckklappe und öffnete diese. Dann kroch er hinein und klappte die Rückbank um.
„Was machen Sie da?“, fragte Kathi, die nun ebenfalls zum Heck gekommen war.
„Ich richte uns einen Schlafplatz für die Nacht ein. Du kannst natürlich auch vorne auf dem Sitz schlafen, wenn dir das lieber ist.“
Sie überwachte seine Vorbereitungen skeptisch. Die gepolsterte Laptoptasche und einen kleinen weichen Rucksack, in dem er unter anderem einen Regenponcho aufbewahrte, richtete er als Polsterersatz her. Dann streckte er sich auf der improvisierten Liegestatt aus und verschränkte seine Hände hinter dem Nacken.
Kathi stand unschlüssig hinter dem Wagen und schien zu überlegen. Er sah die Silhouette ihres Oberkörpers vor dem Nachthimmel, der Rest von ihr verschmolz mit den Bäumen. Schließlich beugte sie sich herein, kroch zu ihm auf die Ladefläche und bettete ihren Kopf auf die Laptoptasche. Simon zog die Heckklappe zu. Dann kurbelte er eines der Rückfenster halb herunter, bevor er sich wieder, mit hinter dem Nacken verschränkten Händen, hinlegte.
„Hätte nicht gedacht, dass ich mich hier ganz ausstrecken kann“, schwärmte Kathi und strampelte die Decke nach unten, bis nur noch ihre Sneakers herausguckten.
„Das ist ein Volvo Kombi, die Ladefläche erreicht bei umgelegter Rückbank eine Länge von einem Meter achtzig.“
„Haben Sie eigentlich Familie?“, fragte sie.
„Nein, ich lebe alleine.“
„Wozu brauchen Sie dann so ein großes Auto?“
„Ich habe einen Garten und transportiere manchmal säckeweise Erde und Rindenmulch oder andere Dinge, da finde ich es praktisch, wenn man den Kofferraumdeckel nicht ständig offen lassen muss.“
„Aha.“ Kathi blickte aus dem Seitenfenster und dachte nach. „Warum haben Sie keine Familie, … sind Sie vielleicht schwul?“, setzte sie ihr Verhör fort.
Simon lachte heiser. „Nein, bestimmt nicht. Ich hatte schon etwas mit Frauen, aber immer nur kürzere Beziehungen. Schätze es war nie die Richtige dabei. … Nun ja, jetzt ist wohl auch damit Schluss.“
„Warum?“, hakte sie nach.
„Das letzte Mal ist schon so lange her, dass ich mich gar nicht mehr daran erinnern kann.“
Kathi fand, dass seine Stimme irgendwie traurig klang. Sie wollte ihn aufheitern. Deshalb drehte sie sich zu ihm und legte ihren Kopf auf seine breite Brust.
„Ich finde, dass Sie ein prima Kerl sind“, sagte sie.
„Danke.“ Er nickte, was sie jedoch nicht sehen konnte. „Du kannst mich übrigens duzen. Das Ewige Sie macht mich nur noch älter“, bot er ihr an.
„Okay, mach ich, … Simon“ Sie seufzte leise und rieb ihre Wange an seinem Hemd.
Von draußen hörten sie durch das Zirpen der Grillen wieder den Fuchs bellen. Wind kam auf und strich leise pfeifend um den Wagen. Kathi hörte Simons Herz in der breiten Brust schlagen.
„Danke übrigens, dass du mich mitgenommen hast.“
„Gern geschehen. Das hätte jeder an meiner Stelle getan.“ Er schloss sie in seine Arme.
„Charly und Jenny haben mich sitzen lassen“, entgegnete sie im bittereren Tonfall.
„Vielleicht hatten sie den Unfall, während sie nach dir gesucht haben.“
„Schon möglich, aber du warst derjenige, der mich mitgenommen hat und ohne dich würde ich jetzt da draußen alleine herumirren.“
Sie stellte sich vor, wie sie halb tot vor Angst und Verzweiflung im dunklen Wald unterwegs wäre und in ihrem dünnen Kleidchen frieren würde. Das jagte ihr einen Schauer durch den Körper.
„Danke“, sagte sie noch einmal, hob ihren Kopf und küsste ihn auf die Wange.
Simon war perplex. Dann fiel ihm etwas ein. Er setzte sich auf, kramte in der Tasche und holte einen Flachmann heraus. Diesen reichte er dem Mädchen mit den Worten „Halte mal“ weiter und lehnte sich zwischen den Sitzen nach vorne. Er drückte den Einschaltknopf am Autoradio und aus den Lautsprechern drangen die letzten Takte eines Musikstücks.
„Wow!“, rief sie entzückt. „Wir feiern eine Party, mitten in der Pampa!“
„Zu einer Party gehört auch Musik“, erklärte er und grinste. Kathi konnte nur seine Zähne und Augen blitzen sehen, was ihn für den Moment eines Lidschlags unheimlich erscheinen ließ. Wieder lief es ihr kalt den Rücken runter.
Der Radiosprecher kündigte als nächstes Lied einen Hörerwunsch an, der ihn soeben via E-Mail erreicht hatte.
„Also spielen wir für euch, Michaela und Lukas, die ihr eure Ferien auf dem Campingplatz am Weißensee verbringt, Robbie Williams mit Jesus in a Camper Van.“
Das Lied flutete in angenehmer Lautstärke durch das Wageninnere. Kathi kicherte. „Der Titel passt irgendwie.“ Sie schraubte den kleinen Verschluss von dem Metallbehältnis.
„Leider müssen wir auf Gläser verzichten“, sagte Simon und beobachtete, wie das Mädchen einen Schluck nahm, bevor es den Flachmann an ihn weiterreichte.
Sie verzog das Gesicht. „Boah, … das ist echt starkes Zeug. Auf uns Simon!“, rief sie ausgelassen.
„Auf uns“, stimmte er ein und nippte ebenfalls an dem Schnaps.
„Die spontanen Feten sind oft die besten“, meinte Kathi. Der Flachmann ging ein paar Mal hin und her, bis er leer war. Die Wärme des Alkohols breitete sich in ihrem ganzen Körper aus.
Simon schüttelte das leere Gefäß. „Finito!“ Er verstaute es wieder in der Tasche und drehte die Musik etwas leiser. Dann legten sich beide wieder hin und das Mädchen kuschelte sich wie vorher an ihn.
„Macht es dir eh nichts aus, wenn ich mich so an dich drücke?“, fragte sie, wobei sie ein wenig lallte. Sie wurde von einem leichten Schwindel erfasst.
„Nein, ist schon okay“, brummte er und streichelte ihre Schulter.
„Dass du mir diese Situation ja nicht ausnutzt“, flüsterte sie an seiner Brust und seufzte wohlig.
Er konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. „Mach dir keine Sorgen, Mädchen.“ Simon wischte mit seiner Pranke sanft über ihren Rücken.
Im Autoradio lief gerade You´re Beautiful, von James Blunt an.
„Das passt auch“, bemerkte er mit schwerer Zunge.
„Was meinst du?“
„Das Lied … passt zu dir. Du bist auch wunderschön.“
Kathi seufzte.
„Wie alt bist du denn eigentlich?“, erkundigte sich Simon mit leiser Stimme.
„Siebzehn“, antwortete sie ebenso leise. Dann schwiegen sie eine Weile und lauschten der Musik. Im Radio wurde James Blunt von den Black Eyed Peas mit Good Night abgelöst. Auch dieser Titel traf den Nagel auf den Kopf.
Kathi bildete sich ein, ein Geräusch von außerhalb gehört zu haben, stützte sich auf den Ellbogen und sah aus dem Wagen hinaus in die Dunkelheit. Nebelschwaden lösten sich träge vom Boden und begannen ihre kleine Festung allmählich einzukreisen.
„Ist was nicht in Ordnung?“, fragte Simon mit müder Stimme und gähnte herzhaft.
„Nein, alles Okay. Das habe ich mir wahrscheinlich nur eingebildet.“ Sie legte sich wieder neben ihn, zupfte die Decke zurecht und rückte dicht an ihn heran, denn es fröstelte sie und sein Körper strahlte eine angenehme Wärme aus. Sie konnte die große Hand an der Rundung ihrer Hüfte spüren. Seine Umarmung bewirkte, dass sie sich sicher fühlte.
Aus den Lautsprechern drang die melancholische Stimme von Birdy mit Skinny Love. „Gute Nacht, Simon.“
„Mmh … Nacht", brummte er und drückte sie liebevoll.