Читать книгу Dschungelgefängnis - Franco Pereira - Страница 8

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IV

Marcos Flores zündete eine Zigarre an, schaltete das Licht ein und schloss das Fenster. Draußen war es fast dunkel. Jetzt flammten die Scheinwerfer der beiden Wachttürme auf. Zuerst jene, die auf die Westmauer gerichtet waren, dann die für die Nordmauer mit dem Tor und ein paar Sekunden später, um den alten Generator nicht zu überlasten, die für die Ostmauer. Die Konturen der umgebenden Höhenrücken zerflossen in Dunkelheit, und die Straße, die sich vom Tor kerzengerade in den Dschungel erstreckte, verschwand.

Flores ließ sich in den Schreibtischstuhl fallen, fixierte den Blick und erschlug dann mit der flachen Hand einen Moskito. Er hinterließ einen Blutfleck auf einer Personalakte, und Flores wischte sich die Hand an einem Papiertaschentuch ab. Ein Schweißtropfen rann über seine Stirn. 34 Grad um sechs Uhr abends. Was für ein Leben!

Er nahm die Personalakte auf, ohne auch nur den Versuch zu machen, den Blutfleck abzuwischen, und blätterte sie flüchtig durch. Dann die zweite. Sie waren in der Post gewesen, die der Gefangenentransport mitgebracht hatte. Die beiden neuen Wärter waren gleich mitgekommen, einer als Ersatz für Sanchis, der nach nur vier Monaten in Esperanza versetzt worden war – sein Schwager war Regierungsangestellter in Sucre, der Hauptstadt –, der andere als lang erwartete Verstärkung. Derzeit musste Flores mit 16 Wärtern, das Zivilpersonal für die Küche nicht eingerechnet, an die vierhundert Frauen bewachen. Vier neue Wärter hatte er beantragt, vor Monaten schon, einen hatte man ihm nun geschickt. Das sagte genug darüber aus, wie wichtig man ihn in der Hauptstadt nahm – von dem seit fast einem Jahr fehlenden Arzt ganz zu schweigen. Zwei Wärter mit Sanitäterausbildung und eine Chirurgin unter den Häftlingen, die ihrem untreuen Mann ein Skalpell durch das Ohr bis ins Gehirn gerammt hatte, waren ein magerer Ersatz.

Es klopfte. Flores knurrte ein »Herein!«, dann stand Sergeant Mantilla in der Tür, einer der dienstältesten Wärter in Esperanza.

»Die Deutsche.«

Flores kramte nach ihrer Akte, überflog die ersten Zeilen und nickte. Mit einiger Mühe schloss er den obersten Kragenknopf.

Mantilla führte die Blonde herein, nackt, aber ungefesselt. Als sie Flores sah, versuchte sie, mit den Händen ihre Blößen zu bedecken. Der Wärter zog ein Paar Handschellen aus dem Gürtel, doch Flores winkte ab und deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Eine weitere Geste befahl Mantilla, den Raum zu verlassen.

Als die Gefangene sich setzte, stand Flores auf und ging, die Zigarre im Mund, zum Fenster. Schweigend starrte er hinaus, minutenlang. Er wusste, dass die Gefangene mit jeder wortlos verstreichenden Sekunde nervöser wurde. Er wollte, dass die diese Unterhaltung nicht vergaß, solange sich sich in Esperanza aufhielt – was seiner Einschätzung nach eine lange Zeit sein würde.

Als er sich schließlich umwandte, saß sie mit starrem, ins Nichts gerichtetem Blick da. Ihre Arme hingen herunter. Aus der Nähe und in der Neonbeleuchtung des Büros sahen ihre von hellen Warzen gekrönten Brüste noch straffer und verführerischer aus als auf dem Hof.

Zwei rasche Schritte brachten ihn zum Schreibtisch. Er nahm ihre Akte auf.

»Anita Wachter«, sagte er, wobei er den Nachnamen wie »Watschter« aussprach. »Festgenommen am 9. März in Santa Cruz wegen Drogenbesitzes.« Er deutete mit der Akte anklagend auf die Gefangene. »Gibt es in Deutschland keine Drogen? Müsst ihr extra nach Bolivien kommen, um welche zu kaufen? Aber natürlich, Kokain kostet hier nur einen Bruchteil des europäischen Preises, da kann man leicht einen Luxusurlaub finanzieren …«

Jetzt zeigte die Blonde zum ersten Mal eine Reaktion. Langsam hob sie den Kopf, als ob sie aus einer Trance erwachte. Ihr Blick irrte umher, kreuzte den seinen und glitt dann weiter in Richtung Fenster.

»Ich bin unschuldig! Das ist alles ein schrecklicher Irrtum!«

Flores verzog die Mundwinkel. Er hatte sie für intelligenter gehalten. »Natürlich ist das ein Irrtum.« Er deutet in Richtung des Hofes. »397 Frauen befinden sich in diesem Gefängnis, und sie alle sind aufgrund des gleichen Irrtums hier: Sie glaubten, nicht erwischt zu werden. Die bolivianische Polizei mag nicht so gut ausgebildet sein oder über so fortschrittliche Technik verfügen wie die europäische oder die US-amerikanische, aber sie nimmt ihre Aufgabe sehr ernst – genauso ernst wie ich die meine!«

Er warf die Akte auf den Schreibtisch, ging um diesen herum und baute sich vor der Blonden auf. Sie sah an ihm hoch, dann wieder auf den Boden und presste die Beine zusammen. Ihre Hände zuckten, als wollte sie mit ihnen ihre Brüste bedecken, doch dann schien sie die Sinnlosigkeit dieses Vorhabens einzusehen. Sie legte die Hände auf die Oberschenkel.

»Was ich damit sagen will«, fuhr Flores fort, »ist Folgendes: Glaub bloß nicht, dass du als Ausländerin hier besser behandelt wirst als die restlichen Häftlinge! Auch wenn das geschähe, würdest du nichts dabei gewinnen. Die Frauen hier mögen der Bodensatz der bolivianischen Gesellschaft sein, aber sie haben ihren eigenen Gerechtigkeitssinn. Wenn eine in irgendeiner Art bevorzugt wird, lassen die anderen sie dafür büßen. Und glaub mir: Frauen können grausamer sein als Männer, viel grausamer! Vor allem wissen sie genau, wie sie ihresgleichen Schmerzen zufügen können, ohne dabei Spuren zu hinterlassen.«

»Es ist aber die Wahrheit! Ich weiß von nichts!«, sagte die Deutsche leise. Sie schien seine letzten Sätze überhaupt nicht gehört zu haben.

Flores schüttelte den Kopf, nahm die Akte wieder auf und öffnete sie.

»Festgenommen wegen Drogenbesitzes. Jeweils ein Kilogramm Kokain wurden in deinem und dem Gepäck deines Begleiters gefunden, eines gewissen … Harald Weber. Ich bin kein Richter, aber eines ist sicher: Wenn du hier wieder herauskommst, wirst du graue Haare haben und Titten, die bis zum Nabel hängen.«

Wieder schien sie ihn nicht gehört zu haben. »Ich bin unschuldig, und Harry auch!«

Der Kommandant zuckte mit den Schultern. Er blätterte um und überflog zwei, drei Absätze.

»Harald Weber, zweifach vorbestraft wegen Drogenbesitzes. Ihr wurdet vom Verlassen des Flughafens La Paz El Alto an beobachtet. Am gleichen Tag flogt ihr weiter nach Santa Cruz. Am 9. März verließ Weber das ›Buganvillas Hotel Suites‹ – fünf Sterne! – und fuhr mit einem Taxi ins Stadtzentrum.«

»Er besuchte einen Freund.«

»Ganz offensichtlich«, antwortete Flores in spöttischem Tonfall. »Er wechselte mehrfach das Taxi – war wohl nicht einfach, ihm zu folgen – und ging schließlich in eine Bar, die den Sicherheitsbehörden nicht ganz unbekannt ist. Acht Minuten später kam er wieder heraus. War ein verdammt kurzer Freundschaftsbesuch … Dann wieder zurück ins Hotel, diesmal mit nur zwei Taxis. Er fühlte sich offensichtlich sicher.« Abermals blätterte er um. »Während ihr beim Abendessen wart, wurde euer Zimmer durchsucht und das Kokain gefunden. Daraufhin erfolgte der Zugriff.«

Die Deutsche hob den Kopf. Zum ersten Mal seit ihrem Eintreten suchte ihr Blick den seinen. Ihre graugrünen Augen waren geweitet.

»Aber das … das wusste ich nicht! Er sagte …« Ihr Kopf schwankte hin und her, aber ihr Blick blieb starr auf Flores gerichtet. »Wir haben uns vor ein paar Monaten kennengelernt. Er sagte, er habe in der Lotterie gewonnen und die Reise nach Südamerika sei ein Geschenk.«

Flores registrierte, dass sie das Spanische fast fehlerfrei, aber mit deutlichem Akzent sprach.

Er schnaubte. »In der Lotterie!«

Sie nickte. »Ich wusste nicht, dass er vorbestraft ist. Ich schwöre es! Ich wusste auch nicht, dass er hier …« Ihr Gesicht verzerrte sich und ihre Lippen begannen zu zittern; Flores wappnete sich gegen einen Tränenausbruch. »Deshalb kann man mich doch nicht hier festhalten! Ich bin unschuldig!«

Sie schniefte, aber sie schaffte es, die Tränen zurückzuhalten.

Flores wusste nicht, was er von der Geschichte halten sollte. Entweder sie war wirklich unschuldig oder eine verdammt gute Schauspielerin. Aber Esperanza war voll von verdammt guten Schauspielerinnen.

»Hat man Ihnen in Santa Cruz diese Akte nicht vorgelegt?«

Er hatte den Satz kaum ausgesprochen, als er sich am liebsten auf die Zunge gebissen hätte. Wie kam er dazu, die Gefangene plötzlich mit »Sie« anzureden?

Sie schüttelte den Kopf. Rasch sprach er weiter.

»Letztlich spielt es überhaupt keine Rolle, ob du schuldig oder unschuldig bist. Du bleibst so lange hier, bis ich andere Anweisungen erhalte. In dieser Zeit wirst du ebenso behandelt wie alle anderen Häftlinge.«

Er klappte die Akte zu, legte sie zurück auf den Schreibtisch und verschränkte die Arme. Sein Blick fokussierte die Deutsche.

»Ich bin nicht an Lebensgeschichten oder Unschuldsbeteuerungen interessiert. Für mich zählt nur eines: die Disziplin der Gefangenen! Wenn du dich einfügst und keinen Ärger machst, wirst du das Leben hier erträglich finden, alle tun das früher oder später. Wenn nicht …«

Ihr Kopf sank auf die Brust, ihre Hände schlossen und öffneten sich. Dann nickte sie schweigend.

»Mantilla!«

Die Tür öffnete sich.

»Geben Sie Häftling Nummer«, ein Blick auf die Akte, »5009 was zu essen und bringen Sie sie dann in ihre Zelle.«

Bei dem Wort »essen« leuchteten die Augen der Blonden auf. Sie erhob sich, murmelte ein höfliches »Adiós, Señor!« und folgte dem Sergeant.

Flores starrte die geschlossene Tür an. Der während seine Einführungsrede im Hof aufgeflammte Ärger auf die Deutsche war erloschen. Er hoffte aufrichtig, dass sie sich einfügte und keine Probleme machte. Wenn sie klug war und ihre Reize richtig einsetzte, konnte ihr Dasein hier besser als nur »erträglich« sein – na ja, vielleicht abgesehen vom Essen. Denn er hatte bewusst übertrieben, als er sagte, keine würde bevorzugt. Manche der Wärter waren schon länger hier als er selbst, sogar länger als die meisten Häftlinge. In den paar Wochen Urlaub konnten sie kaum das nachholen, was sie den Rest des Jahres versäumten. Und die Frauen, die hier ohne Männer eingesperrt waren … Es war ein Tauschgeschäft, das sich auf ganz natürliche Weise entwickelte: Gefälligkeit gegen Gefälligkeit. Die Wärter versorgten die Frauen mit Zigaretten, Süßigkeiten oder Utensilien wie Spiegel, Lippenstift und Deodorants und erhielten dafür »Dienstleistungen«. Frauen, die dazu bereit waren, fanden sich genug; keine musste gezwungen werden. Sogar der schiefgesichtige Olmedo hatte freie Auswahl.

Das Bild der festen Brüste mit den hellen Warzen tauchte vor Flores’ innerem Auge auf.

Er war gespannt, wie lange die Deutsche es ohne Mann aushielt.

Und ja, er würde ein Auge auf sie haben …

Dschungelgefängnis

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