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I

Bei jedem Schlagloch, über das die Räder des zum Gefangenenwagen umgebauten Viehtransporters rumpelten, wurde Anita trotz ihrer Fesseln einige Zentimeter in die Höhe geschleudert und fiel schwer auf die rissigen Bohlen zurück. Seit Stunden schon fühlten sich ihr Po und die Unterseiten ihrer Schenkel taub an, ganz im Gegensatz zu ihrem Rücken, der bei jedem Stoß Kaskaden des Schmerzes durch ihren ganzen Körper sandte.

Wie lange noch?, fragte sie sich mindestens zum tausendsten Mal.

Anita und die anderen fünf Frauen waren noch bei Dunkelheit aus ihren Zellen im Gefängnis von Santa Cruz, der Hauptstadt des gleichnamigen bolivianischen Regierungsbezirks, getrieben worden. Nackt hatte man sie wie Herdenvieh in den kleinen LKW gescheucht und dort in halb sitzender, halb liegender Stellung angekettet. Dann hatte die schlimmste Fahrt in Anitas zweiundzwanzigjährigem Leben begonnen.

Mittlerweile bildeten die Sonnenstrahlen, die ihren Weg durch die Ritzen der hölzernen Seitenwand des Transporters fanden, einen flachen Winkel zum Boden. Anita schätzte, dass sie seit zehn Stunden unterwegs waren. Es hatte nur einen einzigen längeren Halt gegeben, am Mittag, bei dem einer der drei bis an die Zähne bewaffneten Begleiter den Frauen Wasser eingeflößt hatte. Zu essen gab es nichts, man befreite sie nicht von ihren Fesseln und ließ sie auch nicht aussteigen. Jetzt, Stunden später, stank der Wagen wie eine Jauchegrube.

Wohin auch immer man uns bringt, dachte Anita, schlimmer kann es nicht mehr werden!

Die meisten ihrer Leidensgefährtinnen hielten die Augen geschlossen und dösten vor sich hin. Die Hitze, die in dem Laderaum herrschte, und die ausgedörrten Kehlen verhinderten eine Unterhaltung. Anita schätzte vier der Frauen auf 25 bis 30 Jahre, nur eine schien etwas älter, um die 40; sie trug eine wallende schwarze Löwenmähne. Anita war die einzige Blonde im Wagen und die einzige Ausländerin. Zum Glück sprach sie gut genug spanisch, um sich verständlich machen zu können, und sie verstand auch das meiste.

Alle saßen an die Seitenwände gelehnt und mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden des Laderaums, und zwar jeweils einander gegenüber, so dass sich ihre nackten Körper nicht berührten. Die Fußgelenke steckten in eisernen Klammern, die an einer Stange in der Mitte der Ladefläche befestigt waren. Die Handgelenke wurden durch stählerne Doppelschellen fest aneinandergepresst, die ihrerseits durch eine kurze Kette mit der Stange verbunden waren. Die Frauen konnten daher nicht einmal ihre bloßen Brüste berühren, geschweige denn ihre Hände zu den trockenen Lippen führen.

Ein Stoß durchfuhr den Wagen und alle schrien auf. Dreifaches Gelächter drang aus dem Führerhaus. Doch dann glitt der Transporter beinahe erschütterungsfrei über die Straße, er musste einen relativ neuen Streckenabschnitt erreicht haben.

Anita wandte den Kopf zur Seite und spähte durch eine der Ritzen. Bislang war die Straße durch eine mit Dschungel bewachsene Ebene verlaufen, die nur selten durch kleinere Ansiedlungen unterbrochen wurde, doch nun schoben sich dunkel bewaldete Höhenrücken zu beiden Seiten an die Straße heran. Bedeutete dies, dass sich der Wagen seinem Ziel näherte? Anita war sicher, diese Tortur keine weitere Stunde mehr durchhalten zu können, und die eingefallenen und schweißglänzenden Gesichter der anderen Frauen bewiesen, dass diese ebenfalls die Grenze ihrer Leidensfähigkeit erreicht hatten.

Und dann hielt der Wagen an. Gedämpfte Stimmen erschollen, gefolgt von einem langgezogenen Knarren. Der Kleinlaster setzte sich wieder in Bewegung, fuhr aber nur noch im Schritttempo. Anita wandte den Kopf nach links, in Fahrtrichtung, und sah hohe Mauern, bekränzt durch rostigen Stacheldraht und Glasscherben, die in der tief stehenden Sonne rotgolden blitzten. Dann ein zweiflügeliges Tor, das sie durchquerten. Noch eine scharfe Linkskurve, und der Wagen hielt abermals an. Der Motor verstummte.

Anita schloss die Augen und ließ sich mit einem Seufzer an die Seitenwand zurücksinken.

Vorbei! Es ist vorbei!

Sie wollte nur noch schlafen, in einem Bett, das nicht andauernd durchgeschüttelt wurde. Frei von Fesseln. Nicht einmal den Hunger, der in den vergangenen Stunden ihren Magen hatte schrumpfen lassen, spürte sie in diesen Augenblicken. Nur Erleichterung, dass die Fahrt ein Ende hatte.

Die Doppeltür des Laderaums öffnete sich, und eine orangefarbene Sonne schien Anita ins Gesicht. Sie blinzelte. Etwas klickte, dann zog einer der Transportbegleiter die Eisenstange in der Mitte des Bodens heraus. Die Fußfesseln, nicht mehr als hufeisenförmige Metallteile mit Löchern für die Stange an beiden Enden, fielen und die Frauen zogen unter Schmerzenslauten ihre Beine an und streckten sie wieder.

Die Erste stieg aus, eine vielleicht 25-jährige Schwarzhaarige mit dunklem Teint und einem schmallippigen Mund. Der Wärter packte sie grob um die Leibesmitte und setzte sie auf dem Erdboden ab. Wenn sie sich mit ihren immer noch gefesselten Händen nicht auf der Ladefläche abgestützt hätte, wäre sie wohl zusammengebrochen.

Ein zweiter Mann erschien, mit grauer Uniform – keiner der drei Männer, die den Transport begleitet hatten. In einem Gürtelholster steckte ein Schlagstock. Über seine vorgereckten Arme hing ein Bündel Ketten, die in Stahlringen endeten.

Oh nein!, dachte Anita. Schon wieder Fesseln!

Offensichtlich war man hier nicht bereit, das kleinste Risiko einzugehen, auch wenn es sich bei den Gefangenen um nackte und hilflose Frauen handelte.

Oder geht es nur darum, uns zu demütigen?

Mit pochendem Herzen beobachtete sie, wie der Wärter dem anderen eine der Ketten abnahm und sich hinter der Schwarzhaarigen bückte. Anita konnte nicht sehen, was er tat – sie war die Zweitletzte im Wagen –, aber sie nahm an, dass er die Füße der Frau fesselte. Dann schloss er die Handschellen auf, hängte diese über einen langen und rostigen Nagel an der Innenseite der Tür und zog die Arme der Frau auf ihren Rücken, noch bevor diese Zeit gehabt hatte, sich die misshandelten Gelenke zu massieren. Die an der Kette befestigten Handschellen schlossen sich klickend. Der Wärter wies zur Seite, und mit komisch anzusehenden Trippelschritten wackelte die nackte Frau aus Anitas Sichtbereich.

Mit den Nächsten wurde ebenso verfahren.

Als die Reihe an Anita war, robbte sie zum Rand des Laderaums und versuchte erst gar nicht, sich gegen die Hände des Wärters zu wehren, der sie wie alle anderen heraushob und dabei wie zufällig ihre linke Brust quetschte. Sie biss sich auf die Lippen und senkte den Blick. Es war keineswegs das erste Mal seit ihrer Verhaftung vor drei Wochen, dass man sie berührte. Sie hoffte nur, dass es bei solchen »versehentlichen« Berührungen blieb und nicht noch Schlimmeres daraus erwuchs.

Die vorletzte Kette. Eine raue, kräftige Hand schloss sich um Anitas linken Unterschenkel, dann klickte es rasch hintereinander zweimal. Erschrocken stellte sie fest, dass die beiden Fußschellen nur durch eine höchstens zehn Zentimeter lange Kette verbunden waren. Das erklärte die Trippelschritte der anderen Frauen. Eine halbwegs normale Gangart würde damit völlig unmöglich sein.

Anitas Handfesseln fielen, und ungebeten legte sie die Hände hinter dem Rücken zusammen. Sie wollte dem Mann keinen Vorwand zu weiteren Begrapschungen liefern. Doch die Verbindungskette zwischen Hand- und Fußschellen war so kurz, dass Anita, die mit 1,75 Meter größer war als die meisten Bolivianerinnen, den Rücken durchdrücken musste, damit ihr die Fesseln nicht schmerzhaft in die Gelenke schnitten.

Mit gebeugten Knien, unnatürlich gestrafftem Oberkörper und vorgereckten Brüsten gesellte sie sich zu den anderen Frauen, die auf Weisung eines weiteren Grauuniformierten in einer Linie Aufstellung genommen hatten.

Erst jetzt kam Anita dazu, sich in dem quadratischen Gefängnishof umzusehen. Sie öffnete den Mund zu einem Laut des Entsetzens, und sie fühlte, wie die Beine unter ihr nachzugeben drohten.

Schlimmer kann es nicht mehr werden, hatte sie während der Fahrt gedacht.

Was für ein furchtbarer Irrtum …

Dschungelgefängnis

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