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4 Die Flucht, drei Wochen danach
ОглавлениеWas war das? Kathi setzte sich mit einem Ruck auf und stieß sich den Kopf schmerzhaft an dem Autodach. Von einer Sekunde auf die andere hellwach, tastete sie in der Dunkelheit nach Simon und rüttelte ihn, bis er endlich die Augen aufschlug und sich ebenfalls aufrichtete.
„Was ist los?“ Seine Stimme klang leicht gereizt.
„Ich hab ein Geräusch gehört“, flüsterte das Mädchen aufgeregt. „Es hat mich aufgeweckt. Es war unheimlich.“ Sie spürte wieder einmal Gänsehaut an ihrem Körper.
Beide hielten den Atem flach und lauschten.
„Also ich höre nichts“, stöhnte er und legte sich wieder hin. „Vielleicht hast du nur geträumt.“
Kathi starrte aus dem Fenster und sah nichts, außer dichtem Nebel, der über die Lichtung waberte. Alles andere ringsum erschien pechschwarz. Das Autoradio hatte sich nach einer Stunde automatisch abgeschaltet und die Grillen hatten ihr Konzert längst beendet. Die Stille kam ihr trügerisch vor. Irgendetwas lauerte da draußen im Nebel. Sie konnte es fast körperlich spüren. Das Gefühl ließ ihr Herz rasen, sodass sie seinen raschen Rhythmus in ihrer Halsschlagader pochen spürte.
Plötzlich vernahm sie in ihrem Augenwinkel eine Bewegung im dichten Nebel.
„Simon“, flüsterte sie und rüttelte erneut an dem schweren Körper. „Da draußen ist etwas!“
Sie kroch über ihn und stierte auf seiner Seite durch die beschlagene Scheibe in die undurchdringliche Barriere. Sie wischte mit einer Hand das Kondenswasser fort, um die Sicht zu verbessern. Es erzeugte ein leises Quietschen. Ihr Atem ging stoßweise.
„Beruhige dich, Kathi. Das sind wahrscheinlich nur ein paar Rehe“, erklärte er matt. Sie wollte sich aber nicht beruhigen. Immer wieder wendete sie ihren Kopf und sah sich nach allen Richtungen um.
„Da draußen ist jemand“, winselte sie unbeirrt. Da sie auf seinem Bauch saß wie eine Reiterin im Sattel, drückte sie dem Mann unter ihr allmählich die Luft ab.
„Geh runter von mir! Du erdrückst mich ja“, beschwerte er sich und klopfte mit den Handflächen auf ihre nackten Oberschenkel, um seinem Leiden Nachdruck zu verleihen.
„Ich spinne doch nicht“, ignorierte sie seinen Protest. „Ich habe es deutlich gesehen! Da ist etwas durch den Nebel gelaufen! Etwas Großes!“
Simon reichte es. Er packte ihre Hüften und schob sie von sich runter. Dann erhob er sich schnaufend, lehnte seinen Oberkörper zwischen den Sitzen vor und suchte am Armaturenbrett nach dem Knopf, mit dem sich die Heckklappe entriegeln ließ.
„Muss sowieso mal austreten. Ich werde mich bei der Gelegenheit umsehen“, murrte er wenig begeistert, während er unabsichtlich den Heckscheibenwischer betätigte.
Kathi zuckte zusammen, ihre Nerven lagen blank. Sie wappnete sich innerlich gegen das Öffnen der Türe, als würden sie ihre relative Sicherheit aufgeben, sobald die Klappe aufschwang.
„Vielleicht solltest du besser nicht hinausgehen. Wir sollten hier im Wagen bleiben“, beschwor sie ihn mit brüchiger Stimme.
„Unsinn“, knurrte Simon. „Da draußen ist nichts, wovor du dich fürchten musst. Höchstens ein paar Rehe, ein Wildschwein oder ein Fuchs.“
Er hatte den richtigen Knopf gefunden und entriegelte den Schließmechanismus. Dann drehte er sich um und zwinkerte Kathi zu, was sie im Dunkeln allerdings nicht sehen konnte. Er kroch auf die Kofferraumtür zu und drückte sie mit einem Arm nach oben. Als er in dieser Stellung ein Bein aus dem Fond heraus schwang, bekam er einen kräftigen Schlag gegen die Brust. Simon blickte ungläubig an sich herab und sah einen langen Stab zwischen seinen Rippen herausragen. Dieser wurde ruckartig gedreht, dann wurde er mit brutaler Gewalt in den Nebel hinausgezogen.
Kathi hörte nur ein dumpfes Klatschen und spürte wie feine Tröpfchen ihr Gesicht benetzten, als ob sie jemand angeniest hätte. Simon war mitten in seiner Bewegung erstarrt und wurde plötzlich vor ihren Augen aus dem Wagen gesaugt und vom Nebel verschluckt.
„Simon …“, wisperte sie beinahe tonlos. Wie gelähmt starrte sie auf das Loch, das sich vor ihr aufgetan hatte, und brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, dass sich etwas Schreckliches ereignet hatte, was ihr Verstand nicht in passende Worte kleiden konnte. Im Schock sprang sie von der Ladefläche, rannte in den Nebel hinaus, der sie sofort umhüllte, und schlug instinktiv einen Haken, als sie vor sich ein lautes Knistern hörte. Sie kreischte auf. Irgendetwas griff nach ihr, glitt an ihrer Schulter ab und riss dabei die Haut auf. Sie rannte weiter durch das feuchte Gras, das gegen ihre nackten Schenkel peitschte, stolperte über eine Bodenunebenheit, torkelte einige Schritte weiter, bevor sie der Länge nach hinschlug. Sie fing sich mit den Händen ab, stemmte sich sofort wieder hoch und stürmte weiter vorwärts und gelangte zwischen zwei Bäumen hindurch in den finsteren Wald, der sie gnädig aufnahm. Hinter sich hörte sie in einiger Entfernung raschelnde Schritte, die ihr folgten.
Weiter, brüllte ihr Verstand.
Sie kämpfte sich beherzt durch dichtes Gestrüpp. Es zerkratzte ihre ungeschützte Haut, verfing sich in ihrem Kleid und zerrte daran. Panisch drang sie immer tiefer in das Dickicht vor und gelangte zu einer Art Trampelpfad, dem sie ein kurzes Stück folgte, bis sie sich wieder inmitten dicht beieinanderstehender Jungbäume befand. Dem Geruch nach handelte es sich um Nadelbäume. Da ihr das dichte Geäst ein Weiterkommen unmöglich machte, ließ sie sich auf alle viere nieder und kroch unter den niedrigen Ästen durch, die über ihren Rücken kratzten. An ihren Handflächen und Knien konnte sie die abgefallenen Kiefernnadeln spüren.
Sie bekam kaum noch Luft, also hielt sie unter einer Jungföhre mitten in der Kriechbewegung inne und versuchte, so flach wie möglich zu atmen. Währenddessen lauschte sie aufmerksam in die Finsternis. Sie schloss ihre Augen und sah sofort wieder, wie Simon direkt vor ihr regelrecht aus dem Wagen geflogen war. Sie verdrängte die schrecklichen Bilder. Ihre aufgekratzte Schulter schmerzte und sie spürte, wie ihr das Blut aus der Wunde in einem dünnen Rinnsal ins Dekolleté sickerte.
Plötzlich hörte sie irgendwo hinter sich einen Ast knacken. Das Geräusch jagte ihr einen Schauer durch den Körper. Sie verlor die Kontrolle über ihre Blase und der warme Urin durchtränkte den Slip ehe er an den Schenkelinnenseiten hinabströmte. Es war ihr in diesem Augenblick egal, also ließ sie ihn leise winselnd laufen, bis ihre Knie in einer warmen Pfütze steckten. In den Geruch nach Moder und Nadeln mischte sich der ihrer eigenen Ausscheidungen. Sie schämte sich für ihr nasses Höschen, doch hier draußen im finsteren Wald konnte sie ohnehin niemand sehen.
Nach einer Weile wurde Kathi kalt und ihre Arme und Beine begannen zu zittern. Da sie kein weiteres Geräusch mehr vernommen hatte, kroch sie vorsichtig weiter über den weich gepolsterten Waldboden und brach durch das Geäst am Rande einer weiteren kleinen Lichtung. Sie hielt abermals kurz inne und lauschte in die Nacht. Dabei sah sie sich nach allen Richtungen um. Sie konnte keine Verfolger mehr hören oder sehen. Kathi rappelte sich auf und stolperte schnellen Schrittes einen Trampelpfad entlang, der sich als Furche im weichen Boden abzeichnete. Weit hinter ihr zerriss ein lauter Schrei die Stille der Nacht, der wenig menschlich klang. Der schmale Weg mündete in einen Schilfgürtel. Sie stakste zwischen den mannshohen Halmen hindurch, wobei ihre Füße bei jedem Schritt mit einem lauten Schmatzen bis über die Knöchel im Morast versanken. Als sie sein Ende erreichte, versank sie knietief in kaltem Wasser. Vor ihr dehnte sich ein großer, langgezogener Tümpel aus, dessen gegenüberliegendes Ufer einen Steinwurf entfernt war.
Sie überlegte. Zurück wollte sie keinesfalls. Nach links und rechts weiter zu gehen, erschien ihr als ein mühsames Unterfangen, denn das Schilf erstreckte sich zu beiden Seiten scheinbar endlos an diesem Gewässer entlang. Also gab es nur einen Weg. Sie watete langsam ins tiefere Wasser, das bei jedem Schritt ein Stück höher kroch. Als es ihren Bauch erreicht hatte, biss sie die Zähne zusammen und drang weiter vor. In der Mitte des Teiches stand es ihr bis zum Hals. Sie drehte sich um die eigene Achse und ließ ihren Blick den Schilfgürtel entlang schweifen. Sie konnte nichts Ungewöhnliches erkennen.
Der Mond stand tief am Firmament und spiegelte sich hundertfach an der aufgewühlten Wasseroberfläche. Sie verharrte bibbernd, bis sie nur noch eine einzige tanzende Sichel erkennen konnte. Dünne Fetzen von abgerissenen Nebelschwaden schwebten über das Wasser auf sie zu. Da sie nicht ewig hier bleiben konnte, schwamm sie auf das rettende Ufer zu, bis sie wieder festen Boden unter den Füßen spürte. Algen erhoben sich aus dem Teichboden und umschmeichelten ihre Beine wie gierige Tentakel. Sie erschauerte und legte tapfer die letzten Meter, mit den Füßen tastend, zurück. Am Ufer angekommen, kletterte sie triefend die Böschung hoch und setzte sich auf einen umgestürzten Baumstamm.
Wieder beobachtete sie das gegenüberliegende Ufer. Sie zitterte wie Espenlaub. Das durchweichte Chiffonkleid klebte an ihr wie eine zweite Haut. Der Träger an ihrer verletzten Schulter war gerissen. Blut sickerte aus vier parallel verlaufenden Kratzern hervor. Auch ihre Beine und Arme hatten etwas abbekommen.
Nichts, was nicht wieder heilen würde.
Sie schlang ihre Arme um sich und dachte an Simon. Sie spielte in Gedanken die letzten Minuten vor ihrer Flucht noch einmal durch. Doch Kathi konnte sich keinen Reim darauf machen, was geschehen war. Irgendetwas hatte sie im Nebel belauert und in dem Moment angegriffen, als Simon die Heckklappe geöffnet hatte. Es oder Sie hatten ihn abgeschlachtet, dessen war sie sich sicher, denn sie hatte noch immer den gellenden Schrei im Ohr, der durch die Nacht gehallt war. Sie war sicher, dass sie das gleiche Schicksal ereilen würde, wenn es ihr nicht gelänge, einen Weg aus diesem Auwald heraus zu finden. Ihr war klar, dass sie möglichst vorsichtig sein und jedes Geräusch vermeiden musste. Ihr Instinkt riet ihr, dass sie in Bewegung bleiben musste, auch wenn sie sich am liebsten an Ort und Stelle verkrochen hätte.
Ihr war kalt, also musste sie sich bewegen, wenn sie sich nicht erkälten wollte. Sie stand auf und schlich vorsichtig an der Böschung des Teiches entlang. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie endlich auf einen Pfad traf, der im rechten Winkel vom Gewässer weg führte. Sie folgte ihm, bis sie auf eine schlecht erhaltene Schotterstraße traf, die ihr vage bekannt vorkam.
Im Osten lichtete sich bereits der Himmel und kündigte den nächsten Tag an. Neue Zuversicht durchströmte sie und sie folgte dem Straßenverlauf. Ihre Füße in den durchweichten Sneakers taten weh, aber die Kälte war inzwischen aus ihrem Körper gewichen. Sie hatte sich mittlerweile warm gelaufen.
Kathi kam gerade aus einer Kurve, als sie Charlys Auto im Gebüsch erblickte. Daher blieb sie stehen, sah sich nach allen Seiten um und schlich zögernd auf die Unfallstelle zu. Im heller werdenden Tageslicht umrundete sie das Gestrüpp und spähte ins Wageninnere. Sie fand es irgendwie merkwürdig, dass sie am Abend zuvor bei umgekehrten Lichtverhältnissen schon einmal an diesem Ort gewesen war. Es war gerade mal sieben oder acht Stunden her, dass sie gemeinsam mit Simon das Auto gefunden hatte. Seither war viel geschehen.
Sie ging zur weit geöffneten Fahrertür und beugte sich in den Wagen. Ein Fasan brach laut schnatternd aus der Fahrgastzelle heraus und erhob sich flügelschlagend in die Luft, schwebte knapp über dem Boden davon und verschwand geräuschvoll im Dickicht auf der anderen Straßenseite. Kathis Herz pumpte kraftvoll ihr Blut durch den Körper. Ein weiterer Adrenalin-Schub, auf den sie gerne verzichtet hätte.
Als sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, klappte sie den blutbefleckten Fahrersitz vor und kletterte in den Wagen. Sie suchte nach ihrer Handtasche. Diese war unter den Beifahrersitz gerutscht. Kathi zerrte sie darunter hervor und wühlte darin bis ihre Finger das Handy ertasteten. Sie nahm es hastig heraus und warf einen Blick auf das Display.
„Shit“, fluchte sie unterdrückt. Das Fenster war schwarz. Sie betätigte den Einschaltknopf, doch nach mehreren vergeblichen Versuchen, gab sie auf. Der Akku war leer! Er hatte sich über Nacht entladen. Sie warf es frustriert in die Handtasche zurück und suchte weiter. Jennys Tasche war unauffindbar. Dafür entdeckte sie eine verschlossene Bierdose. Sie riss die Lasche auf und trank die Dose bis auf den letzten Tropfen leer. Dann musste sie rülpsen. Es hatte furchtbar geschmeckt, jedoch seinen Zweck erfüllt. Ihr Durst war fürs Erste gestillt. Sie zog den Zündschlüssel aus dem Schloss und umrundete das Gestrüpp erneut. Dann wollte sie den Kofferraum öffnen, doch sie fand ihn unversperrt vor. Sie durchstöberte dessen Inhalt, konnte jedoch nichts Verwertbares entdecken. Ihre Finger blieben an der Kerbe für die Verkleidung hängen, die sie anhob. Kathi entriegelte die Abdeckung des verborgenen Raumes für das Reserverad. Darin befanden sich lediglich zwei Sechserpack Dosenbier.
„Der Wichser hat nicht einmal einen Erste Hilfe Koffer dabei“, knurrte sie verärgert.
Das sah ihm ähnlich. Typisch Charly! Für sein leibliches Wohl konnte er sorgen. Die anderen waren ihm egal. Sie fragte sich, wieso sie sich damals in einen derart egoistischen Kerl verliebt hatte!
Von mir aus kann Jennifer diesen Loser behalten, dachte sie verbittert. Kathi hängte sich die Handtasche über die unverletzte Schulter und stolperte zur Straße zurück. Wenn jenes staubige, von Schlaglöchern übersäte, Ding diesen Namen überhaupt verdiente!