Читать книгу Schattengeister - Frances Hardinge - Страница 10

KAPITEL 5

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Ein junger, schlanker Diener führte Makepeace eine Treppe nach der anderen nach oben zu einem kleinen, engen Zimmer mit einem Bett, auf dem eine Matratze mit Baumwollfüllung lag, und einem Nachttopf. Die Fenster waren vergittert, aber die Wände mit Vögeln bemalt, und Makepeace fragte sich, ob es wohl früher einmal ein Kinderzimmer gewesen war. Der Diener, der fast selbst noch ein Kind war, hatte ein adlerähnliches Gesicht, wie der weißhaarige Mr. Crowe. Vielleicht waren sie verwandt.

«Sei dankbar für das, was du hast, und lass den Unfug mit dem Brüllen und dem Herumgrabschen, hörst du?», sagte er, als er ihr einen Krug mit Dünnbier und eine Schale mit Gemüseeintopf auf den Boden stellte. «Ansonsten gibt’s den Stock.»

Er zog die Tür hinter sich zu und drehte den Schlüssel im Schloss. Makepeace blieb verwirrt zurück. Herumgrabschen? Wann hatte sie je so etwas getan? Sie verstand gar nichts mehr.

Während sie die Schüssel leerte, starrte Makepeace durch die Gitter nach draußen in den grauen Himmel, auf den Innenhof und die Felder und das Moor jenseits der Einfriedung. Würde das hier ab heute für alle Zeit ihr Zuhause sein, dieses Turmgefängnis? Würde sie hier alt werden, weggesperrt, wo niemand sie sehen konnte, nur damit sie keinen Schaden anrichtete? Als die Wahnsinnige der Fellmotte-Familie?

Makepeace fand keine Ruhe. Ihr Kopf war vollgestopft mit Gedanken, und so lief sie in dem kleinen Zimmer auf und ab. Manchmal merkte sie, dass sie leise mit sich selbst redete oder dass ihr Murmeln tief, kehlig und wortlos geworden war.

Die Wände drehten sich um sie, als sie gegen sie ansprang, und die Tapete hing in Fetzen wie Birkenrinde. Sie kämpfte mit der Hitze und dem Lärm in ihrem Gehirn. Da war noch jemand im Zimmer, und er benahm sich sehr unvernünftig. Aber jedes Mal, wenn sie sich umdrehte, war niemand da.

Schließlich gaben ihre Knie nach und sie taumelte zu Boden, wo sie liegen blieb. Sie fühlte sich viel zu groß und zu schwer, um sich jemals wieder zu bewegen, wie eine Landschaft. Wunde und juckende Stellen zogen über Berge und Täler, als wären es Reisende. Sie registrierte sie ohne Interesse, kurz bevor sie vom Schlaf verschluckt wurde.

Und in ihren Träumen lief sie durch einen Wald, konnte aber kaum zehn Schritte in eine Richtung machen, ehe ein Baumstamm vor ihr auftauchte, gegen den sie auch prompt prallte. Alle möglichen Vögel hockten im Geäst und zwitscherten und verspotteten sie. Der Himmel schimmerte grauschwarz wie die Flügel einer Dohle, und ihre Kehle war rau vom Brüllen.

Im Morgengrauen erwachte Makepeace völlig zerschlagen. Benommen starrte sie durch die Gitter vor dem Fenster auf den violett angehauchten Himmel, vor dem fettige Wolkenfetzen dahinzogen. Eine Fledermaus flatterte in ihr Blickfeld und verschwand wieder, wie ein dunkler Gedanke.

Sie lag nicht im Bett, sondern auf dem Boden, und jeder Knochen in ihrem Leib tat ihr weh.

Vorsichtig setzte sich Makepeace auf, wobei sie sich mit einer Hand abstützte, und zuckte zusammen. Der Schmerz war überall. Selbst ihre Hände brannten. Sie schaute sie an und sah dunkle Schrammen auf den Knöcheln. Ein paar ihrer Nägel waren schon zersplittert gewesen, aber jetzt waren einige bis ins Nagelbett hinein abgebrochen. An ihrer linken Schläfe und auf ihrer rechten Wange hatten sich empfindliche Schwellungen gebildet, und als sie mit den Fingern ihren Körper abtastete, spürte sie Prellungen an ihren Armen und an der Hüfte.

«Was ist mit mir passiert?», fragte sie sich laut.

Vielleicht hatte sie einen Anfall gehabt. Eine andere Erklärung fiel ihr nicht ein. Der Diener hatte ihr zwar mit dem Stock gedroht, aber sie hätte es wohl gemerkt, wenn er hereingekommen wäre und sie damit traktiert hätte.

Ich muss mich selbst verletzt haben. Sonst ist ja niemand da.

Wie eine höhnische Antwort auf diesen Gedanken hörte sie plötzlich ein Geräusch hinter sich.

Makepeace wirbelte herum und suchte nach dem Ursprung des Geräuschs. Nichts. Nur der leere Raum und das breiter werdende Rechteck aus glänzendem Morgenlicht, das durch das Fenster fiel.

Ihr Herz hämmerte. Das Geräusch war so erschreckend deutlich gewesen wie ein Atemzug gegen ihren Nacken, der ihr jetzt noch im Ohr kitzelte. Und doch hätte sie es einen Augenblick später nicht mehr beschreiben können.

Grob. Animalisch. Mehr wusste sie nicht.

Und dann roch sie etwas. Es stank nach heißem Blut, Herbstwald, nach nassem Hund oder Pferd, moschusartig und intensiv. Sie erkannte den Geruch sofort.

Sie war nicht allein.

Das ist unmöglich! Er hat sich selbst verzehrt! Und wir sind drei Tagesritte von Poplar entfernt! Wie hat er mich gefunden? Und sie vernichten doch Geister hier – wie konnte er nach Grizehayes gelangen, ohne dass jemand ihn bemerkt hat?

Aber es war so. Dieser Geruch war unverkennbar. Irgendwie – obwohl es eigentlich unmöglich war – hatte Bär Zugang zu ihrem Zimmer gefunden.

Makepeace wich zur Tür zurück, obwohl sie wusste, dass es sinnlos war. Ihr Blick zuckte durch das Zimmer. Zu viele Schatten überall. Wichen sie zurück oder rückten sie vor? Waren da irgendwo durchsichtige Augen, die sie beobachteten?

Warum? Warum nur war er ihr gefolgt? Makepeace hatte Todesangst und fühlte sich gleichzeitig betrogen. Er hatte sich an seinen beiden Quälgeistern gerächt, aber sie hatte ihm doch gar nichts getan! Im Gegenteil – im Angel Inn hatte sie sogar den Eindruck gehabt, dass sie einander nahe gewesen waren, dass sie seinen Schmerz und seine Wut geteilt hatte und dass er ihr zu Hilfe gekommen war …

Aber er ist ein Geist. Und Geister wollen nur in deinen Kopf eindringen. Und außerdem ist er ein tumbes Tier und weiß nichts von Schuld und Sühne. Du Närrin. Hast du wirklich geglaubt, er sei dein Freund?

Und jetzt war sie mit ihm eingeschlossen. Sie konnte nirgends hin. Es gab keinen Ausweg.

Direkt neben ihrem Ohr ertönte plötzlich ein raues Geräusch. Glühend heiß. Ohrenbetäubend. Näher als nah.

Viel zu nah.

Makepeace geriet in Panik. Sie kreischte auf und rannte zur Tür, hämmerte mit den Fäusten gegen das Holz.

«Lasst mich raus!», schrie sie. «Ihr müsst mich rauslassen! Hier drin ist etwas! Hier drin ist ein Geist!»

Oh bitte, bitte mach, dass man eine Wache vor meine Tür gestellt hat! Bitte, bitte lass jemanden im Hof mich hören!

Sie rannte zum Fenster und versuchte, ihr Gesicht zwischen die Gitterstäbe zu quetschen.

«Hilfe!», schrie sie aus Leibeskräften. «Helft mir!»

Die kalten Stäbe brannten an ihren Wangen. Sie drückten gegen ihre linke Schläfe und ihre rechte Wange, genau dort, wo die Schwellungen saßen. Die Berührung erweckte eine Erinnerung. Das verschwommene Bild eines ähnlichen Moments, als sie ihren Kopf zwischen Stäbe stecken wollte, in dem Bestreben, sich zu befreien.

Makepeace hörte, wie ihr Schrei kehlig wurde, bis ein lang gezogenes, offenes Brüllen aus ihrem Mund drang. Und jetzt stemmte sie ihr Gesicht mit brutaler Kraft gegen die Eisenstäbe und versuchte, sich hindurchzuzwängen. Vor ihren Augen tanzten schwarze Punkte. Sie fühlte, wie ihre Hände hilflos an den Steinen kratzten, wie ihr die Haut von den Fingerspitzen geschält wurde.

Aufhören!, rief sie sich selbst zu. Aufhören! Was mache ich denn da?

Und da traf sie die Wahrheit wie eine Sternschnuppe.

O Gott. O Gott im Himmel. Ich bin ja so dumm.

Natürlich konnte Bär nach Grizehayes gelangen. Natürlich ist er hier.

Er ist in mir.

Ein blinder, wütender, verzweifelter Geist war in ihrem Innern. Ihre schlimmste Angst war Realität geworden. Und jetzt würde Bär in ihr herumstolpern und ihren eigenen Geist in Stücke schlagen. Er würde sie verletzen und ihren Körper zerschmettern in seinem irrsinnigen Verlangen, aus dem Turmzimmer zu entkommen.

Hör auf!

Voller Furcht rief sie ihre Gedankensoldaten auf den Plan, die Engel ihres Geistes. Sie tobten und wüteten, und sie hörte den Bären knurren. Mit einer übermenschlichen Anstrengung schloss sie die Augen und umfing sich selbst und Bär mit Dunkelheit. Die Nacht war voll mit stummem Lärm, denn ihr eigener Geist schrie vor lauter Angst genauso laut wie Bär.

Da passierte etwas. Ein Schlag erschütterte ihren Geist bis ins Mark. Einen kurzen Augenblick lang fühlte sie, wie ihre Seele ins Wanken geriet und darum kämpfen musste, aufrecht zu bleiben. Erinnerungen bluteten aus, Gedanken zerrissen. Der Bär hatte sie angegriffen.

Und doch war es dieser Schlag, der Makepeace die Angst nahm.

Er fürchtet sich. Er ist in Panik.

Sie stellte ihn sich vor, einen großen Bären, allein, verloren und gefangen in der Dunkelheit. Er verstand nicht, wo er war und warum sich sein Körper so seltsam und schwach anfühlte. Alles, was er wusste, war, dass er bedroht wurde; sein ganzes Leben lang wurde er schon bedroht …

Behutsam, aber entschlossen übernahm Makepeace wieder die Kontrolle über ihre Atmung. Einen Atemzug nach dem anderen sog sie mit erzwungener Ruhe in ihre Lungen und versuchte gleichzeitig, ihren Herzschlag zu verlangsamen. Sie schob die Angst, dass Bär sie von innen heraus zerfetzen würde, beiseite.

Ganz ruhig, flüsterte sie ihm in Gedanken zu.

Wieder stellte sie sich den Bären vor, aber jetzt stand sie im Geiste neben ihm, die Arme ausgestreckt, genau wie in jenem Moment, als sie versucht hatten, sich gegenseitig zu beschützen.

Ganz ruhig. Ganz ruhig, Bär. Ich bin’s.

Das stumme Brüllen wurde leiser und ging in ein unruhiges Knurren über. Vielleicht erkannte er sie, nur ein bisschen. Vielleicht verstand er allmählich, dass er nicht angegriffen wurde.

Ich bin dein Freund, sagte sie zu ihm. Und dann: Ich bin deine Höhle.

Höhle. Er kannte keine Worte, aber Makepeace fühlte, wie er die Vorstellung zögernd annahm, wie einen Apfel, den sie ihm darbot. Vielleicht hatte er niemals in der Wildnis gelebt, sondern war bereits in Gefangenschaft geboren worden. Aber er war immer noch ein Bär, und tief in seiner Seele wusste er, was eine Höhle war. Eine Höhle war kein Gefängnis. Eine Höhle war Geborgenheit.

Während er sich allmählich beruhigte, fragte sich Makepeace, wie ihr seine Gegenwart in ihrem Kopf nur hatte entgehen können. Vielleicht waren ihre Übelkeit und ihr merkwürdiges Verhalten das Resultat ihres Bestrebens gewesen, in ihrem Geist Platz für ihn zu schaffen.

Und er war riesig, wenn ein solches Wort auf ein Geistwesen überhaupt zutreffen konnte. Makepeace spürte nun seine gedankenlose Stärke. Vermutlich könnte er ihren Geist genauso leicht zerschmettern wie seine Pranken ihre Kehle hätten herausreißen können, als er noch am Leben gewesen war. Aber er war jetzt ruhiger, und sie merkte, wie er die Kontrolle über ihren Körper ein Stück weit an sie zurückgab. Wenigstens konnte sie wieder schlucken, ihre Schultern entspannen und ihre Finger bewegen.

Makepeace raffte ihren ganzen Mut zusammen und öffnete langsam die Augen. Sie schaute bewusst nicht zum Fenster. Gitter bedeuteten Gefangenschaft für Bär, und sie wollte nicht, dass er wieder in Panik geriet. Stattdessen blickte sie auf ihre Hände.

Sie ließ Bär sie sehen und krümmte langsam die Finger, damit er begriff, dass dies die einzigen Tatzen waren, die er jetzt noch hatte. Sie zeigte ihm die zerbrochenen und gesplitterten Nägel und die blutigen Fingerspitzen. Keine Krallen, Bär. Tut mir leid.

Ein kleines, dunkles Beben durchzog Bär. Dann senkte er Makepeaces Kopf und leckte mit ihrer Zunge über die verwundeten Finger.

Er war ein Tier und kannte weder Schuld noch Sühne. Er war ein Geist, dem man nicht vertrauen konnte. Vielleicht versorgte der Bär einfach nur instinktiv seine Verletzungen. Aber das Lecken war sehr sanft, als ob sie ein verwundetes Bärenjunges wäre.

Als der junge Diener mit einer Gerte das Zimmer betrat, um Makepeace zu züchtigen, weil sie «wie eine Heidin geheult und alle Teufel aus der Hölle herbeigerufen» hatte, war Makepeaces Entschluss gefasst. Sie würde Bär nicht verraten.

Lord Fellmotte hatte behauptet, es sei gefährlich, einen wilden Geist im Kopf zu haben, und vielleicht sprach er die Wahrheit. Aber sie mochte Obadiah nicht. Unter seinem Blick hatte sie sich wie eine Maus im Eulenrevier gefühlt. Wenn sie ihm von Bär erzählte, würde er Bär aus ihr herauszerren und vernichten.

Es war riskant, einem solchen Mann etwas vorzuenthalten. Wenn er jemals herausfand, dass Makepeace ein solches Geheimnis hatte, dann würde er vermutlich sehr wütend werden. Vielleicht würde er sie auf dem Moor aussetzen, wie er gedroht hatte, oder sie nach Bedlam schicken, wo man sie ankettete und auspeitschte.

Aber sie war froh, dass niemand auf ihre Hilferufe reagiert hatte. Bär hatte im Leben nie eine Chance gehabt. Sie war alles, was Bär hatte. Und Bär war alles, was sie hatte.

Und so sagte sie nichts, als die Gerte ein halbes Dutzend Mal auf ihre Schultern und ihren Rücken niedersauste. Die Hiebe stachen, und Makepeace wusste, dass sie Striemen hinterlassen würden. Sie kniff die Augen zusammen und gab sich alle Mühe, Bär in ihrem Geist ruhig zu halten. Wenn sie wieder die Kontrolle verlor und zuschlug, dann würde früher oder später jemand auf die Idee kommen, dass sie womöglich einen geisterhaften Passagier in sich trug.

«Das bereitet mir kein Vergnügen, weißt du», sagte der junge Mann mit frömmelnder Stimme, und Makepeace dachte, dass er das vermutlich tatsächlich glaubte. «Es ist zu deinem eigenen Besten.» Er hatte wahrscheinlich noch niemals so viel Macht über einen anderen Menschen gehabt.

Als er ging, standen Tränen in Makepeaces Augen, und sie hatte den Eindruck, als würde jemand rot glühende Eisen in das Fleisch auf ihrem Rücken drücken. Das Gefühl löste Erinnerungen aus, die aber nicht ihre eigenen waren.

Gitarrenklänge und Tamburinrasseln vibrierten in ihren Knochen und erschufen ein Bild von glühenden Kohlen unter ihren weichen, kindlichen Tatzen, die sie zum Tanzen zwangen. Sie torkelte und wollte sich auf alle viere fallen lassen, was ihr einen Schlag auf ihre empfindliche Schnauze einbrachte.

Es waren die Erinnerungen von Bär an seine frühe Kindheit, als man ihn abgerichtet hatte. Sie fühlte, wie sie um seinetwillen wütend wurde, und umarmte sich selbst, weil dies die einzige Möglichkeit war, wie sie ihn umarmen konnte.

In diesem Moment teilten Makepeace und Bär eine Erkenntnis. Manchmal musste man geduldig sein, weil man ansonsten noch mehr Schmerzen erlitt. Manchmal musste man alles aushalten und einstecken. Wenn man Glück hatte und wenn alle Welt dachte, man sei gezähmt und gebändigt … dann mochte eine Zeit kommen, wo man zurückschlagen konnte.

Schattengeister

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