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V.

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Skiria entdeckte ihn erst, als er bereits in voller Größe vor ihr stand. Über ihr ragte ein langer Hals zwischen den Bäumen hindurch. Langsam beugte er sich zu Skiria hinunter, sodass sie die grünlich schillernden Schuppen, an denen das Regenwasser abperlte, deutlich erkennen konnte. Ein monströser Koloss, in dessen Magen wohl zwei Skirias Platz gefunden hätten. Trotzdem wirkte er klein für einen Drachen.

Es war sinnlos, sich vor ihm zu verbergen. Dennoch suchte Skiria Zuflucht hinter einem Baumstamm, als bewöge dies das Ungeheuer dazu, das Interesse an ihr zu verlieren. Nichts geschah. Skiria zählte die Tropfen, die sich kitzelnd den Weg durch ihr Haar suchten, um schließlich ihr Gesicht wie Tränen zu benetzen. Endlich wagte sie, aus ihrem Versteck hervor zu spähen. Sie bereute es sofort. Hatte sich der Drache bis jetzt ruhig verhalten, so hob er nun eine seiner Klauen und stampfte kraftvoll damit auf. Skiria glaubte, den Boden zittern zu spüren. Genauso verfuhr er mit der anderen Pranke und bewegte sich sodann einen Schritt auf sein potentielles Opfer zu. Erwartungsvoll ruhte sein Blick auf ihr.

Skiria nahm all ihren Mut zusammen.

„Glaube nur nicht, ich hätte Angst vor dir!“ Es klang nicht besonders überzeugend. Das Untier beäugte sie noch intensiver.

„Warum erwiderst du dann meine Begrüßung nicht?“

Ein zweifelnder Ausdruck legte sich auf Skirias Gesicht. Es musste sich um einen Fiebertraum oder dergleichen handeln. Der Drache sprach zu ihr! Aber von was redete er da überhaupt? Skiria beschloss, sich der Situation zu stellen.

„Du hast mich doch gar nicht begrüßt“, wandte sie ein und erhob sich.

„Habe ich wohl!“

„Hast du nicht!“

„Also gut, dann noch einmal.“ Das Untier begann erneut, seine Pranken anzuheben und damit zu stampfen. Skiria begriff. Es war eine etwas andere Art der Begrüßung. Nur kurz überlegte sie wegzulaufen, doch dann wurde ihr bewusst, dass der Drache sie mit einem gezielten Feuerstrahl grillen könnte, bevor sie auch nur den nächsten Baum erreicht hätte. Skiria wagte kaum zu atmen, als die Wucht seiner Füße den Waldboden vibrieren ließ. Bedacht darauf, ihn nicht zu verärgern, kopierte sie sein Verhalten und trampelte kräftig das Moos unter sich platt.

Nie hätte Skiria gedacht, dass die letzten Momente ihres Lebens derart merkwürdig verlaufen würden.

Krachend brach das Unterholz unter dem kraftvollen Tritt des schuppigen Untier. Ein unachtsamer Schritt, und der Drache hätte Skiria zu Mus gestampft.

Verzweifelt suchten ihre Augen das Dickicht nach einer Fluchtmöglichkeit ab, als das Ungetüm unvermittelt inne hielt, sein Maul aufklappte und dabei eine Reihe unglaublich gelber und gefährlich spitzer Zähne zeigte. Vor Skiria tauchten Bilder eines Drachens auf, der auf grausame Weise einen Menschen in Stücke riss. Erbarmungslos mahlte er mit seinem Gebiss die Knochen seines Opfers zu Staub, während dessen Qualen ihm grausame Genugtuung verschafften. Zu Füßen der Bestie bildete sich ein See aus Blut.

„Bist du immer so schweigsam?“, unterbrach der Drache munter ihre destruktiven Gedanken.

Zornig biss sich Skiria auf die Lippen und hielt tapfer dem Blick des Ungeheuers stand. Sollte ihn doch der Teufel holen! Was dachte sich dieses Monster eigentlich? Sollte sie etwa vergnügt mit ihm plaudern, mit einem Drachen? Einem Wesen, dessen Artgenosse ihren Vater tötete? Eine seiner Pranken hob sich. Skiria schluckte, gewahrte dann jedoch erleichtert, dass er das krallenbewehrte Mordwerkzeug lediglich dazu benutzte, um den Juckreiz an seinem vermutlich parasitenbesetzten Hals zu stillen. Skiria zögerte nicht lange. Dieser Moment der Unaufmerksamkeit bot ihr eine einmalige Gelegenheit zur Flucht. Blitzschnell drehte sie sich um und verschwand im Gehölz, wo sie sich vor den Blicken des Drachen sicher fühlte.

Dass dort dichtes Dornengestrüpp ihren Fluchtversuch zu vereiteln drohte, ließ sie zum ersten Mal in ihrem Leben so laut und ergiebig fluchen wie der betrunkene Wirt der Dorfschenke, den beim Kartenspiel regelmäßig das Glück verließ. Die stacheligen Gewächse schienen Skiria förmlich festhalten zu wollen. Ungeduldig zerrte sie an ihrem Kleid, das sich hoffnungslos in den Dornen verhangen hatte. Dem Besitzer der dunkel behaarten Pranke, der sich im Dickicht verbarg, lief bereits das Wasser im Munde zusammen. Völlig darauf konzentriert, sich loszureißen, bemerkte Skiria ihn nicht. Erst als sich ein fester Griff um ihr Handgelenk schloss, registrierte das Mädchen starr vor Schreck den Angreifer. Die riesige Gestalt, deren scheußliches Äußeres darauf hindeutete, dass es sich nicht um ein menschliches Wesen handelte, überragte sie um zwei Köpfe. Noch nie hatte sie etwas derart Grässliches gesehen: Der kahle Schädel wies eine sonderbare Deformation auf, sodass er wie die Karikatur eines besonders hässlichen Menschen wirkte. Sowohl am Körper als auch im Gesicht hing seine Haut in wulstigen, ledrigen Falten herab. Grinsend verzog das Monstrum sein rissiges Maul, während die behaarte Hand noch fester zudrückte. Skiria entfuhr ein Schmerzensschrei, als sie grob zu Boden gestoßen wurde. Es kniete über ihr und musterte sie schneidend. Der Geruch, den das Monster verströmte, erinnerte an einen Pferdestall, den seine Besitzer seit Wochen nicht mehr gesäubert hatten. Endlich begann Skiria zu schreien. Das Geschöpf versuchte, sie daran zu hindern, indem es seine Finger auf ihr Gesicht presste. Kurzentschlossen biss Skiria zu. Das Wesen zuckte zurück und schüttelte heulend die schmerzende Hand, während Skiria aus Leibeskräften um Hilfe rief.

Doch sie verstummte jäh, als ein kurzes Zittern den Waldboden durchfuhr. Verwirrt sah sich das Wesen um. In kurzen Intervallen durchliefen Wellen den Boden, begleitet von einem unheilvollen Dröhnen. Mit irrem Blick rollte das Ungeheuer wild mit den Augen. Sein eben noch vor Gier strotzendes Monstergesicht verwandelte sich zusehends in eine angstverzerrte Fratze, als die Ursache der dumpfen Geräusche zum Vorschein kam.

Der Drache wuchtete seinen Schuppenpanzer durchs Dickicht. Mit solchen Urtieren verband der Angreifer wohl schlechte Erfahrungen, denn er ließ augenblicklich von seinem Opfer ab und lief mit plumpen Schritten ins schützende Dickicht. Der Drache preschte hinterher und walzte einfach sämtliche Sträucher platt, die sich ihm in den Weg stellten. Planlos lief das flüchtende Ungeheuer zwischen den Bäumen umher und stieß sich seine Stirn an den tiefhängenden Ästen. Die dicht verwobenen Zweige mannshoher Sträucher ließen es nur schwer vorwärts kommen. Vergeblich mühte es sich, aus seinem Gefängnis aus Dornen zu entkommen. Das Wesen saß in der Falle. Als die Kreatur sich umdrehte, musste sie hilflos mit ansehen, wie der Drache wutentbrannt auf sie zurannte. Ängstlich wimmerte das Geschöpf vor sich hin.

Skirias Herz klopfte bis zum Hals. Würde es zum Kampf zwischen den beiden kommen? Es erschien ihr vollkommen absurd, doch ihre neue Bekanntschaft riss mit lautem Brüllen das Maul auf und ließ den Kopf des Angreifers in ihrem Schlund verschwinden. Spitze Zähne bohrten sich in das Fleisch, immer weiter, bis der Drache mit einem kräftigen Ruck den Schädel der Kreatur vom übrigen Körper trennte. Aus dem kopflosen Leib schoss ein Blutstrom heraus, der seinen Schuppenpanzer besudelte. Das geschundene Biest schwankte und fuchtelte mit seinen Armen über die Stelle hinweg, an der sein Kopf die letzten dreißig Jahre über gesessen hatte. Schließlich stürzte es leblos zu Boden.

Währenddessen spuckte der Drache lässig den hässlichen Kopf aus und befreite sich mit einem Schütteln von den Blutspritzern, die an seinen Schuppen abperlten wie Wasser an Gänsefedern. Skiria schluckte, als die blutige Trophäe vor ihre Füße kullerte.

Ungläubig erkannte das Mädchen, dass der Drache sie gerettet hatte. Langsam stand Skiria auf und rieb ihr Handgelenk, in das sich schmerzende rote Druckstellen gegraben hatten. Der Anstand gebot es wohl, dass sie dem Drachen dankte, doch es widerstrebte ihr, zu dem Ungeheuer freundlich zu sprechen. Konnte ihr nicht ein Mensch oder irgendein anderes Wesen zur Hilfe eilen? Musste es ausgerechnet ein Drache sein?

„Danke“, kam fast tonlos über ihre Lippen, bevor sie sich umdrehte und sich anschickte, den Koloss zu verlassen.

„Warte!“, rief das Tier. Skiria hielt erschrocken inne. War der Blutdurst des Ungetüms etwa doch noch nicht gestillt?

„Ich bin Ramin, und du?“, fragte der Drache.

Sie zögerte ein wenig. Ob es sich um eine Falle handelte? Doch hätte das Ungetüm, das sogar einen Namen trug, sie sonst vor dem gefährlichen Angreifer beschützt? Immer noch abwartend sah Ramin sie fragend an. Langsam nickte das Mädchen und besann sich sodann wieder auf ihre gute Erziehung.

„Mein Name ist Skiria“, stellte sie sich vor und dachte gleichzeitig, dass wohl ihr Verstand unter der beschwerlichen Reise gelitten haben musste. Anstatt vor ihr wegzulaufen, ließ sie sich auf eine Unterhaltung mit der Bestie ein.

„Warte hier, ich komme gleich wieder!“, rief Ramin aufgeregt und stampfte eilig davon. Doch Skiria nutzte auch diese hervorragende Gelegenheit nicht, um zu fliehen. Zu sehr hatte sie es genossen, endlich wieder mit jemanden zu sprechen. In der Sorge um das Überleben hatte Skiria verdrängt, wie einsam sie sich eigentlich fühlte. Sie kannte niemanden hier in der Fremde und freute sich nun insgeheim, dass sie endlich wieder mit jemandem sprechen konnte. Selbst, wenn es sich dabei um einen Drachen handelte.

Beinahe eine Stunde verging, ehe Ramin zurückkehrte. In seinem Maul hing ein zerfetztes Reh, das er nun fallen ließ, um schließlich tief Luft zu holen und einen Rauchschwall aus seiner Kehle zu entlassen. Als das Wildtier gar war, verzehrte Skiria gierig eine Keule. Ramin verschlang laut schmatzend beinahe das ganze restliche Fleisch. Als sie ihr Mahl beendet hatten, platzte das Ungetüm jäh heraus: „Willst du meine Höhle sehen?“

Skiria, die aus der Begegnung mit der Riesenechse bislang nur profitiert hatte, fragte sich, ob es nicht zu weit ginge, wenn sie dem Drachen nun auch noch in seine Behausung folgte. Immerhin handelte es um einen Waldbewohner, der sehr gefährlich werden konnte. Was würde sie erwarten, wenn seine Stimmung plötzlich umschlug und er sich unvermittelt in eine wilde Bestie verwandelte?

Doch Ramin wartete ihre Antwort erst gar nicht ab, sondern begann, einen Weg durch das Dickicht für sie freizutrampeln, in der Erwartung, das Mädchen folge ihm wie selbstverständlich. Schulterzuckend setzte sich Skiria in Bewegung, nicht ohne die Rehkeule zu schultern, die Ramin übriggelassen hatte. Was konnte sie schon verlieren?

Ihr Marsch führte die beiden in ein Waldgebiet, in dem große, moosbewachsene Felsen den Eindruck erweckten, kein menschliches Wesen hätte sie jemals berührt. Vorbei an tiefen Schluchten, in deren Abgründen sich rauschende Wassermassen ihren Weg suchten und kleineren Anhöhen, von deren höchstem Punkt man jedoch keinerlei Aussicht genießen konnte, da Buchen und Tannen den Blick in die Weite versperrten. Skiria fand es reichlich sonderbar, hinter einem Drachen herzulaufen und zweifelte, ob sie richtig entschieden hatte, Ramin bis in seine Höhle zu begleiten. Ständig sah sie sich nach einer Möglichkeit zur Flucht um, falls sich das Ungeheuer doch noch dazu entschließen sollte, sie anzugreifen.

Ein gewaltiger Felsen türmte sich vor ihnen auf, als sie schließlich stehen blieben. In seiner Mitte spaltete ihn ein breiter Riss in zwei Teile und gab somit einen Weg frei, der ins Innere des Steins führte.

„Dort hinein?“, fragte Skiria ungläubig, und Ramin bestätigte dies durch ein freudiges Schnauben.

„Am besten, ich gehe wieder vor“, riet er und setzte sich in Bewegung. Als er erneut zu sprechen begann, befand Ramin sich bereits in dem Gang, und seine Worte hallten von den Steinwänden wider.

„Der Weg führt zu unserer Höhle.“ Skiria stutzte.

„Wieso unserer?“

„Meine Mutter lebt noch hier, aber sie ist auf Reisen und ich bin allein...“

Der Rest seines Satzes verschwamm im Echo, das seine Worte mehrfach wiedergab: „... bin allein ... allein ... allein ...“

Angestrengt spähte Skiria in die Dunkelheit und erkannte gerade noch, wie er hinter einer Biegung verschwand. Unschlüssig stand sie vor dem Eingang. Sollte sie wirklich dort hinein gehen? Es blieb keine Zeit, diese Entscheidung lange hinauszuzögern, wenn sie den Anschluss an Ramin nicht verlieren wollte. Beherzt trat sie ein. Zuerst mit langsamen, vorsichtigen Schritten, die sich dann jedoch schnell beschleunigten, um Ramin wieder einzuholen. Zu ihrem Entsetzen stellte sie fest, dass der Gang bald nach unten abfiel.

Die Drachenhöhle musste unterirdisch liegen. Feuchte Kälte kroch Skiria in den Nacken, als das ungleiche Paar den finsteren Tunnel hinab stieg.

Je tiefer der Gang unter die Erde führte, umso mehr verbreiterte er sich und mündete schließlich in eine riesige Tropfsteinhöhle. Staunend betrachtete Skiria die Kunstwerke aus Stein, deren bizarre Formen von der Höhlendecke hinab wuchsen. Ihnen reckten sich ebensolche Gebilde vom Boden aus entgegen.

Weit oben fiel ein dünner Lichtstrahl durch eine kleine Öffnung und erzeugte dort, wo er auftraf, ein verräterisches Glitzern. Die Sonne brach sich in einem unterirdischen See, dessen schwarzes Wasser in der Dunkelheit kaum von den umliegenden Felsen zu unterscheiden war.

„Hier lebe ich mit meiner Mutter, aber die ist zurzeit verreist.“ Ramins Stimme klang hier unten sonderbar hohl. Die Abwesenheit der Mutter kam Skiria durchaus gelegen. Wenn es sich bei Ramin um ein Jungtier handelte, so musste ein ausgewachsener Elternteil Ausmaße besitzen, gegen die Ramin zierlich wirkte. Langsam gewöhnten sich Skirias Augen an die Dunkelheit. Ramin trottete zu einem aufgetürmten Haufen und fuhr mit einer Klaue hinein. Das raschelnde Geräusch erinnerte Skiria an getrocknete Blätter. Als sie sich bückte und ihre Hand ausstreckte, bestätigte sich ihre Vermutung. Ramin wirbelte das Laub ungestüm auf, sodass es bald überall verstreut lag. Eine ganze Weile sah Skiria ihm dabei zu, bis sie endlich zu fragen wagte:

„Was machst du da?“

Ramin unterbrach sein Treiben kurz und schnaubte: „Ich bereite dir eine Schlafstatt!“

Das Mädchen wünschte, sich verhört zu haben. Niemals wäre sie dazu bereit, in einer Drachenhöhle zu übernachten, womöglich noch direkt neben dem Ungeheuer. Es musste sich um eine Falle handeln. Über sein schlafendes Opfer herzufallen, dürfte ein leichtes Spiel für Ramin sein. Ein schlauer Plan, doch Skiria hatte ihn durchschaut. Bevor Ramin sie aufhalten konnte, flüchtete Skiria durch den Felsenkorridor nach oben. Auf halber Höhe hallte Ramins Stimme ihr nach.

„Wo willst du hin?“

Ohne zu antworten beeilte sich Skiria, rasch wieder in die Freiheit zu gelangen.

Sie lief, bis die Nacht hereinbrach. Nach diesem anstrengenden Tag hätte sie sich lieber schlafen gelegt, doch die Furcht vor dem hinterhältigen Biest ließ sie noch lange Strecken in der Dunkelheit zurücklegen. Erst, als die Entfernung zur Drachenhöhle ausreichend erschien, um sich vor der Bestie sicher zu fühlen, erlaubte sie sich auszuruhen. Beinahe ein wenig wehmütig stillte sie ihren Hunger mit der Rehkeule, die während der gesamten Zeit von ihrer Schulter gebaumelt hatte. Es handelte sich wohl um ihre vorerst letzte anständige Mahlzeit. Kaum hatte sie ihren erschöpften Leib auf dem Boden ausgestreckt, übermannte Skiria der Schlaf.

Im Morgengrauen erschienen Drachen in ihren Träumen, bliesen ihr feurige Fontänen ins Gesicht und rissen immense Mäuler auf, um furchterregende Gebisse zur Schau zu stellen. Schweißgebadet wachte sie auf. Es dämmerte bereits, doch das Tageslicht schimmerte erst schwach. Benommen rieb sich Skiria die Augen und stellte einen Moment später fest, dass sie nicht allein war.

Der Morgendunst ließ die Silhouette des Drachen beinahe unwirklich erscheinen. Doch der Traum war vorbei. Soweit Skiria erkennen konnte, handelte es sich um dasselbe Ungetüm, dessen tief gelegene Höhle am Vortag vermutlich zum ersten Mal ein Mensch betreten hatte. Ramin schien ihr Erwachen nicht bemerkt zu haben. Geschäftig rückte er ein Stück Fleisch mit seinem Maul zurecht und ließ einen kurzen Feuerstrahl darauf hernieder. Der Rauch stieg Skiria in die Nase und ließ sie husten.

Kaum gewahrte Ramin ihre Aufmerksamkeit, rief er laut: „Ich habe dir etwas zu essen gemacht!“

Staunend begriff das Mädchen, dass Ramin die Gelegenheit, sie im Schlaf zu töten, nicht genutzt hatte. Stattdessen brachte er ihr Fleisch. Stumm griff Skiria nach dem dargebotenen Mahl und kaute gedankenversunken. Gesättigt lehnte sie sich schließlich an einen Baumstamm und wunderte sich über das Tier, das schmatzend die Reste des Fleisches in einer Geschwindigkeit vertilgte, als drohte es ihm jemand wegzunehmen.

„Warum folgst du mir?“, wollte sie wissen. Dem Drachen troffen klebrige Speichelfäden aus dem Maul, als er sein Mahl unterbrach und ernst erklärte: „Ich möchte dich beschützen. Der Wald ist gefährlich.“

Diese Antwort verwunderte Skiria.

„Aber ihr Drachen seid doch ebenso gefährlich für den Menschen.“

„Aber nein! Wir sind sehr friedvoll“, widersprach Ramin empört.

„Friedvoll?“, entfuhr ihr in scharfem Ton. „Mein Vater wurde von einem eurer Art getötet!“

Der Koloss blickte zu Boden, als schäme er sich für diesen Vorfall.

„Das tut mir Leid.“

Entsetzt schüttelte Skiria den Kopf und setzte zu einer wütenden Erwiderung an. Wie konnte diese Kreatur nur behaupten, dass Drachen harmlos wären? Sie empfand Ramins Worte als blanken Hohn.

„Du musst verstehen...“, begann Ramin erneut, doch Skiria fiel ihm wütend ins Wort: „Wie soll ich dafür Verständnis aufbringen, wenn ein Drache meinen Vater, der euch nie etwas zuleide getan hat, auf schreckliche Art und Weise entführt und tötet?“

Die Riesenechse scharrte nervös mit einer Klaue und schien sich unwohl zu fühlen. Eine kleine Pause entstand, in der beide schwiegen. Skiria starrte ihn so eindringlich an, als erwarte sie endlich eine Antwort, doch Ramin gewann den Eindruck, dass, was immer er nun erwiderte, bestimmt das Falsche sein mochte. Um die peinliche Stille zu unterbrechen, brachte das Tier jedoch leise hervor: „Wir werden gezwungen, das zu tun.“

Fragend zog Skiria ihre Augenbrauen zusammen.

„Gezwungen? Von wem?“

Ramin fürchtete, dass Skiria ihm nicht glaubte. Doch er musste sie über das schwere Los seiner Art aufklären. Als stimme das seine Gesprächspartnerin milder, senkte er seine Stimme noch weiter, bekam aber mehr ein Röcheln als ein Flüstern zustande: „Von unserer Königin.“

Skirias zweifelnde Miene deutete an, dass sie von der Existenz einer Drachenkönigin noch nie gehört hatte.

„Du willst mir doch nicht etwa eine Lügengeschichte auftischen?“, fragte sie beinahe drohend.

„Aber nein!“, entrüstete sich Ramin. „Es ist die Wahrheit!“

„Also gut. Erzähl weiter!“

Erleichtert über die Gelegenheit, seine menschliche Begleiterin über das Joch, das die Oberste der Drachen ihren Untertanen auferlegt hatte, berichten zu können, sprudelte er hervor: „Um an unser Drachenkraut zu gelangen, verlangt die Drachenkönigin von uns, Menschenopfer zu bringen. Vor hundertundfünfzig Jahren noch durften wir das Kraut ohne Gegenleistung holen. Dann begannen die Menschen, Jagd auf uns Drachen zu machen, weil sie irrtümlich dachten, wir seien gefährlich. Dabei lebten wir bis dahin in Frieden mit den Menschen. Viele Drachen fielen ihren Schwertern zum Opfer. So viele, dass bald nur mehr wenige unserer Rasse in den Wäldern lebten. Unsere Königin, früher friedfertig und gütig, erzürnte dies dermaßen, dass sie befahl, jeder Drache möge künftig ein Menschenwesen zu ihr bringen, wenn er Drachenkraut von ihrem Vorrat holen möchte.“

Skiria hörte geduldig zu, doch verwirrten sie Ramins Worte ein wenig.

„Was ist das für ein Kraut, dass ihr bereit seid, dafür solches Unheil anzurichten?“ Ramin erinnerte sich, wie ihm seine Mutter von den Menschen erzählt hatte, deren Lebensweisen und Gebräuche sich gänzlich von denen der Drachen unterschieden. Vorsichtig erkundigte er sich: „Du kennst es nicht?“ Verständnislos schüttelte Skiria den Kopf.

Also musste Ramin weiter ausholen: „Das Drachenkraut ist unser Lebenselixier. Wir brauchen regelmäßig kleine Stränge davon und halten es nur einige Tage aus, ohne davon zu essen.“

„Das heißt, ihr würdet ohne den Genuss dieser Substanz sterben?“

Ramin nickte zufrieden. Sie verstand.

„Das Kraut wächst ausschließlich in den Tiefen eines Sees, der sich im Inneren des Drachenberges befindet. Es ist die einzige Stelle im gesamten Reich, an der man es finden kann. Über den Berg herrscht die Drachenkönigin. Sie kann bestimmen, wer das Kraut bekommt. Aber glaube mir, kein Drache hat Freude an diesem schrecklichen Ritual. Es liegt nicht in unserer Natur, Menschen zu jagen – wir bevorzugen Trolle und Wildgetier.“

„Hast du denn auch schon Menschen entführt?“

„Nein, dafür bin ich noch zu jung. Aber meine Mutter ist vor wenigen Tagen ausgezogen, um neues Drachenkraut zu besorgen. Ich wünschte, ich könnte sie aufhalten. Ich wünschte, es läge in meiner Macht, die Drachenkönigin umzustimmen.“ Ramin wirkte traurig. „Nun, da ich dir begegnet bin und vom Schicksal deines Vaters erfahren habe, möchte ich der Regentin am liebsten beweisen, dass nicht alle Menschen schlecht sind, sondern uns nur jagen, weil sie Drachen für eine Gefahr halten. Was wir natürlich nicht sind. Durch diesen barbarischen Brauch, unschuldige Leute zu entführen, verstärkt sich der Hass der Menschen nur noch mehr. So wird die Jagd auf die Drachen nie enden.“

Es klang überzeugend.

„Hat denn nie jemand versucht, die Drachenkönigin von ihrem Erlass abzubringen?“, erkundigte sich Skiria, doch Ramin verneinte betrübt. Einige Augenblicke hingen beide still ihren Gedanken nach. Während Skiria ihres Vaters gedachte und die Drachenkönigin heimlich verfluchte, reifte in Ramins mächtigem Kopf ein gewagter Plan.

„Wir sollten zur Drachenkönigin gehen und mit ihr reden!“, platzte er schließlich heraus.

„Wir – etwa du und ich?“ Verblüffte Blicke trafen die schuppige Kreatur. „Natürlich! Du bist der lebende Beweis dafür, dass nicht alle unserer menschlichen Mitgeschöpfe den Drachen nach dem Leben trachten. Erzähl’ der Königin von deinem Vater, und dass die Menschen durch ihren Befehl nur noch mehr nach uns jagen werden! Das wird sie gewiss überzeugen. Ich bringe dich hin. Dir wird nichts geschehen!“

‚Eine völlig abwegige Idee’, dachte Skiria und öffnete ihren Mund um abzulehnen. Doch im letzten Moment klappte sie ihn wieder zu. Wenn ihr Weg nicht zu der Regentin des Drachenreiches führte, wohin sollte sie stattdessen gehen?

Zurück nach Runa? Dort würden engstirnige Bürger eine grausame Strafe für die vermeintliche Diebin bereithalten. Allein im Wald weiter ziehen, ohne jegliche Orientierung und darauf hoffen, dass in dem unüberschaubaren Gebiet bald eine Siedlung auftauchte, bevor sie verhungerte? Eigentlich existierte keine sinnvolle Alternative. Doch ein Besuch bei der Drachenkönigin könnte sie womöglich ebenfalls ihr Leben kosten. Wie lange mochte eine Reise dorthin überhaupt dauern? Mit einem neunzehn Ellen langen Monstrum würde sich der Marsch mühselig gestalten. Skiria bemerkte, wie Ramin gespannt auf eine Antwort wartete.

„Also gut. Ich werde mit dir gemeinsam zur Drachenkönigin gehen.“

Als die Worte ausgesprochen waren, bereute das Mädchen augenblicklich ihre Entscheidung. Was tat sie da nur? Doch nun war es zu spät, um ihren Entschluss zu widerrufen.

Zufrieden leckte sich Ramin ein letztes Mal über sein Maul, bevor er seinen langen Hals nach hinten bog und einen schauerlichen Schrei ausstieß. Drachen, so erkannte Skiria, pflegten ihre Freude auf merkwürdige Weise kundzutun.

Skiria

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