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3 Franka und Karlo, 29 Juni

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„Karlo! Hast du das gehört?“

„Was ist denn jetzt schon wieder, Franka?“ Er warf einen Salatkopf in den mitgebrachten Korb.

Sie waren nach der Begegnung mit der Suchmannschaft Hals über Kopf aufgebrochen, um ein paar Kilometer entfernt, in der Nähe eines Kaffs, das sich Franzendorf nannte, ein geschütztes Plätzchen für den Camper zu suchen. Ausschlaggebend für die Platzwahl war der Umstand, dass sich die Felder einer Gärtnerei in unmittelbarer Nachbarschaft befanden, wo sie sich an einem Sonntag wie diesem ungeniert an den Feldfrüchten bedienen konnten, ohne das Risiko einzugehen, von Feldarbeitern beim Diebstahl erwischt zu werden.

„Das Rascheln! Es kam aus dem Wald.“

Er hielt ihr den Korb hin und lachte. „Du siehst Gespenster, Franka. Wahrscheinlich waren das nur Rehe. Die kommen doch jedes Mal, sobald es dämmert. Komm, wir gehen zurück. Wir haben genug Grünzeug gesammelt. Damit kommen wir locker eine Woche aus.“

Franka legte die erbeuteten Zwiebeln und Möhren hinein und sah sich um, aber außer ihnen schien niemand in diesem Teil der Welt unterwegs zu sein. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne verliehen der Landschaft ringsum einen goldenen Schimmer, der zu jedem anderen Zeitpunkt romantische Gefühle in ihr geweckt hätte.

Karlo bemerkte ihre Angespanntheit, während sie dem Waldrand folgten. „Sei doch mal locker. Die Bullen haben sich seit ein paar Tagen nicht mehr blicken lassen.“

„Denkst du, sie haben das Mädchen gefunden?“

Er legte seinen freien Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. „Ich glaub schon, aber ich fürchte … nur mehr ihre Leiche.“

„Wieso denkst du das?“ Sie war stehen geblieben und sah ihn geschockt an, obwohl ihre Gedanken dieselben gewesen waren. Sie hatte gehofft, er würde etwas anderes sagen, und sei es nur, um sie zu beruhigen.

Sein Blick schweifte an ihr vorbei, als stünde die Antwort auf einem der Baumstämme in die Rinde geritzt, sodass er diese nur noch davon abzulesen brauchte.

„Sie haben drei Tage nach ihr gesucht. Du erinnerst dich sicher daran, dass wir immer wieder auf Suchtrupps gestoßen sind. Plötzlich waren sie weg; von einem Tag auf den anderen. Überleg mal, Franka. Drei Tage! Selbst wenn sich jemand in dieser Au verirren sollte, käme er irgendwann an einem Ende heraus, aber nach so langer Zeit …“

Er ließ den Satz unvollendet. Sie bemerkte, wie er sich versteifte.

„Was ist los? Hast du etwas gesehen?“ Sie drehte sich zum Wald um.

„Verdammt, ich glaub, ich sehe schon Gespenster. Komm, lass uns zum Camper zurückgehen.“ Er nahm sie bei der Hand und zerrte daran.

„Karlo! Sag schon! Was ist los?“ Trotz der Wärme spürte sie einen Kälteschauer, der durch ihren ganzen Körper lief. „Du machst mir Angst!“

Er ging schneller und sah dabei immer wieder in den Wald hinein. „Es war nichts! Das ganze Gerede von dem verschwundenen Mädchen macht mich bloß verrückt.“

Franka stolperte neben ihm her. „Und warum hast du es dann plötzlich so eilig?“ Seine Unruhe wirkte ansteckend, weshalb auch sie ihren Blick über das Dickicht streifen ließ, aber durch das Geruckel konnte sie keine Details erkennen. Sobald es ihren Augen gelungen war, einen bestimmten Punkt zu fixieren, wurde sie mit einem Ruck weitergezerrt.

Sie mussten auf einen kurzen Waldweg einbiegen, den Holzfäller angelegt hatten, um zu einer Lichtung zu gelangen, an denen sie Schlägerarbeiten verrichtet hatten. Offenbar waren die Arbeiten beendet worden und die Männer weitergezogen, bevor sie diesen Ort entdeckt hatten, denn die beiden waren nie einem von ihnen begegnet. Lediglich ein riesiger Stapel von Schnittholz und massenhaft Sägespäne, die den Boden ringsum bedeckten, zeugten noch von deren Tätigkeiten. Karlo hatte das Wohnmobil dort geparkt und gemeint, das Schlimmste, was ihnen passieren konnte, war, dass man sie auffordern würde, den Wald unverzüglich zu verlassen.

„Scheiße!“, hörte sie ihn fluchen, während er die Tür aufsperrte.

„Was ist?“

Seine Hand ruckte zur Seite. „Wir haben zwei platte Reifen.“

Franka folgte der Bewegungsrichtung und sah, was er meinte. Beide Reifen auf dieser Seite standen ohne Luft auf den Felgen. Verwirrt drängte sie hinter ihrem Freund ins Innere des Wohnmobils. „Was hat das zu bedeuten?“

Karlo drückte die Tür zu und sperrte ab. Dann setzte er den Korb ab und hetzte zu einem der großen Fenster im rückwärtigen Bereich und spähte hinaus. „Keine Ahnung. Vielleicht sind wir irgendwo drübergefahren, und ich habe das erst jetzt bemerkt.“

„Und wieso bist du dann so nervös?“

Er drehte den Kopf zu ihr. Sein Gesichtsausdruck gefiel ihr gar nicht. „Ich wollte dich nicht beunruhigen, aber ich glaube, ich habe jemandem im Wald gesehen. Er hat uns beobachtet. Erst dachte ich, dass ich mir das nur eingebildet habe, aber jetzt …“

Sie kniete sich neben ihn auf das Bett, schob den Vorhang zur Seite und schaute in den Wald hinein, in dem sich allmählich die Schatten ausbreiteten. „Warum hast du nicht gleich gesagt, was Sache ist, du Arsch!“

„Ich wollte dir keine Angst machen.“

„Die hatte ich doch schon längst. Du hast dich doch über mich lustig gemacht, als ich das Rascheln erwähnte“, erwiderte sie aufgebracht.

„Du hattest Recht, Franka. Wir hätten von Anfang an einen anderen Platz suchen sollen.“

Eine Weile blickten sie schweigend aus dem Fenster, wechselten ab und zu die Positionen, um in alle Richtungen zu spähen. „Ich habe dir gleich gesagt, dass dieser Wald unheimlich ist. Er strahlt eine negative Energie aus. Ich kann es deutlich spüren“, meinte Franka schließlich und setzte sich. „Was machen wir jetzt?“

„Entweder wir packen ein paar Sachen und laufen zu dem Dorf hinüber, oder wir rufen einen Abschleppwagen, damit er uns hier raus holt.“

Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, den Camper zu verlassen. Als sie sich vorstellte, nochmals durch den Wald gehen zu müssen, sträubten sich ihre Nackenhaare. „Versuchen wir es mit dem Abschleppdienst.“

Karlo fischte sein Prepaid-Handy aus der Hosentasche und suchte im Internet nach Autowerkstätten, die sich in der näheren Umgebung befanden. Nacheinander wählte er die Nummern durch. „Tonband, … hebt niemand ab, … geht keiner ran“, lauteten seine knappen Kommentare, während Franka an seinen Lippen klebte.

„Es ist Sonntagabend. Versuch es mit dem Pannen-Notdienst“, schlug sie vor und holte zwei Bierdosen aus dem Kühlschrank. Erst die künstliche Innenbeleuchtung verdeutlichte ihr, dass der letzte Rest des Tageslichts bald verschwinden würde.

Als jemand am anderen Ende der Leitung abhob, schilderte Karlo sein Problem. Franka reichte ihm eine geöffnete Dose und verfolgte gebannt den Gesprächsverlauf. Bald kristallisierte sich heraus, dass niemand zu ihnen kommen würde. Nicht in dieser Nacht. Karlo konnte der Gesprächspartnerin nur den ungefähren Standort verraten, und angesichts der Tatsache, dass sie mitten im Wald standen, es bereits finster wurde und sie ein Wohnmobil besaßen, wimmelte die Dame des Notdienstes ihn schlussendlich ab.

„Die Frau hat mir geraten, dass wir morgen früh die nächstgelegene Werkstatt aufsuchen sollen. Sie hat mir sogar eine Adresse rausgesucht. Es gibt eine Autowerkstatt in Franzendorf.“

Franka beobachtete, wie er im Halbdunkel Namen und Adresse auf einem Zettel notierte. „Und wenn wir die Polizei rufen?“

Er schüttelte vehement den Kopf. „Das geht nicht, Franka. Erstens dürfen wir hier nicht campieren, und zweitens riskieren wir, dass sie uns genauer überprüfen. Dann finden sie heraus, dass wir in Deutschland gesucht werden.“

Sie wusste, dass er Recht hatte, auch wenn ihr die Aussicht nicht schmeckte, eine weitere Nacht zuzuwarten. „Also können wir nur zu Fuß in dieses Kaff latschen, um nach einem Nachtquartier zu suchen, oder wir verbarrikadieren uns im Camper.“ Sie kroch zum Fenster und warf einen Blick hinaus.

Die Bäume begannen bereits mit dem dichten Buschwerk zu verschmelzen. Die Abgeschiedenheit dieses Ortes, die ihr anfangs so gut gefallen hatte, wirkte nun bedrohlich. In jedem Schatten glaubte sie, eine lauernde Gestalt zu erkennen. Sie war versucht, Licht anzuschalten, aber das hätte die Situation nur verschlimmert. Ihr war klar, dass sie dann für jeden außerhalb des Campers gut sichtbar wäre, während sie selbst noch weniger erkennen würde. Wie auf einem Präsentierteller! Sie erschauerte.

„Ich habe gerade nach einem möglichen Fremdenzimmer gegoogelt“, hörte sie Karlo sagen. „Die nächste Pension liegt etwa zehn Kilometer von hier entfernt. Wir würden trampen müssen.“

Sie drehte sich zu ihm um und sah in sein Gesicht, das vom Display angestrahlt wurde. „Wir bleiben hier, ich gehe da nicht mehr raus. Und dreh das Ding ab, man kann dich meilenweit erkennen.“

***

Lautes Poltern schreckte sie aus dem Schlaf. Obwohl sie vorgehabt hatten, die Nacht durchzuwachen, hatte sie letztendlich die Müdigkeit übermannt. Franka setzte sich auf und merkte, wie Karlo es ihr gleichtat. „Was war das?“, flüsterte sie in die absolute Dunkelheit hinein.

Plötzlich knallte etwas gegen die Außenwand. Franka entfuhr ein Kreischen und sie schlug sich die Hand vor den Mund, um den Laut zu ersticken.

„Verdammte Scheiße!“, zischte Karlo, krabbelte vom Bett und tastete sich an der Küchenzeile entlang. Franka krallte ihre Hand in seinem Gürtel fest und schlich hinter ihm her. Als sie die Tür passierten, rüttelte jemand von außen an der Klinke.

„Was hast du vor?“

Karlo kletterte auf den Fahrersitz. „Ich versuche uns hier wegzubringen. Schnall dich an!“ Er startete den Wagen.

„Ich dachte, davon werden die Felgen kaputt?“

„Wen interessieren diese verdammten Felgen?“ Die Scheinwerfer gingen an und für einen Augenblick konnten sie eine dunkle Gestalt an der Front vorbeihuschen sehen. „Hast du das gesehen?“, rief sie hysterisch.

„Ich fahr diese Scheißkerle über den Haufen!“

„Wer sind die?“

„Keine Ahnung! Wahrscheinlich nur ein paar Halbstarke, die uns Angst machen wollen.“ Er legte den Gang ein und fuhr los.

Ruckelnd setzte sich das träge Gefährt in Bewegung. Plötzlich wurde der Camper von mehreren Gegenständen getroffen. Rundherum vernahmen sie das Poltern und Rumpeln. Eine Seitenscheibe im hinteren Bereich ging klirrend zu Bruch.

Franka kreischte. „Gib Gas!“

Der Wagen schlingerte mit heulendem Motor den Waldweg entlang. Die kaputten Reifen griffen auf dem weichen Erdboden schlecht, drehten immer wieder durch und so kamen sie nur im Schneckentempo voran. Plötzlich durchbrach ein großer Stein die Frontscheibe. Splitter prasselten auf die Insassen herab. Karlo verriss das Steuer und die Schnauze kollidierte mit einem dicken Eichenstamm.

„Franka! So kommen wir nicht weiter. Wir müssen laufen“, keuchte er und umklammerte ihren Unterarm. „Was auch geschieht, halt nicht an, dreh dich nicht um, renn einfach weiter, als wäre der Teufel hinter dir her. Wir treffen uns im Dorf.“ Dann öffnete er die Tür und sprang in die Dunkelheit hinaus.

„Karlo!“ Franka schnallte sich ab und verließ ebenfalls das Gefährt. Irgendwie kam es ihr vor, als bewegte sie sich viel zu langsam. Das Blut pochte in ihren Schläfen. Kaum spürte sie den Waldboden unter ihren Füßen, hörte sie ein seltsames Grunzen, wie von einem Wildschwein. Etwas Großes kam durch das Gestrüpp rasch auf sie zu und brach lärmend durch die dünnen Zweige. Sie überlegte nicht lange, sondern rannte in entgegengesetzter Richtung in den Wald hinein. Damit entfernte sie sich zwar von dem Dorf, aber sie konnte später einen Bogen schlagen. Fürs Erste galt es, von diesen Vandalen wegzukommen, die ihren Camper demoliert hatten. Sie fragte sich, ob Karlo auch die Flucht gelungen, oder ob es zum Kampf gekommen war. Sollte sie es als ein gutes Zeichen deuten, dass sie nichts mehr von ihm gehört hatte?

Franka war auf einen Wildpfad gestoßen und folgte diesem, so gut sie konnte. Zweige peitschten in ihr Gesicht und verfingen sich in den Rasta-Locken, also hob sie die Arme, um sich zu schützen, während sie tiefer in den Wald vordrang. Ihre Füße verfingen sich immer wieder an heruntergefallenen Ästen, zogen laut raschelnd eine Spur durch das herumliegende Laub und den bodendeckenden Efeu. Ich mache zu viel Lärm! Sie drosselte das Tempo. Lange hätte sie ohnehin nicht mehr durchgehalten. Zu beiden Seiten setzte sich das Geräusch fort. Sie hatte das Gefühl, als würde ihr das Blut gefrieren. Das sind … Sie!

Franka blieb keuchend stehen, stützte sich mit einer Hand an einem Baumstamm ab und beobachtete, wie um sie herum dunkle Schemen aus den Schatten hervortraten und langsam näher rückten. Sie drehte den Kopf panisch in alle Richtungen auf der Suche nach einer Lücke. Sie war umzingelt. Was das spärliche Mondlicht über ihre Verfolger enthüllte, entlockte ihr einen entsetzten Schrei.

Vermisst

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