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KAPITEL 2

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An einem angenehmen, sonnigen Tag im Mai machten sich Makepeace und Mutter auf den Weg in die Stadt, um Mutters Klöppelarbeiten zu verkaufen. Der Frühling war mild, aber in London brodelte und knisterte es wie bei einem Gewitter. Makepeace wünschte sich weit weg.

Nicht nur Makepeace hatte sich verändert und war zorniger geworden, das Gleiche galt auch für Poplar und London. Und wenn man dem Geschwätz der jungen Lehrburschen glauben wollte, war es überall im ganzen Land so.

In den Gebetsstunden hatte Nanny Susan mit ihrer roten Nase schon immer Visionen vom Ende der Welt zum Besten gegeben – ein Meer, rot von Blut, und das mit der Sonne bekleidete Weib aus der Bibel, das durch die High Street von Poplar ging. Aber jetzt redeten auch andere auf die gleiche Art und Weise. Es wurde gesagt, dass vor ein paar Jahren während eines Sommersturms die Wolkenberge die Gestalt von zwei mächtigen Armeen angenommen hatten. Und jetzt herrschte die düstere Vorahnung, dass tatsächlich zwei feindliche Armeen aufgestellt wurden.

Die Leute von Poplar waren seit jeher inbrünstig dem Gebet zugetan gewesen, aber jetzt beteten sie wie ein belagertes Volk. Alle hatten das Gefühl von einer Bedrohung, die das ganze Land zu überrollen drohte.

Makepeace konnte sich nicht alle Einzelheiten merken, aber sie begriff das Wesentliche. Die intriganten, teuflischen Katholiken wollten König Charles verführen und ihn zur Abkehr von seinem Volk bewegen. Die braven Männer des Parlaments versuchten, ihn zur Vernunft zu bringen, aber er hörte nicht länger auf sie.

Niemand wollte dem König direkt die Schuld geben. Das war Hochverrat und man lief Gefahr, dass einem die Ohren abgeschnitten wurden oder man ein Brandeisen ins Gesicht gedrückt bekam. Nein, alle waren sich darüber einig, dass der Ratgeber des Königs, Erzbischof Laud, «Black Tom Tyrant» genannt (auch bekannt als der Earl of Stafford), der wahre Schuldige war – und natürlich die üble Königin Mary, die den Geist des Königs mit ihrer französischen Tücke vernebelte.

Wenn niemand sie aufhielt, dann würden sie aus dem König einen blutigen Tyrannen machen. Er würde sich dem falschen Glauben zuwenden und seine Soldaten ausschicken, um alle loyalen, gottesfürchtigen Protestanten im Land zu töten. Der Teufel selbst war aus der Hölle gekommen, flüsterte in Ohren, verwirrte Gemüter und leitete die Taten der Menschen mit Hinterlist und Tücke. Es war ein Wunder, dass man nirgends versengte Spuren seiner Bocksfüße auf der Straße sah.

Die Angst und der Zorn in Poplar waren unübersehbar, aber Makepeace spürte darunter auch eine heftige Erregung. Wenn die Welt auseinanderbrach, wenn den Menschen harte Prüfungen bevorstanden, wenn der Tag des Jüngsten Gerichts nahte, dann waren die Gläubigen von Poplar dafür gerüstet. Sie waren Soldaten des Herrn; sie würden widerstehen, predigen und marschieren.

Und als sie jetzt durch die Straßen von London ging, empfand Makepeace wieder dieses erregte Kribbeln in der Luft, die gleiche Bedrohung.

«Hier riecht es komisch», sagte sie. Mutter war wieder Mutter, also konnte sie es wagen, ihre unfertigen Gedanken zu äußern.

«Das ist nur der Rauch», sagte Mutter kurz angebunden.

«Nein, das stimmt nicht», sagte Makepeace. Es war nicht direkt ein Geruch, und sie wusste, dass Mutter genau verstand, was sie meinte. Es war eine Warnung, eine Vorahnung, wie die Ruhe vor dem Sturm. «Es riecht nach Metall. Können wir heimgehen?»

«Ja», sagte Mutter trocken. «Wir können heimgehen und Steine essen, weil du ja nicht willst, dass wir uns unser Brot verdienen.» Unbeirrt ging sie weiter.

Makepeace fand London bedrückend. Hier gab es zu viele Menschen, zu viele Gebäude, zu viele Gerüche. Aber heute lag ein neues Brausen und Brodeln in der Luft. Warum war sie noch nervöser als sonst? Was war anders? Sie schaute von einer Seite zur anderen und bemerkte die vielen neuen Plakate an den Türen und Pfosten.

«Was ist das?», fragte sie flüsternd, aber es war eine müßige Frage. Mutter konnte genauso wenig lesen wie Makepeace. Die breiten schwarzen Buchstaben sahen aus, als würden sie schreien.

«Brüllende Tintentiger», sagte Mutter. London wurde überschwemmt von aufrührerischen Pamphleten, gedruckten Predigten, Prophezeiungen und Beschuldigungen, von denen einige an den König und andere an das Parlament gerichtet waren. Mutter nannte sie immer scherzhaft «Tintentiger», die brüllten, aber nicht zubissen.

In den vergangenen zwei Tagen war mehr stumm gebrüllt worden als sonst. Vor zwei Wochen hatte der König zum ersten Mal seit Jahren das Parlament zusammengerufen, und alle, die Makepeace kannte, waren freudig erregt und erleichtert gewesen. Aber vor zwei Tagen hatte er das Parlament in einem Anfall königlicher Rage wieder entlassen. Jetzt lag ein drohendes Grollen in dem Murmeln der Leute, die bleiche Sonne im Himmel schien zu erzittern, und alle warteten darauf, dass etwas geschehen würde. Jedes Mal, wenn irgendwo ein lauter Schlag oder ein Schrei ertönte, sahen alle auf. Hat es angefangen?, fragten ihre Augen. Niemand wusste so recht, was es war, aber es stand unzweifelhaft kurz bevor.

«Ma … warum sind so viele Lehrburschen unterwegs?», fragte Makepeace leise.

Zu Dutzenden waren sie auf der Straße, standen zu zweit oder zu dritt in Türrahmen oder Gassen, mit kurz geschnittenen Haaren, ruhelos, die Hände schwielig von Webstuhl und Drechselbank. Die Jüngsten waren etwa vierzehn, die Ältesten Anfang zwanzig. Sie hätten eigentlich alle bei der Arbeit sein und die Anweisungen ihrer Meister befolgen sollen, und doch standen sie draußen im Freien.

Die Lehrburschen waren die Wetterhähne für die Stimmung in der Stadt. Wenn London mit sich selbst im Reinen war, waren sie nichts weiter als Jungen, die herumbummelten, flirteten und die Welt mit geschmacklosen und gewitzten Sprüchen spickten. Aber wenn es in London stürmisch zuging, wandelten sie sich. Ein dunkles und feuriges Wetter wütete in ihren Reihen, und manchmal wurden sie wild und schlossen sich zu zügellosen Mobs zusammen, die Türen und Schädel mit ihren Stiefeln und Knüppeln zerbrachen.

Mutter betrachtete die kleinen, müßigen Grüppchen und machte ein besorgtes Gesicht.

«Es sind ziemlich viele», stimmte sie Makepeace zu. «Wir gehen nach Hause. Die Sonne steht ohnehin schon tief. Und … du wirst deine Kraft brauchen. Es ist eine warme Nacht heute.»

Einen Augenblick lang empfand Makepeace Erleichterung, dann sank Mutters letzter Satz in ihren Geist. Makepeace blieb wie angewurzelt stehen, überwältigt von Fassungslosigkeit und Wut.

«Nein!», fuhr sie auf, überrascht von ihrer eigenen Entschlossenheit. «Ich werde nicht gehen! Ich gehe nie wieder auf diesen Friedhof.»

Mutter schaute sich scheu um, packte dann Makepeace am Arm und zerrte sie in die nächstbeste Gasse.

«Du musst!» Mutter nahm Makepeace bei den Schultern und schaute ihr fest in die Augen.

«Beim letzten Mal wäre ich beinahe gestorben!», protestierte Makepeace.

«Du hast dich bei der Archers-Tochter mit den Pocken angesteckt», versetzte Mutter. «Der Friedhof hatte nichts damit zu tun. Eines Tages wirst du mir danken. Ich habe es dir doch gesagt – ich sorge dafür, dass du deinen Stock spitzt.»

«Ja, ich weiß!», rief Makepeace, die ihre Verzweiflung nicht verbergen konnte. «Die ‹Wölfe› sind die Geister, und du willst, dass ich lerne, stark zu sein, damit ich sie abwehren kann. Aber warum kann ich mich nicht einfach von Friedhöfen fernhalten? Wenn ich nicht in der Nähe von Geistern bin, dann droht mir keine Gefahr! Du selbst wirfst mich doch den Wölfen vor, wieder und wieder!»

«Du irrst dich», sagte Mutter leise. «Diese Geister sind nicht die Wölfe. Diese Geister sind nichts weiter als hungrige Schemen – nichts im Vergleich zu den Wölfen. Und die Wölfe sind da draußen, Makepeace. Sie suchen nach dir, und eines Tages werden sie dich finden. Bete, dass du dann erwachsen und stark genug bist, um dich zu wehren.»

«Du versuchst doch nur, mir Angst einzujagen», sagte Makepeace. Ihre Stimme zitterte, aber nicht vor Angst, sondern vor Zorn.

«Richtig! Hältst du dich etwa für eine bedauernswerte Märtyrerin, die sich nachts zitternd zusammenkauert, während diese kleinen Irrlichter an ihren Wangen lecken? Das ist gar nichts. Da draußen gibt es viel Schlimmeres. Du solltest Angst haben!»

«Warum können wir nicht meinen Vater bitten, uns zu beschützen?» Makepeace wusste, dass sie sich auf ein gefährliches Terrain begab, aber sie war zu weit gegangen, um jetzt noch umzukehren. «Ich wette, er würde mich nicht auf irgendwelche Friedhöfe schicken!»

«Er ist der Letzte, den wir um Hilfe bitten können», sagte Mutter mit einer Bitterkeit, die Makepeace noch nie bei ihr gehört hatte. «Vergiss ihn.»

«Warum?» Plötzlich ertrug Makepeace das ganze Schweigen in ihrem Leben nicht mehr, all das, wonach sie nicht fragen und was sie nicht aussprechen durfte. «Warum erzählst du mir nie etwas? Ich glaube dir nicht mehr! Du willst nur, dass ich auf ewig bei dir bleibe! Du willst mich für dich allein haben! Du willst mich nicht zu meinem Vater lassen, weil du weißt, dass er mich haben will!»

«Du hast ja keine Ahnung, wovor ich dich bewahrt habe!», fuhr ihre Mutter auf. «Wenn wir in Grizehayes geblieben wären …»

«Grizehayes», wiederholte Makepeace und sah, wie ihre Mutter bleich wurde. «Lebt mein Vater da? Ist dies das alte Haus, das du erwähnt hast?» Jetzt hatte sie einen Namen. Endlich. Das bedeutete, dass sie danach suchen konnte. Irgendwo würde irgendjemand diesen Namen kennen.

Aber der Name klang merkwürdig. Sie konnte sich das Haus, zu dem er gehörte, nicht vorstellen. Es war, als ob ein schwerer, silbriger Nebel zwischen ihr und seinen uralten Zinnen lag.

«Ich werde nicht mehr auf den Friedhof gehen», sagte Makepeace. Ihre Willenskraft stemmte sich fest in die Erde und machte sich auf Widerstand gefasst. «Nie mehr. Wenn du mich zwingst, dann laufe ich weg. Ganz bestimmt. Ich werde nach Grizehayes gehen. Ich werde meinen Vater finden. Und ich werde nie zurückkommen.»

Mutters Augen wurden glasig vor Verblüffung und Wut. Mit dieser neuen, trotzigen Makepeace wusste sie nicht umzugehen. Dann sickerte alle Wärme aus ihrer Miene, und zurück blieb eine kalte, ausdruckslose Maske.

«Dann lauf doch», sagte sie eisig. «Wenn es das ist, was du willst, von mir aus. Ich werde dich nicht aufhalten. Aber wenn du dich in die Hände dieser Leute begibst, dann sag später nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.»

Mutter gab niemals nach, wurde niemals weich. Wenn Makepeace sie herausforderte, verdoppelte Mutter einfach den Einsatz, deckte Makepeaces Bluff auf und ließ sie dann im Regen stehen. Und die Drohung, wegzulaufen, war tatsächlich nur ein Bluff gewesen. Aber als sie jetzt in Mutters kalte Augen starrte, kam ihr zum ersten Mal der Gedanke, dass sie es vielleicht tatsächlich tun würde. Die Vorstellung raubte ihr den Atem; sie hatte ein Gefühl von Schwerelosigkeit.

Und dann schaute Mutter über Makepeaces Schulter hinweg auf etwas hinter ihr auf der Straße, und mit einem ungläubigen Ausdruck erstarrte sie. Ihre Lippen formten Worte, die sie so leise aussprach, dass Makepeace sie kaum verstehen konnte.

… Wenn man vom Teufel spricht

Makepeace schaute hinter sich und sah gerade noch einen groß gewachsenen Mann in einem Mantel aus kostbarer dunkelblauer Wolle vorbeigehen. Er war etwa vierzig Jahre alt, aber sein Haar war schneeweiß.

Sie kannte das Sprichwort: Wenn man vom Teufel spricht, kommt er herein. Mutter hatte von «diesen Leuten» gesprochen, von den Leuten aus Grizehayes, und dann hatte sie diesen Mann gesehen. War das jemand aus Grizehayes? Vielleicht sogar ihr Vater?

Makepeace fing den Blick ihrer Mutter auf. Ihre eigenen Augen waren wild vor Erregung und Triumph. Dann drehte sie sich um und wollte in Richtung der Straße laufen.

«Nein!», zischte Mutter und packte mit beiden Händen ihren Arm. «Makepeace!»

Aber ihr Name war nur ein leises Schaben an Makepeaces Ohr. Sie hatte es satt, Frieden zu machen mit all den Problemen, für die sie nie eine Erklärung bekam. Sie entwand sich dem Griff ihrer Mutter und rannte zu der Straße hin.

«Du bringst mich noch ins Grab!», rief ihre Mutter ihr nach. «Makepeace, bleib stehen!»

Makepeace blieb nicht stehen. Sie sah den blauen Mantel und das weiße Haar des Fremden weit voraus, als er um eine Ecke bog und verschwand. Ihre Vergangenheit drohte ihr zu entgleiten.

Als sie die Ecke erreichte, wurde er gerade von der Menschenmenge verschluckt, und sie rannte ihm hinterher. Makepeace hörte hinter sich, wie Mutter ihren Namen rief, doch sie schaute sich nicht um. Stattdessen folgte sie dem Unbekannten durch eine Straße, dann durch eine zweite und eine dritte. Oft dachte sie, sie hätte ihn verloren, doch dann erhaschte sie wieder einen Blick auf den schneeweißen Haarschopf.

Makepeace konnte nicht aufgeben, auch nicht, als sie über die große Brücke von London nach Southwark lief. Die Gebäude entlang der Straße wurden schäbiger und die Gerüche übler. Gelächter wehte aus den Hafenkneipen, und vom Fluss drangen Flüche und das Knarren der Riemen. Es war dunkler geworden. Die Sonne sank und verschwand aus dem Blickfeld, und der Himmel hatte sich zu einem schmutzigen Bleigrau eingetrübt. Dennoch ging es auf den Straßen ungewöhnlich lebhaft zu. Ständig traten ihr Leute in den Weg und versperrten den Blick auf den weißhaarigen Mann.

Erst als die Straße sie auf einen weitläufigen, offenen Platz ausspuckte, blieb sie plötzlich verzagt stehen. Das Pflaster unter ihren Füßen war Gras gewichen, und sie erkannte, dass sie am Rand von St. George’s Fields stand. Ringsum brodelte eine schattenhafte, ruhelose, aufgewühlte Menge, deren Köpfe wie Scherenschnitte vor dem dunkler werdenden Himmel standen. Sie sah nicht, wie weit sich diese Menge erstreckte, aber es schienen Hunderte Stimmen zu sein, allesamt Männerstimmen. Von dem Weißhaarigen war keine Spur mehr zu sehen.

Makepeace blickte sich keuchend um. Neugierige, harte Blicke zuckten zu ihr hin. Sie trug Kleidung aus Wolle und Leinen, einfache und billige Stoffe, aber ihr Schultertuch und ihre Haube waren sauber und adrett, und an diesem Ort genügte das, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Außerdem war sie das einzige weibliche Wesen weit und breit und noch dazu keine dreizehn Jahre alt.

«Hallo Herzchen!», rief eine der dunklen Gestalten. «Willst du unsere Courage anstacheln?»

«Nee», sagte eine andere, «du bist bestimmt hier, um mit uns zu marschieren. Nicht wahr, Missy, du kannst Schemel auf diese Mistkerle werfen, wie die schottischen Damen! Zeig uns mal deinen Wurfarm!» Ein halbes Dutzend Männer lachten brüllend auf, und Makepeace spürte eine Grausamkeit in der scheinbar harmlosen Neckerei.

«Bist du nicht Margaret Lightfoots Mädchen?», fragte da eine jüngere Stimme. Als Makepeace in die Dunkelheit spähte, erkannte sie ein vertrautes Gesicht. Es war der vierzehnjährige Junge, der bei dem Weber nebenan in die Lehre ging. «Was machst du denn hier?»

«Ich habe mich verlaufen», sagte Makepeace hastig. «Was ist hier los?»

«Wir sind auf der Jagd.» In den Augen des Lehrlings stand ein wildes, grausames Leuchten. «Wir jagen den alten Fuchs, den Erzbischof Laud.» Makepeace hatte den Namen des königlichen Ratgebers schon hundertmal gehört, meistens von einem Fluch begleitet. «Wir gehen einfach hin und klopfen an, wie gute Nachbarn es zu tun pflegen.» Er schlug den Knüppel, den er bei sich trug, klatschend auf seine Handfläche. Seine ganze Haltung zeigte, dass er vor Erregung förmlich überkochte.

Zu spät verstand Makepeace die Bedeutung der Plakate, die ihr aufgefallen waren. Sie riefen die Menschen zu einer großen, wütenden Versammlung auf dem St. George’s Field zusammen. Die Menge bestand hauptsächlich aus Lehrburschen, erkannte Makepeace, als sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Und alle von ihnen hatten behelfsmäßige Waffen dabei – Hämmer, Besenstiele, Schürhaken und einfache Vierkanthölzer –, die sie mit einer grimmigen Fröhlichkeit schwangen, in der wilde Entschlossenheit lag. Sie hatten sich vorgenommen, das Böse aus seinem Palast zu zerren und ihm die Krone vom Kopf zu schlagen. Aber in ihren strahlenden Augen sah Makepeace, dass es nicht nur bitterer Ernst war – es war auch ein Spiel, ein Blutsport, wie eine Bärenhatz.

«Ich muss jetzt nach Hause.» Die Worte schmeckten bitter, noch während Makepeace sie aussprach. Sie hatte die Chance vertan, mehr über ihre Vergangenheit herauszufinden, aber was, wenn sie dabei auch ihr Zuhause verloren hatte? Ihre Mutter hatte ihr nicht geglaubt, als Makepeace sagte, sie würde davonlaufen, und jetzt hatte sie ihre Drohung wahr gemacht.

Der Lehrling des Webers runzelte die Stirn und stellte sich auf die Zehenspitzen, um über die Köpfe der Versammelten hinwegsehen zu können. Makepeace tat es ihm nach, und sie erkannte, dass die Straße, durch die sie gekommen war, nun vor Menschen überquoll, die dicht gedrängt zu St. George’s Fields strömten.

«Bleib in meiner Nähe», sagte der Lehrling besorgt, als die Menge vorwärtsdrängte und die beiden mitzureißen begann. «Bei mir bist du sicher.»

Es war kaum möglich, an den zahlreichen größer gewachsenen Lehrburschen vorbei etwas zu sehen, aber Makepeace hörte, wie immer mehr Stimmen sich zu dem hitzigen Geschrei gesellten und über die groben Witze lachten, während sie mit der Flut weitergedrängt wurde. Die Armee der Lehrlinge schien jetzt ins Unermessliche gewachsen zu sein. Kein Wunder, dass sie so selbstbewusst und so entschlossen waren.

«Makepeace! Wo bist du?»

Der Ruf wurde fast völlig von dem Crescendo aus Schreien und Brüllen verschluckt, aber Makepeace hörte ihn trotzdem. Es war Mutters Stimme. Mutter war ihr gefolgt und steckte nun ein Stück weit hinter ihr in der Menge fest.

«Ma!», schrie Makepeace, während die Menge sie weiter ihrem Ziel entgegenschob.

«Da vorne ist Lambeth Palace!», schrie jemand vor ihr. «In den Fenstern ist Licht!» Makepeace konnte wieder den Fluss riechen und sah ein mächtiges Gebäude am Ufer, mit hohen, quadratischen Türmen, deren Zinnen wie eckige Zähne Stücke aus dem Abendhimmel bissen.

Von der Spitze des Mobs ertönten Geräusche eines heftigen Streits, und die Menge wurde von einer fiebrigen, wallenden Spannung ergriffen.

«Kehrt um!», brüllte jemand. «Geht nach Hause!»

«Wer ist da vorne?», verlangten Dutzende Stimmen aus der Menge zu wissen, und von vorne erklangen ein Dutzend unterschiedliche Antworten. Einige behaupteten, es sei die Armee, andere, dass sich die Leibgarde des Königs dort postiert hätte, und wieder andere, dass es der Erzbischof persönlich sei.

«Ach, haltet die Klappe!», schrie endlich einer der Lehrlinge. «Schafft uns William, den Fuchs, heraus, oder wir brechen die Tür auf und schlagen dem ganzen Haufen die Köpfe ein!»

Daraufhin stimmten die anderen Lehrlinge ein ohrenbetäubendes Gebrüll an und schoben und stießen mit aller Macht vorwärts. Der Flecken Himmel über Makepeace schrumpfte zusammen, als sie von den Leibern ringsum fast zerquetscht wurde. Vor ihr gab es eine Art Kriegsgeschrei und dann war das Grunzen und Schnauben kämpfender Männer zu hören.

«Brecht die Tür auf!», schrie jemand. «Nehmt die Stemmeisen!»

«Zerschlagt die Lampen!», kam ein anderer Ruf.

Als der erste Schuss fiel, dachte Makepeace, jemand hätte etwas Schweres auf das Pflaster geworfen. Dann kam ein zweiter Schuss und ein dritter. Die Menge wogte, einige wichen zurück, andere schoben vorwärts. Makepeace bekam ein Knie in den Magen und ein Knüppelende gegen das Auge.

«Makepeace!» Da war wieder Mutters Stimme, schrill und verzweifelt und näher als zuvor.

«Ma!» Die Menschen rings um Makepeace schlugen jetzt um sich, aber sie kämpfte sich durch in die Richtung, aus der Mutters Stimme gekommen war. «Ich bin hier!»

Irgendwo vor ihr ertönte ein Schrei.

Es war ein rauer, kurzer Ton, und am Anfang wusste Makepeace nicht, was es war. Sie hatte Mutter noch nie schreien gehört. Aber als sie sich mit den Ellbogen ihren Weg bahnte, sah sie eine Frau an einer Hauswand liegen. Die blinde, blindwütige Menge trampelte über sie hinweg.

«Ma!»

Mit Makepeaces Hilfe kam Mutter taumelnd auf die Füße. Ihr Gesicht war aschfahl, und trotz der Dunkelheit erkannte Makepeace tintige Spuren aus Blut, die ihr über die linke Gesichtshälfte liefen. Sie bewegte sich auch falsch, ein Augenlid hing herab, und ihr rechter Arm zuckte unkontrolliert.

«Ich bringe dich nach Hause», flüsterte Makepeace mit trockenem Mund. «Es tut mir leid, Ma. Es tut mir leid …»

Mit glasigem Blick starrte Mutter Makepeace an, als ob sie ihre Tochter nicht erkennen würde. Dann verkrampfte sich ihre Miene.

«Nein!», schrie sie rau und schlug zu. Sie traf Makepeace im Gesicht, dann schob sie sie von sich. «Bleib weg von mir! Geh weg! Geh weg!»

Makepeace verlor das Gleichgewicht und fiel hin. Sie erhaschte einen letzten Blick auf Mutters Antlitz, auf dem immer noch dieser wilde und verzweifelte Ausdruck lag. Ein Stiefelabsatz traf sie im Gesicht und ihr kamen die Tränen. Jemand anderes trat ihr auf die Wade.

«Macht euch bereit!», hörte sie jemanden schreien. «Da kommen sie!» Schüsse hallten durch die Nacht, als ob die Sterne explodieren würden.

Dann schoben sich starke Hände unter Makepeaces Achseln und sie wurde auf die Füße gestellt. Ein großer Lehrbursche warf sie wie einen Kartoffelsack über seine Schulter und trug sie aus der Schusslinie, während sie sich nach Kräften wehrte und nach Mutter rief. Am Eingang zu einer Gasse setzte er sie ab.

«Lauf nach Hause!», schrie er Makepeace mit hochrotem Gesicht an und stürzte sich dann wieder mit erhobenem Hammer in das Getümmel.

Sie fand nie heraus, wer er war und was mit ihm geschah.

Und sie sah Mutter nicht mehr lebend wieder.

Nachdem der Kampf vorbei war und alle verhaftet worden waren, derer man habhaft werden konnte, und nachdem die Aufrührer zum Rückzug gezwungen worden waren, fand man den Leichnam von Makepeaces Mutter. Niemand konnte sagen, was sie am Kopf getroffen und getötet hatte. Vielleicht ein wild geschwungener Schürhaken, vielleicht war es auch eine verirrte Kugel, die den Schädel zerschmettert hatte und weitergeflogen war.

Makepeace erfuhr es nie und es war ihr auch egal. Der Aufstand hatte den Tod ihrer Mutter verursacht, und sie war es gewesen, die sie dorthin geführt hatte. Es war alles Makepeaces Schuld.

Und die Leute in der Gemeinde, die Mutters Spitze und Klöppelarbeiten gekauft hatten, wenn sie welche brauchten, befanden, dass ihr kostbarer Friedhof nicht der Ort war, wo eine Frau, die ein uneheliches Kind geboren hatte, zur letzten Ruhe gebettet werden durfte. Der Pastor, der stets freundlich gewesen war, wenn sie ihm auf der Straße begegnet waren, stieg nun in die Kanzel und behauptete, Margaret Lightfood sei keine gerettete Seele gewesen.

Stattdessen wurde Mutter in ungeweihter Erde am Rand der Sümpfe begraben. Es war Land, das mit Brombeerranken überwuchert war und nur dem Wind und den Vögeln eine Heimstatt gab, so verschwiegen und geheimnisvoll wie Margaret Lightfood selbst.

Schattengeister

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