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KAPITEL 7

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Noch am selben Nachmittag wurde Makepeace in frischer, sauberer Kleidung einer neugierigen Horde von anderen Dienstboten präsentiert. Nach der Dunkelheit und Isolation in dem kleinen Zimmer kam ihr alles sehr laut und sehr hell vor. Alle türmten sich über ihr auf, alles war ihr fremd, und Makepeace vergaß sofort alle Namen, die man ihr nannte.

Die Mägde waren anfangs scheu, doch dann bestürmten sie Makepeace mit Fragen über ihren Namen, über London und die gefährliche Welt außerhalb von Grizehayes. Niemand fragte nach ihrer Familie, und Makepeace nahm an, dass ihre Abstammung bereits allseits bekannt war.

Alle schienen der Überzeugung zu sein, dass Makepeace sehr froh und dankbar war, aus ihrem früheren Zuhause «gerettet» worden zu sein. Und alle stimmten darin überein, dass ein weiteres Paar Hände in der Küche sehr willkommen war.

«In der Küche ist sie am besten aufgehoben, meine ich», sagte eine Frau rundheraus. «Sie ist kaum ansehnlich genug, um der Familie aufzuwarten, nicht wahr? Seht sie euch an, die kleine fleckige Katze.»

«Wir haben einen französischen Koch», erklärte eine andere Frau Makepeace, «aber kümmere dich gar nicht um ihn, er ist nur zum Angeben da. Französische Köche kommen und gehen so regelmäßig wie die Apfelblüte. Es ist Mistress Gotely, der du gefallen musst.»

Makepeace wurde also zur Arbeit in die Küche geschickt, die so groß wie eine Höhle war, die Decke geschwärzt von Generationen von Rauch. Die Kochstelle war so riesig, dass Makepeace sechsmal darin Platz gehabt hätte. An den Dachbalken hingen Kräuterbündel, und an den Wänden glänzten die Zinnplatten. Seit Bär ihr heimlicher Passagier war, hatte Makepeace einen empfindlicheren Geruchssinn bekommen. Die Düfte in der Küche drangen mit einer irrsinnigen Wucht auf sie ein – herbe Kräuter und Gewürze, gesottenes Fleisch, Wein, Soße und Rauch. Sie fühlte, wie Bär unruhig wurde. Die Gerüche verwirrten ihn – und machten ihn hungrig.

Mistress Gotely war auf dem Papier lediglich die zweite Köchin, aber in Wirklichkeit die Königin der Küche. Sie war eine große Frau mit einem kräftigen Kiefer, einem gichtkranken Bein und wenig Verständnis für Narreteien. Und natürlich machte Makepeace ganz den Anschein einer Närrin, tollpatschig und unsicher, wie sie war. Sie wollte verzweifelt beweisen, wie nützlich sie sich machen konnte, damit niemand auf die Idee kam, sie wieder in das Vogelzimmer zu sperren. Das allein wäre schlimm genug gewesen, auch ohne einen Geisterbären in ihrem Kopf. Bär mochte weder die Hitze in der Küche noch die Dunkelheit und das Geklapper. Blutgeruch machte ihn fast verrückt, sodass die eine Hälfte ihres Geistes ständig damit beschäftigt war, ihn zu beruhigen.

Nach einer chaotischen und hastigen Einführung in die Abläufe der Hauswirtschaft mit der Spülküche, dem Weinkeller, der Speisekammer und den anderen Räumen ging Mistress Gotely mit Makepeace hinaus in den Hof, wo sich der Brunnen mit der Pumpe, die Kornkammer und das Feuerholz befanden.

In der Sonne sah Grizehayes anders aus. Das graue Mauerwerk hatte an den Stellen, wo es mit Flechten bewachsen war, einen goldenen Schimmer.

Es war ein bunt zusammengewürfeltes Haus: Alte, rissige Steine wechselten sich mit ordentlich geschnittenen grauen Quadern ab, und die Schieferdächer zierten Türmchen und kirchenähnliche Bögen. Makepeace sah Dinge, die bewiesen, dass das Anwesen nicht nur von Geistern bewohnt war: Teppiche hingen aus den Fenstern und wurden ausgeklopft und Rauch quoll aus den großen roten Schornsteinen.

Es ist ein echtes Haus, sagte sich Makepeace. Hier leben Menschen. Ich könnte hier leben.

Blinzelnd blickte sie zu den sonnenbeschienenen Mauern hoch, und dann erschauerte sie unwillkürlich. Es war, als ob man jemandem ins Antlitz blickte, der nur mit dem Mund lächelte, nicht mit den Augen. Irgendwie schaffte es dieses Haus, selbst das Tageslicht kalt wirken zu lassen.

Das Anwesen samt Ställen und dem mit Steinplatten ausgelegten Innenhof wurde von einer sieben Fuß hohen Mauer umgeben. Drei riesige Doggen waren an einer Mauerseite angekettet. Als Makepeace näher kam, sprangen sie auf und schossen auf sie zu, bis sie das Ende ihrer Ketten erreicht hatten. Dann stiegen sie auf die Hinterbeine und knurrten den fremden Geruch an. Makepeace machte einen Satz rückwärts; das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie fühlte, dass auch Bär Angst hatte, spürte ihn wie ein scharlachrotes Nebelwesen, das nicht wusste, ob es die gefletschten Zähne angreifen oder vor ihnen fliehen sollte.

In der umlaufenden Mauer klaffte ein großes Tor, das breit genug für eine vierspännige Kutsche war. Durch die Öffnung sah Makepeace Felder und dahinter das trostlose Moor, in dem sich die Grasinseln wie Federbüsche hochwölbten. Sie dachte an Obadiahs Drohung, sie dort auszusetzen, wo sie erfrieren oder ein herumwandernder Geist ihr Gehirn verzehren würde.

Sei dankbar für das, was du hast, ermahnte sie sich und wiederholte damit die Worte von Young Crowe. Es ist besser, unten in der Küche zu arbeiten, als oben im Vogelzimmer eingesperrt zu sein. Und im Vogelzimmer war es immer noch besser als in der Irrenanstalt von Bedlam. Und selbst Bedlam wäre besser gewesen, als da draußen in der Kälte von verrückten Geistern aufgefressen zu werden.

Tief atmete sie die frische Luft ein und betrachtete wieder die hohen, dicken, sonnenbeschienenen Mauern. Ich kann mich glücklich schätzen, redete sie sich ein. Besser hier drin als da draußen. Grizehayes war fremd und furchteinflößend, aber es war eine Festung. Die Dunkelheit konnte nicht hineingelangen. Doch obwohl sie mit aller Macht daran glauben wollte, fragte sie sich ständig, warum ihre Mutter von hier geflohen war. Ihre Worte gingen ihr nicht aus dem Sinn.

Du hast ja keine Ahnung, wovor ich dich bewahrt habe! Wenn ich in Grizehayes geblieben wäre

Den ganzen Tag lang unternahm Makepeace heroische Anstrengungen, um sich bei Mistress Gotely beliebt zu machen. Und dann, in der Hektik der Vorbereitungen für das Abendessen, ruinierte sie alles wieder.

Neben dem Herd rannte ein kleiner Küchenhund in einer Tretmühle, einem hölzernen Rad, das an der Wand befestigt war und mit dessen Hilfe der mächtige Bratspieß über dem Feuer gedreht wurde. Der Schwanz des kleinen, hässlichen Hundes war nur noch ein kurzer Stummel und sein Maul war von Hitze und Alter zerknittert. Er keuchte in der rauchigen Luft. Mistress Gotely hatte die Angewohnheit, ihm glühende Kohle vor die Pfoten zu werfen, damit er schneller rannte. Das war mehr, als Makepeace ertragen konnte.

Sie hatte noch lebhaft die Erinnerung an Bärs Kindheit und die glühenden Kohlen im Kopf, über die man ihn zu gehen zwang, damit er «tanzte». Jedes Mal, wenn ein Glutstückchen von dem Rad abprallte und die Funken aufstoben, erinnerte sie sich … fühlte es … fühlte den sengenden Schmerz unter ihren Tatzen …

«Aufhören!», schrie sie schließlich. «Lasst ihn in Ruhe!»

Mistress Gotely starrte sie verblüfft an, und Makepeace erschrak über ihren Ausbruch. Aber sie war so wütend, dass sie sich einfach nicht entschuldigen konnte. Sie stand bloß vor der Tretmühle und bebte vor Zorn.

«Was hast du gesagt?» Die zweite Köchin versetzte ihr einen deftigen Schlag auf den Kopf, der Makepeace zu Boden warf.

Bär tobte, und Makepeaces Wange brannte wie Feuer. Es wäre so einfach gewesen, nachzugeben und sich an diesen dunklen Ort zu begeben, Bär die Kontrolle zu überlassen und zuzusehen, wie er alles ringsum verwüstete … Sie schluckte und verscheuchte diese Gedanken aus ihrem Kopf.

«Er würde schneller laufen», sagte sie erstickt, «wenn seine Pfoten nicht ständig verbrannt wären! Ich könnte mich um ihn kümmern. Ich werde dafür sorgen, dass er schneller läuft, als sie es je erlebt haben.»

Mistress Gotely packte sie am Kragen und stellte sie auf die Füße.

«Es ist mir egal, wie dich deine sturköpfige Mutter erzogen hat», knurrte sie. «Das hier ist meine Küche. Außer mir schreit hier niemand herum!» Sie knuffte Makepeace ein paar Mal auf den Kopf und die Schultern und schnaubte dann genervt. «Von mir aus, ab jetzt ist der Hund dein Problem. Wenn er langsam läuft, nimmst du seinen Platz ein und drehst den Spieß. Und wehe, ich höre dich über die Hitze jammern!»

Zu Makepeaces Überraschung und Erleichterung meldete die alte Köchin den Vorfall nicht; man legte sie auch nicht wieder in Eisen. Im Gegenteil, von nun an herrschte zwischen ihnen beiden eine entspanntere Stimmung, auf eine wachsame, reservierte Art. Sie hatten einander getestet und gemerkt, wo die Grenzen der jeweils anderen lagen, wie spitze Felsen unter einer friedlich scheinenden Wasseroberfläche.

Als sie schließlich vor der großen Feuerstelle ihr eigenes Abendessen zu sich nahmen, war die griesgrämige Stille fast kameradschaftlich. Die Köchin kaute an einer Scheibe des harten dunklen Brots, das Makepeace ihr Leben lang gegessen hatte. Doch dann hielt ihr Mistress Gotely ein Stück Weißbrot mit einer goldenen Kruste hin, wie es die reichen Leute aßen. Makepeace starrte es nur an.

«Glotz nicht so», fuhr die Köchin sie an. «Iss. Lord Fellmottes Befehl.» Makepeace biss zögernd hinein und bestaunte die Süße und die Weichheit, die unter ihren Zähnen nachgab. «Sei dankbar und stell keine Fragen.»

Makepeace kaute und wunderte sich über diesen seltsamen Anflug von Freundlichkeit des frostigen Obadiah. Dann fragte sie trotzdem.

«Ihr sagtet, meine Mutter sei sturköpfig gewesen», sagte sie kauend. «Habt Ihr sie gekannt?»

«Ein bisschen», nickte Mistress Gotely, «obwohl sie hauptsächlich oben gearbeitet hat.» ‹Oben›, das klang wie ein weit entferntes Land, Frankreich etwa.

«Stimmt es, dass sie weggelaufen ist? Oder hat man sie aus dem Haus gejagt, weil sie ein Kind erwartete?» Makepeace wusste, dass so etwas nicht selten geschah.

«Nein», sagte Mistress Gotely. «Oh nein, sie hätten sie nie fortgeschickt. Sie ist aus freiem Willen gegangen, ohne ein einziges Wort zu irgendjemandem.»

«Warum?»

«Woher soll ich das wissen? Sie war ein verschwiegenes Ding. Hat sie es dir nicht gesagt?»

«Sie hat mir gar nichts gesagt», erwiderte Makepeace ausdruckslos. «Ich wusste nicht einmal, wer mein Vater ist. Das habe ich erst erfahren, nachdem sie gestorben war.»

«Aber … jetzt weißt du es?», fragte die alte Köchin und warf ihr einen scharfen Seitenblick zu.

Makepeace zögerte und nickte dann.

«Tja, früher oder später hättest du es sowieso herausgefunden.» Die Köchin nickte langsam. «Alle hier wissen es – es ist genauso wenig zu übersehen wie das Kinn da in deinem Gesicht. Aber … ich würde nicht herumlaufen und allzu offen darüber reden. Die Herrschaften könnten denken, du wärst vermessen und würdest Ansprüche stellen. Sei dankbar für das, was du hast, und mach keinen Ärger. Dann wirst du zurechtkommen.»

«Könnt Ihr mir denn sagen, wie er war?», fragte Makepeace.

Die Köchin seufzte und rieb sich mit einem wehmütigen und zärtlichen Blick das Bein.

«Ach, der arme Sir Peter! Hast du James Winnersh kennengelernt? Er ist Sir Peter in vielem sehr ähnlich. James ist ein rücksichtsloser Taugenichts, aber er hat ein gutes Herz. Er macht Fehler, aber er macht sie aus ehrlicher Überzeugung.»

Makepeace fing an zu verstehen, warum Sir Thomas James gernhatte, er erinnerte ihn an seinen toten Bruder.

«Was ist passiert? Wie ist Sir Peter gestorben?», fragte sie.

«Er hat versucht, auf einem Pferd, das zu erschöpft war, eine Hecke zu überspringen, die zu hoch war», antwortete die Köchin seufzend. «Das Pferd stürzte und fiel auf ihn drauf. Er war noch so jung, gerade einmal zwanzig.»

«Warum war denn das Pferd so erschöpft?», hörte Makepeace sich fragen.

«Tja, das werden wir wohl nie erfahren, was?», erwiderte Mistress Gotely scharf. «Aber … einige behaupten, er hatte es zuschanden geritten, als er nach deiner Mutter suchte. Es passierte zwei Monate, nachdem sie verschwunden war.» Sie betrachtete Makepeace mit einem Stirnrunzeln.

«Du warst ein Fehler, Mädchen», sagte sie sachlich. «Aber ein Fehler aus ehrlicher Überzeugung.»

An diesem Abend erfuhr Makepeace, dass sie als jüngstes und niedrigstes Mitglied des Küchenpersonals nicht mit den anderen Mägden zusammen in einem Bett schlafen durfte. Stattdessen musste sie mit einer Strohmatratze unter dem Tisch vorliebnehmen und dafür sorgen, dass das Feuer nicht ausging. Sie war nicht allein. Der Küchenhund und zwei der großen Doggen schliefen ebenfalls vor dem Feuer.

Bär war nicht glücklich über die Hunde, aber wenigstens war ihm ihr Geruch nicht fremd. Hunde hatten große, laute und grausame Mäuler, aber sie gehörten zum Leben dazu. Hundegeruch auf dem Markt, Hundegeruch nachts am Lagerfeuer.

Mitten in der Nacht wurde Makepeace von einem lang gezogenen, rumpelnden Knurren dicht an ihrem Ohr aus dem Schlaf geschreckt. Einer der großen Hunde war wach. Einen Moment lang hatte sie Angst, dass er sie gewittert hatte und für einen Eindringling hielt, doch dann hörte sie leise, schlurfende Schritte, zu leicht, als dass sie von der Köchin stammen konnten. Jemand war in der Küche.

«Komm raus!», hörte sie James’ leise Stimme. «Nero wird dich nicht beißen – es sei denn, ich befehle es ihm.» Er grinste, als Makepeace unter dem Tisch vorgekrochen kam. «Ich hab dir doch gesagt, dass ich dich aus dem Turm raushole!»

«Danke», sagte Makepeace zögernd. Sie hielt immer noch gebührenden Abstand. Mittlerweile hatte sie ein gutes Gespür dafür bekommen, wie nah Bär fremden Menschen kommen konnte, ohne unruhig zu werden. Auch jetzt spürte sie eine leise Nervosität, das Verlangen, sich zu seiner vollen Größe aufzurichten und den Fremden schnaubend zu verjagen. Aber sie stand schon so aufrecht, wie sie konnte; sie hatte keine Reserven mehr.

«Das hast du gut gemacht, dir eine Arbeit in der Küche zu ergattern», sagte James und setzte sich im Schneidersitz auf den großen Tisch. «Das ist perfekt. Jetzt können wir uns gegenseitig helfen. Ich werde ein Auge auf dich haben und dir erklären, wie hier alles läuft. Und du kannst mir sagen, was du so hörst. Kannst mir Sachen aus der Küche besorgen, wenn niemand hinguckt …»

«Du willst, dass ich für dich stehle?» Makepeace machte ein böses Gesicht und fragte sich, ob das der Grund war, warum er ihr geholfen hatte. «Wenn irgendwas wegkommt, wissen sie doch gleich, dass ich es war. Dann setzt man mich wieder vor die Tür!»

James schaute sie lange an, dann schüttelte er langsam den Kopf.

«Nein», sagte er. «Das machen sie nicht.»

«Aber …»

«Ich meine es ernst. Sie würden dich bestrafen. Sie würden dich schlagen. Vielleicht würden sie dich wieder in dem Vogelzimmer einsperren. Aber sie würden dich nicht wegjagen. Nicht einmal, wenn du sie darum bittest.»

«Wovon redest du denn?»

«Ich versuche seit fünf Jahren wegzulaufen», sagte James. «Immer und immer wieder habe ich es versucht. Und jedes Mal verfolgen sie mich, spüren mich auf und bringen mich wieder hierher zurück.»

Makepeace starrte ihn an. War es normal, dass reiche Leute Dienstboten verfolgten, die weggelaufen waren? Sie hatte gehört, dass man für flüchtige Lehrburschen ein Kopfgeld aussetzte, aber das war wohl etwas anderes.

«Du hattest Albträume, nicht wahr?», sagte James plötzlich. Seine Bemerkung traf Makepeace völlig unvorbereitet. «Träume, die so schlimm waren, dass du schreiend aufgewacht bist. Von Geistern, die versuchen, in dich einzudringen …»

Makepeace wich ein paar Zentimeter zurück und betrachtete ihn mit einem Anflug von Unsicherheit und Misstrauen.

«Solche Träume hatte ich auch», fuhr James fort. «Sie haben vor fünf Jahren angefangen, als ich neun war. Und nicht lange danach haben die Fellmottes mich holen lassen. Meine Mutter wollte mich erst nicht hergeben, dann hat man sie bezahlt, und sie hat nichts mehr gesagt.» Er lächelte bitter. «Die Fellmottes kümmern sich so lange nicht um Bastarde wie uns, bis wir diese Albträume kriegen. Dann sind wir für sie von Interesse. Dann holen sie uns und bringen uns hierher. Sie haben auch von deinen Träumen gehört und dich geholt, oder etwa nicht?»

«Aber warum?» Makepeace war fasziniert. Es stimmte, Obadiah war mehr an ihren Albträumen interessiert gewesen als an irgendetwas sonst. «Was kümmern sie unsere Träume?»

«Ich weiß nicht», gab James zu. «Aber wir sind nicht die Einzigen. Manchmal kommen Lord Fellmottes Kusinen zu Besuch, und jede bringt einen oder zwei Bedienstete mit, die Fellmotte-Blut in den Adern haben. Ich glaube, dass alle Fellmottes ihre Bastarde einsammeln, wenn sie sich als Träumer erweisen.

Sie holen uns, und dann lassen sie uns nicht mehr weg. Das habe ich gemerkt, als ich versuchte, nach Hause zu gehen. Heute würde ich es nicht wieder tun, diese Frau würde mich doch nur ein weiteres Mal an die Fellmottes verkaufen.» Er runzelte scheinbar peinlich berührt die Stirn.

«Nachts werden die Türen mit einem schweren Riegel und Eisenketten versperrt», fuhr James fort, «und die Laufburschen schlafen direkt an den Eingängen. Das Tor ist ebenfalls verschlossen, und im Innenhof streunen die Hunde frei herum. Ich bin am Tag abgehauen. Aber rings um die Mauern erstrecken sich offene Felder, mindestens drei Meilen weit. Da ist man so klar und deutlich zu sehen wie ein Blutstropfen im Schnee.

Bei meinem zweiten Versuch habe ich es weiter geschafft, bis hinaus ins Moor. Da war es bitter kalt und kahl, nichts als Sumpf und Wälder. Vom eisigen Wind waren meine Finger schon ganz grau. Ich bin halb erfroren in ein Dorf getaumelt, und das war’s. Die Bauern dort haben nur einen Blick hierauf geworfen» – er tippte sich gegen das Kinn –, «mich am Kragen gepackt und zurückgebracht. Sie wussten genau, wer ich war und wer mich haben wollte. Und sie hatten Angst.

Letztes Jahr dachte ich, ich hätte es geschafft. Fünfzig Meilen, über drei Flüsse, bis nach Braybridge im nächsten County.» Wieder schüttelte James den Kopf und verzog das Gesicht. «Sie haben mir White Crowe auf den Hals gehetzt. Du kennst ihn, er hat dich hierhergebracht. Die Herrschaften setzen ihn nur bei Angelegenheiten ein, die still und leise über die Bühne gehen müssen. Er ist ihre Schattenhand. Und alle haben sich förmlich überschlagen, ihm dabei zu helfen, mich zu finden, selbst reiche und mächtige Männer. Die Fellmottes sind nicht nur eine einflussreiche Familie. Alle haben Angst vor ihnen.»

Makepeace biss sich auf die Innenseite ihrer Wange und sagte nichts. Er war vermutlich bloß ein Aufschneider, wie die meisten Lehrlinge in Poplar, und bauschte seine Erfahrungen und Erlebnisse auf, aber seine Worte rissen kleine Kratzer von Unbehagen in ihrem Geist auf.

«Aber jetzt kannst du mir helfen!», fuhr James fort. «Mir trauen sie nicht mehr, aber dich werden sie nicht verdächtigen. Du kannst für mich die Augen offenhalten. Oder Sachen beiseiteschaffen, die wir für die Flucht brauchen – Vorräte, Bier, Kerzen …»

«Ich kann doch nicht weglaufen!», protestierte Makepeace. «Ich kann nirgends hin! Wenn ich meinen Platz hier aufgebe, werde ich noch vor Pfingsten verhungern oder erfrieren! Oder ermordet werden!»

«Ich werde dich beschützen», beharrte James.

«Wie denn? Das Land zerbricht, das sagen alle, und ich habe es gesehen! Du kannst mich nicht beschützen vor … vor dem wild gewordenen Mob oder vor Gewehrkugeln! Oder vor Geistern, die mein Gehirn fressen wollen! Hier habe ich ein Bett und genug zu essen, und das ist viel mehr, als mich draußen auf dem Moor erwartet! Ich habe heute sogar Weißbrot gegessen!»

«Das Blut unseres Vaters verschafft uns gewisse Vergünstigungen, das ist wahr», sagte James. «Mein Essen ist immer ein bisschen besser als das, was die anderen Dienstboten bekommen. Manchmal, wenn ich meine Pflichten erfüllt habe, bekomme ich sogar Unterricht. Ich lerne lesen, fremde Sprachen, reiten. Du vielleicht auch. Die anderen Dienstboten zucken nicht mit der Wimper; sie wissen, wessen Bastard ich bin, auch wenn sie es nicht aussprechen.»

«Und warum willst du dann weglaufen?»

«Hast du den alten Obadiah gesehen?», fragte James scharf.

«Ja», sagte Makepeace langsam; ihre Stimme bebte unwillkürlich. «Er ist …»

Sie verstummte.

«Du kannst es auch sehen, nicht wahr?», flüsterte James. Er wirkte verblüfft und erleichtert zugleich.

Makepeace zögerte und blickte ihm ins Gesicht. Sie fragte sich plötzlich, ob das eine Art Prüfung war, die sich Obadiah ausgedacht hatte. Wenn sie jetzt etwas Respektloses sagte, würde James sie vielleicht melden, und vielleicht würde man sie dann wegschicken oder wieder im Vogelzimmer anketten.

Menschen konnte man nicht vertrauen. Hunde knurrten, bevor sie zubissen, aber Menschen nicht. Menschen lächelten.

James hatte ein sonnenverbranntes Gesicht und weit auseinanderstehende Augen. Aber was ihr besonders auffiel, waren seine Hände mit den verschorften Knöcheln. Es waren die Hände einer sorglosen, rücksichtslosen Person, eines Raufbolds, aber es waren ehrliche Hände. Ihr Anblick entschied die Sache zu seinen Gunsten. Makepeace beschloss, ein Körnchen Vertrauen in die Waagschale zu werfen.

«Ich weiß auch nicht, was es bedeutet», flüsterte sie, «aber an ihm ist irgendetwas …»

«… falsch», beendete James ihren Satz.

«Es fühlt sich an wie … wenn ich ihm in die Augen schaue … wie die toten Wesen in meinen Albträumen.»

«Ich weiß.»

«Aber er ist lebendig!»

«Ja. Und trotzdem kriegst du eine Gänsehaut und dir kribbeln die Finger, nicht wahr? Niemand sonst sieht es, nur wir beide, oder wenn sie es sehen, dann reden sie nicht darüber. Und …», James beugte sich vor und wisperte ihr ins Ohr, «Obadiah ist nicht der Einzige. Alle älteren Fellmottes sind so wie er.»

«Sir Thomas nicht!», widersprach Makepeace, die sich an die hellen braunen Augen des Mannes erinnerte.

«Nein, noch nicht», sagte James ernst. «Sie sind nicht von Anfang an so. Erst wenn sie ihr Erbe antreten und Land und Titel übernehmen, dann passiert etwas. Sie verändern sich. Es ist, als ob ihr Blut über Nacht kalt wird. Auch andere Menschen merken, dass etwas anders ist. Die Diener nennen sie nur die ‹Elder›, die klugen Alten. Sie sind zu flink, sie sind zu clever. Sie wissen zu viel, was sie nicht wissen sollten. Und man kann sie nicht anlügen. Sie durchschauen dich sofort.

Deshalb müssen wir weg! Dieses Haus ist … eine Brutstätte für Teufel! Wir sind keine Diener, wir sind Gefangene! Und sie sagen uns nicht einmal, warum!»

Makepeace kaute auf ihrer Unterlippe, hin und her gerissen von ihrer Unsicherheit. Sie konnte ihrem Instinkt vertrauen, irgendetwas war mit Obadiah. Mutter war aus Grizehayes geflohen und hatte alle erdenklichen Mühen auf sich genommen, damit die Fellmottes sie nicht aufspürten. Und sie musste auch an Bär denken – Bär, der aus ihr herausgerissen und vernichtet werden würde, wenn Obadiah herausfand, dass er hier war.

Aber all das waren nur vage Schrecken. Die Angst, angekettet und geschlagen oder hinaus in die Wildnis gejagt zu werden, wo Hunger und wahnsinnige Geister auf sie warteten, war so greifbar, dass sie glaubte, sie anfassen zu können. Und tief in ihr lauerte auch noch jener quälende Gedanke, dass vielleicht Mutters zerfetzter Geist immer noch jenseits der schützenden Mauern von Grizehayes herumirrte und nach ihr suchte. Die Vorstellung war gleißend weiß von Hoffnung und Grausen, und ihr Geist zuckte vor ihr zurück.

«Es tut mir leid», sagte Makepeace, «aber ich kann nicht mit dir weglaufen. Ich brauche ein Zuhause, und sei es auch nur dieses hier.»

«Ich mache dir keinen Vorwurf, wenn du Angst hast», sagte James freundlich. «Aber ich verwette meinen Hals darauf, dass wir hier mehr zu fürchten haben als sonst irgendwo. Ich hoffe, du änderst noch deine Meinung. Ich hoffe, du tust es bald, damit du mit mir kommen kannst.»

Makepeace war Freundlichkeit nicht gewohnt, und es war beinahe mehr, als sie ertragen konnte. Seit Mutters Tod gähnte in der Welt ein weites, quälendes Loch, und sie wünschte sich verzweifelt einen Menschen, der dieses Loch füllen konnte. Einen Augenblick lang war Makepeace in Versuchung, James von Bär zu erzählen.

Aber sie biss sich auf die Zunge, und der Augenblick verging. Dieses Geheimnis war zu groß für jemanden, den sie erst so kurz kannte. Es konnte sein, dass James sie verriet. Es konnte sein, dass er sie nicht verstand. Es konnte auch sein, dass er sich vor ihr fürchtete oder zu der Einsicht kam, dass sie doch verrückt war. Ihre Freundschaft war noch zu neu und zu zerbrechlich, und sie brauchte sie.

Schattengeister

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