Читать книгу Schattengeister - Frances Hardinge - Страница 11

KAPITEL 6

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Makepeace erwachte von einem leisen Geräusch. Tink, tink, tink. Einen Augenblick lang war sie verwirrt, bis ihre schmerzenden und wunden Glieder sie wieder daran erinnerten, wo sie war. Man hatte ihr weder eine Kerze noch ein Binsenlicht anvertraut, und so kam die einzige Helligkeit von dem Fenster.

Verblüfft erkannte sie einen Kopf am Fenster, der dunkel vor dem violetten Abendhimmel stand. Während sie noch hinstarrte, kam eine Hand in Sicht, die an die Gitterstäbe klopfte. Tink, tink, tink.

«Hey!», tönte ein Flüstern.

Schwankend stand Makepeace auf und humpelte zum Fenster. Zu ihrer Überraschung sah sie, dass sich ein schlaksiger Junge von etwa vierzehn Jahren an die Außenwand klammerte. Er schien auf einer Art schmalem Vorsprung zu balancieren und hielt sich mit einer Hand an den Gitterstäben fest. Er hatte kastanienbraunes Haar und ein freundliches, hässliches, eigenwilliges Gesicht. Dass hinter ihm ein vier Stockwerke tiefer Abgrund gähnte, schien ihn nicht zu kümmern. Seine Kleidung war besser als ihre, fast zu gut für einen Dienstboten.

«Wer bist du?», fragte sie.

«James Winnersh», antwortete er, als ob das alles erklären würde.

«Was willst du?», zischte sie. Sie war sich ganz sicher, dass er eigentlich nicht hier sein durfte. Sie hatte auch gehört, dass manche Leute Bedlam nur deswegen besuchten, um sich über die Wahnsinnigen lustig zu machen, und sie war nicht in Stimmung für Hohn und Gekicher.

«Ich wollte dich sehen!», sagte er immer noch flüsternd. «Komm her. Ich will mit dir reden.»

Zögernd näherte sie sich dem Fenster. Sie spürte, dass Bär sich in der Nähe von Menschen unbehaglich fühlte, und sie wollte nicht, dass er die Beherrschung verlor. Als das Licht von draußen auf ihr Gesicht fiel, stieß der Junge am Fenster ein kleines Lachen aus, das sowohl jubilierend als auch ungläubig klang.

«Es stimmt also! Du hast das gleiche Kinn wie ich!» Er berührte die Spalte in seinem eigenen Kinn, die genauso aussah wie ihre. «Ja», erklärte er, als sie große Augen machte, «das ist unser Vermächtnis. Sir Peters Daumenabdruck.»

Das Blut stieg Makepeace in die Wangen, als ihr klar wurde, was er meinte. Sie war nicht das einzige uneheliche Kind von Sir Peter. Tief in ihrem Inneren hatte Makepeace glauben wollen, dass sich ihre Eltern geliebt hatten, damit ihre Existenz eine Bedeutung bekam. Aber nein, Mutter war nur eine kurze Affäre für ihn gewesen, nicht mehr.

«Ich glaube dir nicht!», zischte Makepeace, obwohl sie es tat. «Nimm das zurück!» Sie ertrug es einfach nicht. In der seltsamen Weißglut des Augenblicks hätte sie am liebsten die Gitterstäbe aus dem Mauerwerk gerissen und ihn damit verprügelt.

«Du hast ja ein ganz schönes Temperament», sagte er erstaunt. Und Makepeace teilte sein Erstaunen – noch nie hatte jemand so etwas über sie gesagt, und schon gar nicht mit einem Anflug von Anerkennung. «Du bist tatsächlich wie ich. Pst! Weck nicht gleich das ganze Haus auf!»

«Was machst du hier?», fragte Makepeace mit leiserer Stimme.

«All die anderen Dienstboten reden über dich», gab der Junge bereitwillig Auskunft. «Young Crowe sagt, du seist verrückt, aber ich habe ihm nicht geglaubt.» Aha, der adlergesichtige junge Diener, der sie geschlagen hatte, war also tatsächlich der junge Crowe. «Auf der anderen Seite des Turms gibt es noch ein Fenster, da bin ich rausgeklettert und dann auf dem Sims hier herüberbalanciert.» Er grinste über seine Erfindungsgabe.

«Was, wenn du dich irrst? Was, wenn ich doch verrückt bin und dich jetzt runterstoße, in den sicheren Tod?» Makepeace fühlte sich immer noch gekränkt und in die Enge getrieben, aus keinem bestimmten Grund. Warum wollte ständig irgendjemand etwas von ihr, sei er nun lebendig oder tot? Konnte man sie und Bär nicht einfach in Ruhe lassen?

«Mir kommst du aber gar nicht verrückt vor», sagte James mit aufreizender Selbstsicherheit, «und ich glaube nicht, dass du stark genug bist. Wie heißt du?»

«Makepeace.»

«Makepeace? Oh, ich vergaß, du bist ja Puritanerin.»

«Bin ich nicht!», gab Makepeace zurück und wurde rot. Die gottesfürchtigen Leute von Poplar hatten sich nie als Puritaner bezeichnet, und als Obadiah sie so genannt hatte, hatte sie gemerkt, dass das Wort abfällig gemeint war.

«Haben da, wo du herkommst, alle solche Namen?», fragte James unbeirrt weiter. «Ich habe gehört, dass sie Fight-the-Good-Fight heißen, Spit-in-the-Eye-of-the-Devil, Sorry-for-Sin, Miserable-Sinners-are-We-All und so weiter.»

Makepeace gab keine Antwort. Sie war sich nicht sicher, ob er sich über sie lustig machte, denn in der Gemeinde von Poplar hatte es tatsächlich einen Sorry-for-Sin gegeben, kurz Sorry genannt.

«Geh weg!», sagte sie stattdessen.

«Ich bin gar nicht überrascht, dass man dich eingesperrt hat.» James kicherte. «Temperament wird hier im Haus nicht sonderlich geschätzt. Hör zu, ich finde eine Möglichkeit, dich da rauszuholen. Sir Thomas wird bald wieder in Grizehayes sein. Er ist Obadiahs Enkel, Sir Peters älterer Bruder. Er mag mich. Ich werde sehen, ob ich ein gutes Wort für dich einlegen kann.»

«Warum?», fragte Makepeace perplex.

James starrte sie genauso verständnislos an.

«Weil du meine kleine Schwester bist», sagte er.

Als er weg war, gingen Makepeace seine Worte nicht aus dem Sinn. Es sah ganz so aus, als ob sie einen Bruder hatte. Aber was bedeutete das schon? Wenn das, was James gesagt hatte, stimmte, dann war Lord Obadiah ihr Großvater, und in den Augen des alten Mannes hatte sie keine verwandtschaftliche Wärme erkennen können. Nur weil man dasselbe Blut hatte, hieß das noch lange nicht, dass man jemandem seine Geheimnisse anvertrauen konnte.

Und doch schien es James für selbstverständlich zu halten, dass er und Makepeace auf derselben Seite standen.

Aber die Tage vergingen, und James kehrte nicht zurück. Makepeace begann zu fürchten, dass sie zu abweisend gewesen war. Es dauerte nicht lange, und sie hätte alles dafür gegeben, ein freundliches Gesicht zu sehen.

Young Crowe war nicht nur ihr Wächter, sondern auch ihr Richter. Wenn sie widersprach, aufschrie oder störrisch schwieg, interpretierte er das als Zeichen einer melancholischen Geisteskrankheit. Zur Strafe erhielt sie ein paar schmerzhafte Schläge auf die Schienbeine oder Arme.

Makepeace hatte alle Mühe, Bär davon abzuhalten, zurückzuschlagen. Ihr Blick verdunkelte sich und sein Zorn drohte sie beide zu verschlingen. Nach den Besuchen von Young Crowe marschierte Bär stundenlang in dem kleinen Zimmer auf und ab und bellte manchmal mit ihrer Stimme auf. Manchmal gab es Momente, in denen er sie anscheinend verstand und sie ihn beruhigen konnte. Manchmal war es aber auch so, als würde man mit einer Gewitterwolke reden. Er begriff weder die Gitterstäbe noch Makepeaces körperliche Grenzen, noch ihr Verlangen, hin und wieder den Nachttopf zu benutzen.

Nachdem Bär ihre Schale quer durch das Zimmer geschleudert und zerbrochen hatte, legte man Makepeace Fußeisen an. In den darauffolgenden Tagen hielt man sie jeden Morgen fest und goss ihr ein rötliches Gebräu in die Nase, das nach Roter Beete roch und ihr «Gehirn kühlen» sollte. Als man sie beim Weinen erwischte, flößte man ihr eine Suppe ein, auf die sie erbrechen musste, um die «schwarze Galle» loszuwerden, die der Grund für ihre «Melancholie» war.

Bär war fremd und gefährlich und machte alles nur noch schlimmer. Trotzdem hielt sie an ihm fest. Sie hatte einen unsichtbaren Freund, und nur deshalb konnte sie die Verzweiflung in die Schranken weisen. Sie hatte jemanden, den sie beschützen wollte und der stumm in ihr tobte, weil er für sie das Gleiche tun wollte. Wenn sie schlief, war ihr, als ob sie sich um etwas Kleines, Rundliches kuschelte, wie um ein Bärenbaby, das gleichzeitig groß und warm war und sie umfasste, um sie vor der Welt zu bewahren.

Eines Tages ließ Young Crowe sie auf eine Trage fesseln und bedeckte ihr Gesicht mit einem Tuch. Sie wurde über die vielen Stufen nach unten getragen – oder besser gesagt: gekippt – und in einen Raum gebracht, in dem es heiß war und nach Rauch, Fleisch, Gewürzen und Zwiebeln roch.

«Kehrt die glühenden Kohlen aus, die Steine halten die Hitze noch lange genug. Helft mir, wir müssen ihren Kopf in den Ofen halten, nicht zu weit hinein …»

Makepeace wehrte sich, aber die Fesseln hielten sie fest. Sie fühlte das Ruckeln der Trage, als man sie anhob, dann die sengende Hitze des Ofens auf ihrem Gesicht, trotz des Tuchs. Sie konnte kaum noch atmen, und die heiße, rauchige Luft brannte in ihren Lungen. Ihre Haut stach und kribbelte, und sie schrie vor Angst auf, weil sie dachte, dass ihre Augen gleich anfangen würden zu kochen …

«Was machst du da, Crowe?», fragte eine fremde Stimme.

«Sir Thomas!» Der junge Crowe klang mit einem Mal eingeschüchtert. «Wir wollen das Lightfoot-Mädchen von ihrer Melancholie heilen. Die Hitze des Ofens wird alle ungeordneten Einbildungen aus ihrem Kopf herausschwitzen. Es ist eine bewährte Methode … hier in diesem Buch gibt es ein Bild davon …»

«Und was hast du dann mit ihr vor? Willst du sie mit Radieschen und Senf zum Abendessen servieren? Hol das Mädchen aus dem Ofen, Crowe. Ich will mit ihr reden, und das kann ich nicht, während sie gebacken wird.»

Ein paar Minuten später saß Makepeace, die immer noch vor Rauch und Tränen nur verschwommen sehen konnte, allein in einem kleinen Zimmer mit Sir Thomas Fellmotte, Obadiahs Erben.

Er hatte hellbraune Augen, eine joviale Art und eine Stimme, die in den Wald oder auf die Wiese gehörte. Auf den zweiten Blick erst sah sie das Grau in seinem langen, vornehm in Locken gelegten Haar und die Kummerlinien auf seinen Wangen. Erst da erkannte sie, dass er nicht mehr jung war. Sein Kinn wies die vertraute vertikale Spalte auf. Makepeace erinnerte sich daran, dass Sir Thomas der Bruder ihres Vaters war.

Zu ihrer Erleichterung erfüllte er sie nicht mit jener kalten Angst wie Obadiah. Er betrachtete sie mit einem warmen, menschlichen Blick, in dem ein bisschen Übermut lag.

«Ah», sagte er leise. «Du hast wirklich die Augen meines Bruders. Aber da ist auch jede Menge von Margaret in dir, wie mir scheint.» Eine Weile starrte er sie an, als ob ihr Gesicht die Kristallkugel einer Wahrsagerin wäre, in der er das Antlitz der Toten sehen konnte.

«Makepeace, nicht wahr?», fragte er unvermittelt in einem brüsken Ton. «Der Name für einen wahren Moralapostel, aber trotzdem ganz hübsch. Sag, Makepeace, bist du ein braves, hart arbeitendes Mädchen? James behauptet, du seist so vernünftig wie ein sonniger Nachmittag und würdest dich nicht scheuen, dir deinen Lebensunterhalt zu verdienen. Stimmt das?»

Makepeace wagte kaum zu hoffen; eifrig nickte sie mit dem Kopf.

«Dann bin ich mir sicher, dass wir einen Platz für dich bei den Dienstboten finden.» Er schenkte ihr ein freundliches, nachdenkliches Lächeln. «Was kannst du denn?»

Alles, hätte Makepeace fast gesagt. Ich werde alles tun, wenn Ihr mich nur vor dem Vogelzimmer und vor Young Crowe rettet. Aber gerade noch rechtzeitig dachte sie an Obadiahs tote Augen. Alles, wenn ich dabei nur seiner Lordschaft nicht zu nahe kommen muss

«Ich kann kochen!», sagte sie dann schnell, einer Eingebung folgend. «Ich kann Butter stampfen und Kuchen backen, Brot und Suppe machen und Tauben rupfen …» Sie hatte die Küche in Grizehayes unter ungünstigen Umständen kennengelernt, aber wenn sie dort arbeitete, musste sie Obadiah nicht unter die Augen treten.

«Ich werde mich darum kümmern», verkündete Sir Thomas. Er ging zur Tür, dann zögerte er. «Ich … ich habe oft an deine Mutter gedacht. Sie war so jung, als sie aus Grizehayes weglief, gerade mal fünfzehn, ganz allein in der Welt und mit einem unehelichen Kind.» Er runzelte die Stirn und zwirbelte an einem Jackenknopf. «War sie … war sie glücklich in dem Leben, das sie erwählt hatte?»

Makepeace wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Im Augenblick waren die Erinnerungen an ihre Mutter noch zu schmerzvoll, um sie hervorzuholen, wie scharfe Glassplitter.

«Manchmal», sagte sie schließlich.

«Nun», sagte Sir Thomas, «mehr kann man wohl nicht verlangen.»

Schattengeister

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