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KAPITEL 3

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Du bringst mich noch ins Grab.

Mutters Worte gingen Makepeace nicht aus dem Kopf. Sie leisteten ihr in jedem wachen Moment Gesellschaft und zu jeder nächtlichen Stunde. Sie kamen aus dem Mund ihrer Mutter, doch jetzt mit einer ausdruckslosen und kalten Stimme.

Ich habe sie getötet, dachte Makepeace. Ich bin weggelaufen, und sie ist mir gefolgt, direkt in die Gefahr hinein. Es war meine Schuld, und sie hat mich zum Schluss deswegen gehasst.

Makepeace hatte geglaubt, dass man sie nun in demselben Bett wie ihre kleinen Kusinen schlafen lassen würde, aber sie musste immer noch mit der Matratze vorliebnehmen, die sie mit Mutter geteilt hatte. Vielleicht spürten die anderen, dass sie eine Mörderin war. Oder vielleicht wussten Tante und Onkel nicht, was sie nun mit ihr anfangen sollten, da die Klöppelarbeiten ihrer Mutter nicht mehr für ihren Unterhalt sorgten.

Sie war allein. Der kleine Zaun, der Makepeace und Mutter umgeben hatte, verlief nun nur noch um Makepeace und sperrte sie vom Rest der Welt aus.

Die Bewohner des Hauses beteten wie gewöhnlich, nur dass sie jetzt ein zusätzliches Gebet für Mutter sprachen. Makepeace erkannte, dass sie nicht länger so beten konnte, wie man es ihr beigebracht hatte. Sie konnte dem Herrn ihre Seele nicht mehr offenlegen. Sie versuchte es, aber ihr Inneres sah so wild und leer aus wie ein weißer Oktoberhimmel; nichts, was sie in Worte fassen konnte. Es war, als wäre ihre Seele verschwunden.

In der zweiten Nacht allein in ihrem Zimmer wollte Makepeace den Deckel von ihren Gefühlen anheben. Sie zwang sich, um Vergebung zu beten, für Mutters Seele und für ihre eigene. Der Versuch ließ sie erzittern, aber nicht vor Kälte. Sie hatte Angst, dass Gott ihr mit eisigem, unversöhnlichem Zorn lauschte und bis tief in den verfaulten Kern ihrer Seele blickte. Gleichzeitig überkam sie die Furcht, dass er überhaupt nicht zuhörte, dass er ihr nie zugehört hatte und nie zuhören würde.

Die Anstrengung laugte sie aus, und danach konnte sie einschlafen.

Tapp, tapp, tapp.

Makepeace schlug die Augen auf. Ihr war kalt, so ganz allein im Bett, ohne die Wölbung von Mutters Rücken neben sich. Der Verlust wog in der Schwärze der Nacht noch schwerer.

Tapp, tapp, tapp.

Das Geräusch kam vom Fenster; vielleicht hatten sich die Läden gelockert. Wenn das der Fall war, würden sie die ganze Nacht lang klappern und sie wach halten. Widerstrebend stand sie auf und tastete sich zum Fenster vor; sie fand sich auch ohne Licht in dem Zimmer zurecht. Sie strich über den Riegel und spürte, dass er fest verschlossen war. Und dann erzitterte etwas unter ihren Fingerspitzen, als von draußen wieder gegen den Fensterladen geklopft wurde.

Jenseits der hölzernen Latten hörte sie noch etwas anderes. Es war so leise und gedämpft, dass es kaum das Ohr kitzelte. Aber es klang wie eine menschliche Stimme. Und diese Stimme war entsetzlich vertraut. Makepeaces Nackenhaare stellten sich auf.

Da war es wieder, ein unterdrücktes Schluchzen, ganz dicht an den Fensterläden. Ein einzelnes Wort.

Makepeace.

In hundert Albträumen hatte Makepeace vergeblich darum gekämpft, die Läden in ihrem Geist geschlossen zu halten und die Schreckgespenster auszusperren. Ihre Hände zitterten bei dem Gedanken daran, doch noch immer lagen ihre Finger auf dem Riegel.

Die Toten sind wie Ertrinkende, hatte Mutter gesagt.

Makepeace stellte sich vor, wie ihre Mutter in der Nachtluft ertrank, wie sie langsam nach unten sank, mit weit ausgebreiteten Haaren. Sie stellte sich vor, wie hilflos, allein und verzweifelt sie nach Halt griff.

«Ich bin hier», flüsterte sie. «Ich bin es – Makepeace.» Sie drückte ihr Ohr an den Fensterladen, und sie glaubte, eine erstickte Antwort auf ihre Worte zu hören.

Lass mich ein.

Makepeace gefror das Blut in den Adern, aber sie ermahnte sich, keine Angst zu haben. Mutter würde nicht so sein wie die anderen toten Wesen. Das hier war anders. Was immer da draußen war, war immer noch Mutter. Makepeace konnte sie nicht im Stich lassen. Nicht noch einmal.

Sie löste den Riegel und öffnete den Fensterladen.

An einem kohlschwarzen Himmel glommen ein paar trübe Sterne. Eine klamme Brise sickerte ins Zimmer und verursachte ihr eine Gänsehaut. Makepeace wurde die Brust eng in der Gewissheit, dass noch etwas anderes außer dem Wind hereingekommen war. Die Dunkelheit war mit einem Mal anders beschaffen, und sie war nicht länger allein.

Makepeace überkam das schreckliche Gefühl, dass sie womöglich etwas Unwiderrufliches getan hatte. Ihre Haut kribbelte. Wieder fühlte sie es, dieses Kitzeln von Spinnenfüßen an ihrem Geist. Die verlangende, zögerliche Berührung des Todes.

Sie wich vom Fenster zurück und versuchte, ihre geistigen Abwehrkräfte zu mobilisieren. Aber wenn sie an Mutter dachte, wurden ihre selbst erfundenen Bannsprüche so nutzlos wie ein altes Kinderlied. Makepeace kniff die Augen zu, aber sie sah trotzdem Mutters Gesicht vor sich, wie es im Kerzenlicht an jenem ersten Abend in der Kapelle ausgesehen hatte. Ein fremdes Wesen mit einem unergründlichen Ausdruck, dem jede Wärme fehlte.

An ihrem Nacken spürte sie einen eisigen Hauch, den Atem von etwas Atemlosen. Ein Kitzeln an ihrem Gesicht und an ihrem Ohr – eine Haarsträhne, nichts weiter, das musste es sein. Sie erstarrte und atmete flach.

«Ma?», flüsterte sie so leise, dass ihre Stimme kaum die Luft aufwirbelte.

Eine Stimme antwortete ihr. Eine Beinah-Stimme. Ein geschmolzenes Etwas aus Klang, wie das Lallen eines Schwachkopfs, mit zerbrochenen und ausfasernden Konsonanten. Es war ihrem Ohr so nah, dass es in ihrem Kopf summte.

Makepeace riss die Augen auf. Da – da! – direkt vor ihr war ein wirbelndes, mottengraues, verzerrtes Gesicht. Die Augen waren nur Höhlen, der Mund ein klaffender, heulender Abgrund. Sie taumelte rückwärts, weg von diesem Gesicht, bis sie mit dem Rücken gegen die Wand prallte. Sie starrte und starrte und wollte nicht, dass es so war, auch als dieses Etwas schon mit Rauchfingern gierig nach ihren Augen krallte.

Gerade noch rechtzeitig kniff Makepeace die Augen zu und fühlte, wie sich eine Kälte auf ihren Lidern niederließ. Es war wie der Albtraum, es war wie alle Albträume, nur ohne die Hoffnung, aufwachen zu können. Sie hielt sich die Ohren zu, aber es war zu spät. Sie hatte sie gehört, diese weichen, schrecklichen Töne.

Lass mich ein … Lass mich ein … Makepeace, lass mich ein

Das Etwas tastete sich an ihrem Geist entlang, fand die Ritzen von Kummer, Liebe und Erinnerung in ihrer Verteidigungsmauer und riss an ihnen mit brutalen, gierigen Fingern. Es riss Stücke aus ihrem Herzen und ihrem Geist, während es sich seinen Weg hineinkämpfte. Es wusste, wie es ihre Abwehr umgehen konnte, kannte den Pfad zu ihrem weichen Kern.

Und mit einer Wildheit, die schierer Todesangst entsprang, wehrte sich Makepeace.

Mit ihrem Geist hieb sie um sich, zielte auf die rauchige Weichheit des Dings, fühlte es schreien, als sie es zu packen bekam und zerriss. Die Fetzen zappelten hilf- und sinnlos herum wie zerschnittene Würmer und versuchten, sich in ihre Seele zu graben. Es grabschte und krallte und klammerte sich an sie. Es konnte keine Worte bilden, nur winseln und heulen.

Makepeace wollte die Augen nicht mehr öffnen. Aber sie tat es trotzdem, ganz zum Schluss. Um zu sehen, ob es weg war.

Und sie sah, was aus dem Gesicht geworden war, was sie mit ihm gemacht hatte. Sie sah Angst und einen Schlund von Hass in den verdrehten, verschwindenden Zügen.

Es war kaum noch als Gesicht zu erkennen. Aber trotzdem war es irgendwie immer noch Mutter.

Makepeace wusste nicht mehr, dass sie geschrien hatte. Geschrien und geschrien. Das Nächste, woran sie sich erinnerte, war, dass sie auf dem Boden saß und in das Licht der Kerze ihrer Tante blinzelte und von der ganzen Familie mit Fragen überschüttet wurde. Die Läden waren fest verschlossen und klapperten leicht im Nachtwind. Tapp, tapp, tapp.

Die Tante erklärte Makepeace, dass sie vermutlich während eines Albtraums von der Matratze gerollt war. Makepeace musste ihr glauben. Die Vorstellung beruhigte sie nicht ganz und gar, denn schließlich wusste sie, dass die Geister, gegen die sie in Träumen kämpfte, manchmal wirklich waren. Aber bitte, lieber Gott, nicht dieser Geist. Dieser Geist durfte sie nicht angegriffen haben, und Makepeace durfte ihn nicht in Fetzen gerissen haben. Allein der Gedanke war unerträglich.

Es musste ein Traum gewesen sein. Voller Verzweiflung klammerte sich Makepeace an diesen Glauben.

Nur eine Woche nach diesem Vorfall ging das Gerücht um, ein Geist treibe in den Sümpfen sein Unwesen. Man sagte, er suche einen einsamen Streifen Land heim, der zu feucht war, als dass Vieh darauf hätte weiden können, und nur von einzelnen Trampelpfaden durchgezogen wurde, die nicht zu jeder Zeit begehbar waren.

Ein unsichtbares Etwas erschreckte einen Hausierer, indem es durch das Schilf brach und eine Bresche hinterließ. Die Hähne kehrten den Rebhühnern den Rücken und die Wasservögel flohen in einen anderen Teil des Moors. Und dann beherbergte mit einem Mal das Angel Inn, das zwischen dem Stadtrand und den Schilfgebieten lag, nicht nur Matrosen.

«Ein rachsüchtiger Geist», befand die Tante. «Man sagt, er sei bei Sonnenuntergang gekommen. Er hat eine Tür aus den Angeln gerissen, einen Haufen Geschirr zerschlagen und ein paar kräftige Männer grün und blau geprügelt.»

Makepeace war die einzige Person, die bei diesen Gerüchten nicht nur einen Anflug von Angst empfand, sondern auch Hoffnung. Mutters Grab befand sich am Rand des Sumpfes, nicht weit vom Angel Inn entfernt. Es war eine schreckliche Vorstellung, dass Mutters Geist in einem Anfall von Wahnsinn ein Haus verwüstet hatte, aber wenn er in einem Stück war, dann bedeutete das, dass Makepeace ihn nicht in Fetzen gerissen hatte. Dass sie Mutter nicht ein zweites Mal getötet hatte.

Ich muss sie finden, sagte sich Makepeace, obwohl ihr bei dem Gedanken übel wurde. Ich muss mit ihr reden. Ich muss sie retten.

Niemand aus Makepeaces Kirchengemeinde ließ sich im Angel Inn blicken außer dem alten William in seinen schwachen Momenten. Jedes Mal, wenn er wieder besoffen nach Hause gewankt war, stellte ihn der Pfarrer in seiner Predigt als schlechtes Beispiel dar und verlangte von den anderen, ihm Kraft zu geben und für ihn zu beten. Als sie über den aufgeweichten Feldweg zu dem Gasthaus ging, machte sich Makepeace Sorgen, dass nun sie am kommenden Sonntag der Trunkenheit bezichtigt werden würde.

Das Angel Inn war über Eck gebaut und umfasste wie ein angewinkelter Arm einen kleinen Innenhof. Eine Frau mit kantigem Kiefer und einer fleckigen Baumwollhaube fegte die Stufen und blickte auf, als Makepeace herbeikam.

«Hallo Püppchen», sagte sie. «Kommst du deinen Vater holen? Welcher ist es denn?»

«Nein, ich … ich will etwas über den Geist erfahren.»

Die Frau schien nicht überrascht zu sein, sie nickte knapp und geschäftsmäßig.

«Du musst ein Getränk bestellen, wenn du einen Blick hineinwerfen willst.»

Makepeace folgte ihr in den dunklen Schankraum, legte mit einem leisen Schuldgefühl eine Münze vom Wirtschaftsgeld ihrer Tante auf den Tresen und bekam einen Becher mit Dünnbier dafür. Dann brachte die Frau sie zur Hintertür hinaus.

Hinter dem Gasthaus befand sich ein Areal, das mit Sägespänen ausgelegt war. Makepeace vermutete, dass hier die Vergnügungen stattfanden, wenn genug Gäste da waren, damit sich die Sache rentierte: kahlrasierte Pugilisten, die sich mit bloßen Fäusten gegenseitig zu Brei schlugen, Hahnenkämpfe und Dachshatzen oder weniger blutige Spiele wie Wurfringe, Kegeln oder Bowls. Hier und da waren die Sägespäne dunkel verfärbt, entweder von verschüttetem Schwarzbier oder von Blut. Hinter diesem Bereich lag eine niedrige Mauer mit einem Übertritt und dahinter wiederum das scheinbar endlose Marschland mit dem im Wind wogenden Wald aus Schilf, das im Licht des späten Nachmittags leicht glänzte.

«Komm her, schau dir das an.» Die Frau schien fast stolz auf die Sensation zu sein, die sie Makepeace vorweisen konnte. Der Riegel der Hintertür war zerbrochen und ein Paneel zersplittert. Ein Fenster war eingeschlagen, der Bleirahmen verbogen, und etliche der kleinen Scheiben waren blind von unzähligen feinen Rissen. Ein Stoffbanner hing in Fetzen und das Motiv war nur noch mit Mühe zu erkennen – ein Dudelsack, ein paar Trommeln, irgendein dunkles Tier. Ein Tisch lag umgeworfen auf dem Boden und zwei Stühle hatten zerbrochene Rückenlehnen.

Während Makepeace sich umschaute, wurde ihr das Herz schwer. Erst jetzt wurde ihr klar, dass keines der toten Wesen, denen sie bisher begegnet war, einen echten, greifbaren Schaden hinterlassen hatte. Die Toten hatten ihren Geist angegriffen, aber nie auch nur eine Tasse zerbrochen.

Vielleicht war das nur eine gewöhnliche Wirtshausschlägerei, dachte Makepeace. Scheu betrachtete sie das abgehärmte, verschlagene Gesicht der Wirtin. Vielleicht will sie Kapital aus dem Schaden schlagen und tut so, als ob ein Geist dafür verantwortlich ist, damit die Leute herkommen und etwas trinken.

Die Wirtin führte Makepeace zu zwei Männern, die mit grimmigen Gesichtern im Freien ihre Humpen stemmten. Beide waren hager und wettergegerbt. Es waren keine Dörfler, und Makepeace vermutete anhand der Bündel, die neben ihren Füßen lagen, dass sie zum fahrenden Volk gehörten.

«Die Kleine ist wegen dem Geist hier», sagte die Frau und wies mit einer Kopfbewegung auf Makepeace. «Ihr könnt doch ein Lied davon singen, nicht wahr?»

Die beiden Männer wechselten einen Blick und runzelten die Stirn. Offensichtlich war das eine Geschichte, die sie nicht gern erzählten.

«Spendiert sie uns ein Bier?», fragte der größere der beiden.

Die Wirtin blickte Makepeace mit hochgezogenen Augenbrauen an. Mit einem üblen Gefühl in der Magengrube und der fast sicheren Gewissheit, dass sie hereingelegt wurde, trennte sich Makepeace von einer weiteren Münze, und die Wirtin ging, um noch mehr Bier zu holen.

«Es kam aus der Dunkelheit. Siehst du das hier?» Der größere Mann hob die Hand, die mit einem schmutzigen Taschentuch verbunden war, das hier und da dunkle Flecken getrockneten Bluts aufwies. «Hat den Mantel meines Kameraden zerfetzt und mich dermaßen gegen die Wand geschleudert, dass mir beinahe das Hirn aus dem Schädel gefallen wäre. Unsere Fiedel ist auch nur noch ein Haufen Splitter.» Das Instrument sah in der Tat so aus, als ob jemand darauf herumgetrampelt wäre. «Mistress Bell nennt es einen Geist, aber ich sage, es war der Teufel. Ein unsichtbarer Teufel.»

Sein Zorn schien nicht gespielt zu sein, aber Makepeace wusste trotzdem nicht, ob sie ihm glauben sollte. Alles ist unsichtbar, wenn man im Suff nicht mehr klar sehen kann, dachte sie.

«Hat es etwas gesagt?» Makepeace erschauerte unwillkürlich, als sie an die geschmolzene Stimme aus ihrem Vielleicht-Traum dachte.

«Nicht zu uns», sagte der kleinere der beiden. Er streckte die Hand mit dem Becher aus, als die Wirtin mit dem Krug zurückkehrte, und ließ sich nachschenken. «Nachdem es uns wie zwei Sandsäcke gebeutelt hatte, ist es da lang.» Er deutete in Richtung der Sümpfe. «Hat unterwegs noch einen Pfosten umgehauen.»

Makepeace trank aus und fasste sich ein Herz.

«Pass auf, wo du hintrittst, Püppchen!», rief ihr die Wirtin nach, als sie sah, dass Makepeace über den Tritt stieg, der zu den Sümpfen führte. «Einige der Wege sehen trocken aus, rutschen dir aber unter den Füßen weg. Wir haben keine Lust, dass uns dein Geist auch noch heimsucht!»

Das Rascheln und Knirschen von Makepeaces Schritten klang überlaut, als sie hinaus auf das Marschland ging, und sie merkte, dass hier kein einziger Vogel sang. Nur die dürre Musik der Schilfstängel, die aneinanderrieben, und das papierartige Rauschen der vereinzelt stehenden jungen Pappeln, deren Blätter in der Brise graugrün und silbrig schimmerten, begleiteten ihren Weg. Die Stille sickerte bis in ihre Knochen und mit ihr die Angst, dass sie – wieder einmal – einen schrecklichen Fehler machte.

Sie schaute sich nervös um und erkannte mit einem leichten Schaudern, dass sie sich bereits ein gutes Stück vom Gasthaus entfernt hatte. Sie kam sich wie ein kleines Boot vor, das sich aus der Vertäuung gelöst hatte und hilflos von der Küste wegtrieb.

Und als sie so dastand, schlug mit einem Mal eine unsichtbare Welle über Makepeace zusammen.

Ein Gefühl. Nein, ein Geruch. Ein Gestank nach Blut, Herbstwald und alter, feuchter Wolle. Es war ein heißer Geruch. Er juckte und kratzte an ihrem Geist wie ein Atemhauch. Er erfüllte Makepeaces Sinne, vernebelte ihr den Blick und verursachte ihr Übelkeit.

Geist, das war alles, was sie in ihrer Hilflosigkeit denken konnte. Ein Geist.

Aber das war ganz anders als jener kalte, tückische Ansturm, den sie bisher von Geistern erlebt hatte. Dieses Wesen hier versuchte nicht, in sie hineinzugelangen – es wusste gar nicht, dass sie da war. Es prallte einfach nur gegen sie, heiß, schrecklich und blind.

Die Welt verschwamm, und sie wusste kaum noch, wo sie war, wer sie war. Sie wurde von einer Erinnerung verschluckt, die nicht ihr gehörte.

Die Sonne stach. Der Gestank der Sägespäne ließ sie würgen. Ihre Lippe tat entsetzlich weh, und sie konnte keine Worte formen. In ihren Ohren dröhnte es, und gleichzeitig hörte sie ein grausames, rhythmisches Hämmern. Mit jedem Hammer-schlag riss etwas schmerzhaft an ihrem Mund. Als sie versuchte zurückzuweichen, schoss ihr ein rot glühender Schmerz in die Schultern. Makepeace brannte vor Zorn, der aus Schmerzen und Pein entsprang.

Die Welle ebbte ab, und Makepeace krümmte sich. Ringsum glühte die Welt immer noch vor gleißendem Sonnenlicht, in ihrem Kopf hämmerte es und die Übelkeit stieg in ihr hoch. Halb blind machte sie einen taumelnden Schritt, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden, und fühlte stattdessen, wie ihr Fuß auf dem feuchten, unebenen Boden unter ihr wegrutschte. Sie schlitterte vom Weg und landete mit ausgebreiteten Armen im Schilf, wobei sie kaum fühlte, wie die harten Stängel ihr Gesicht und Arme zerkratzten. Dann beugte sie sich vor und erbrach sich, wieder und wieder.

Schließlich klärte sich der Nebel in ihrem Kopf. Die fremde Qual verschwand. Aber über allem lag ein erstickender Fäulnisgestank. Und ein Summen hörte sie ebenfalls.

Aber es war anders als eben noch. Aus dem üblen rhythmischen Hämmern war ein insektenartiges Sirren geworden, wie von Dutzenden winziger schlagender Flügel.

Unsicher kam sie auf die Füße und schob die Schilfstängel beiseite. Dann stieg sie weiter den Abhang nach unten. Mit jedem Schritt wurde der Boden weicher und klebriger. Sie war nicht das einzige Lebewesen, dass hier entlang gegangen war, denn überall lagen zerbrochene Stängel, und in den Schlamm waren Rillen gegraben.

Und dahinter lag etwas in einer überwucherten Grube, halb verdeckt durch das Schilf. Etwas Dunkles. Etwas, das ungefähr die Größe eines Mannes hatte.

Makepeace fühlte, wie sich ihr der Magen umdrehte. Sie hatte sich geirrt, hatte sich mit allem geirrt. Wenn das da eine Leiche war, dann war der Geist überhaupt nicht Mutter. Vielleicht hatte sie gerade ein Mordopfer entdeckt. Und vielleicht war der Mörder noch in der Nähe und beobachtete sie.

Oder vielleicht war dies ein Reisender, der von dem wilden Geist niedergestreckt worden war und Hilfe brauchte. Nein, sie konnte nicht weglaufen, obwohl sie es sich mit jeder Faser ihres Körpers wünschte.

Sie trat näher. Der Schlamm quatschte bei jedem Schritt unter ihren Sohlen. Das Ding war dunkelbraun, groß und hatte die Form eines Hügels. Es war eingehüllt von einer Wolke aus flinken, grünschwarzen Fliegen.

Ein Mann in einem Wollmantel?

Nein.

Die Gestalt wurde deutlicher. Und endlich konnte Makepeace erkennen, was es war und was es nicht war. Einen Augenblick lang war sie erleichtert.

Dann überkam sie eine gewaltige Woge furchtbarer Traurigkeit, stärker als ihre Angst oder Abscheu, stärker noch als der Gestank. Sie rutschte nach unten und kauerte sich neben den Hügel, wobei sie ihr Taschentuch vor den Mund hielt. Dann strich sie ganz sanft mit der Hand über die klatschnasse dunkle Gestalt.

Es war kein Leben mehr darin. In dem Schlamm waren Rillen, wo das Wesen versucht hatte, sich aus der Grube zu befreien. Blutige, eitrige Wunden sprachen von brutalen Ketten und Eisen. Sie konnte den Anblick des zerrissenen Mauls kaum ertragen, die klaffende Höhle und das Rinnsal aus dunklem Blut.

Jetzt wusste sie, dass sie immer noch eine Seele hatte. Und die stand in Flammen.

Makepeace war über und über mit Schlamm bedeckt und mit Dornen gespickt, als sie wieder in den Hinterhof des Gasthauses trat, aber es war ihr egal. Ein kleiner Holzschemel war das Erste, was ihr in die Quere kam. Sie hob ihn auf und spürte sein Gewicht vor lauter Zorn überhaupt nicht.

Die beiden wandernden Schausteller hockten in der Ecke und unterhielten sich leise und angeregt. Keiner von beiden achtete auf Makepeace. Oder zumindest so lange nicht, bis sie den Schemel schwang und ihn dem größeren der beiden ins Gesicht schmetterte.

«Argh! Du verrücktes kleines Luder!» Er starrte sie ungläubig an und griff sich an den blutüberströmten Mund.

Makepeace gab keine Antwort, sondern schlug ein zweites Mal zu, diesmal in seinen Magen.

«Lass das! Hast du den Verstand verloren?» Der kleinere Mann packte Makepeaces Schemel. Sie trat ihm mit voller Wucht gegen die Kniescheibe.

«Ihr habt ihn zum Sterben zurückgelassen!», schrie sie. «Ihr habt ihn geschlagen und gequält und ihn an der Kette gezogen, bis ihr sein Maul ausgerissen habt. Und als er nicht mehr aufrecht stehen konnte, habt ihr ihn in diese Grube geworfen!»

«Was ist denn in dich gefahren?» Die Wirtin stand jetzt neben Makepeace und hatte in dem Versuch, sie zurückzuhalten, einen starken Arm um sie gelegt. «Wovon redest du denn?»

«VON DEM BÄREN!», brüllte Makepeace.

«Ein Bär?», wiederholte Mistress Bell verblüfft und warf den Schaustellern einen Blick zu. «Ach je, ist euer Tanzbär etwa gestorben?»

«Ja, und wie sollen wir jetzt unseren Lebensunterhalt verdienen? Das sag mir mal einer!», fuhr der kleinere Mann auf. «Dieser Ort hier ist verflucht – hier findet man nichts als Pech, unsichtbare Teufel und verrückte Gören …»

Der größere Mann spuckte Blut in seine Hand. «Diese kleine Schlampe hat mir einen Zahn ausgeschlagen!», rief er fassungslos und bedachte Makepeace mit einem Mörderblick.

«Ihr habt nicht mal gewartet, bis er tot war, ehe ihr ihm den Ring aus der Nase gerissen habt!», kreischte Makepeace. In ihrem Kopf sang es. Gleich würde einer der Männer ausholen und sie schlagen, aber das war ihr egal. «Kein Wunder, dass er zurückkam! Kein Wunder, dass er wütend ist! Ich hoffe, ihr entkommt ihm niemals! Ich hoffe, er bringt euch beide um!»

Beide Männer brüllten jetzt, und die Wirtin versuchte, alle Anwesenden zu beruhigen. Aber Makepeace hörte rein gar nichts außer diesem grünschwarzen zornigen Surren in ihrem Kopf.

Sie zerrte an dem Schemel, und der kleinere der Männer zerrte zurück. Sie gab der Bewegung nach und stieß den Schemel von unten nach oben, sodass er gegen seine Nase prallte. Er quiekte zornig auf, ließ den Schemel los und griff nach einem Eichenstock, der an seinem Bündel lehnte. Die Wirtin lief um Hilfe schreiend davon, und Makepeace stand nun zwei Männern mit blutigen Gesichtern und zornblitzenden Augen gegenüber.

Aber ihr Zorn war nichts gegen den Zorn des Bären, der aus den Sümpfen zum Angriff stürmte.

Makepeace, die in die richtige Richtung blickte, sah ihn – oder sah ihn fast. Der Bär war ein dunkler, rauchiger Schemen mit vier Beinen und einem gewölbten Rücken, größer als er im Leben gewesen war. In einem atemberaubenden Tempo kam er auf das Trio zugelaufen. Durchsichtige Löcher markierten die Augen und das aufgerissene Maul.

Die Wucht des Aufpralls riss Makepeace von den Füßen. Benommen lag sie auf dem Boden. Die Dunkelheit, die der Bär war, türmte sich über ihr auf. Es dauerte einen Moment, ehe sie begriff, dass sie zu seinem mächtigen, schattenhaften Rücken aufblickte. Er stand zwischen ihr und ihren Feinden, als ob sie sein Junges wäre.

Durch die verschwommene Kontur konnte sie immer noch die beiden Schausteller sehen, die sich ihr drohend näherten, einer mit dem hoch erhobenen Stock. Der Bär war für sie unsichtbar. Sie hatten keine Ahnung, warum der auf sie gerichtete Hieb sein Ziel nicht traf, sondern von einer riesigen dunklen Pranke beiseite gewischt wurde.

Nur Makepeace konnte es sehen. Nur sie sah, wie der Zorn des Bären ihn auflöste, wie der Geist mit jeder Bewegung weniger wurde. Er blutete Nebelfetzen, während er sein stummes Gebrüll ausstieß. Seine Flanken schienen zu dampfen.

Er verlor sich selbst, ohne es zu wissen.

Makepeace kämpfte sich auf die Knie. Ihr war übel von dem Bärengestank, schwindlig von dem Zorn, der in ihrem Blut brauste. Instinktiv streckte sie die Arme aus und umfasste den wütenden Schatten. In diesem Moment wollte sie nur den Bären zusammenhalten und verhindern, dass er schmolz.

Ihre Arme schlossen sich um die Dunkelheit, und sie fiel in sie hinein.

Schattengeister

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