Читать книгу Dschungelgefängnis - Franco Pereira - Страница 7

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III

Wie in einem Albtraum wankte Anita in einer Reihe mit den anderen Neuankömmlingen hinter dem Leutnant her. Am Eingang des wuchtigen Steingebäudes, das die ganze Breite des Hofs einnahm, wandte sie sich noch einmal um. Der Kommandant, der trotz seiner geringen Größe, der Halbglatze und denn angegrauten Schläfen auf Anita wie ein fleischgewordener Dämon wirkte, stand immer noch an Ort und Stelle und starrte vor sich hin.

Dann verschlang sie das Gebäude. Nach der Hitze draußen hatte Anita das Gefühl, einen Eiskeller zu betreten, oder besser eine Gruft, denn es war so dunkel, dass sie im ersten Moment kaum etwas erkennen konnte. Modrige Luft füllte ihre Lungen, und die Kälte des Steinbodens fraß sich in ihre sandverkrusteten Sohlen.

Sie bemühte sich, das, was sie draußen gesehen hatte, aus ihren Gedanken zu verdrängen, doch es gelang ihr nicht. Sie wusste nicht, was sie mehr erschreckt hatte: die hilflos in der Röhre steckende Frau, deren Kopf der glühenden Sonne preisgegeben war, die Frau am Pfahl, deren Brüste die Spuren einer Peitsche trugen, oder die beiden, die sich wie Tiere um etwas zu essen rissen. Flores’ sachliche Erläuterungen, vorgetragen ohne die Spur einer Emotion, hatten das Grauen noch verstärkt.

11000 Kilometer trennten Anita von ihrer Heimat, aber ebenso gut hätte sie sich auf einem anderen Planeten befinden können – oder in einer anderen Zeit: Was hier vor sich ging, passte eher ins Mittelalter als ins 21. Jahrhundert.

Und hier soll ich auf meinen Prozess warten? Wie lange kann das dauern? Eine Woche oder gar einen Monat?

Sie konnte sich nicht vorstellen, in diesem Gefängnis – »Hoffnung«! Was für ein hohntriefender Name! – einen ganzen Monat zu überstehen, ohne den Verstand zu verlieren.

Natürlich war diese Vorführung dazu gedacht, die Neuen einzuschüchtern, aber das war keine Show gewesen, das war Realität – eine Realität, die auch sie treffen konnte, wenn sie nicht allen Befehlen gehorchte, »sofort und widerspruchslos«, wie der Kommandant es formuliert hatte.

Allein bei dem Gedanken, mit einer der Frauen da draußen tauschen zu müssen, schnürte sich Anitas Kehle zusammen. Abermals kamen ihr die Tränen. Sie schluckte und wollte sich mit dem Arm über die Augen wischen, doch das ging nicht, denn ihre Hände waren immer noch über ihrem Po mit den Fußgelenken zusammengefesselt, so dass ihr nackter und schweißüberströmter Körper allen Blicken preisgegeben war. Und sie erinnerte sich nur allzu gut an die Blicke des Kommandanten – und an jene seines Leutnants, eines hochgewachsenen, sehnigen Typs, dessen Schnauzbart alle paar Sekunden zuckte. Vom ersten Blick an erfüllte sie eine unerklärliche, kreatürliche Angst vor diesem Mann.

Die Kolonne hielt so abrupt an, dass Anitas Brüste hart gegen die Frau vor ihr stießen. Sie murmelte eine Entschuldigung, doch die andere drehte sich nicht einmal um. Als Anita ihren Blick hob, sah sie auch den Grund: Zu ihrer Linken öffnete sich eine eiserne Schiebetür in einen großen Raum, dessen kahle Wände mit grauer Ölfarbe gestrichen waren. Wuchernde Schimmelflecke bedeckten einen Großteil der Decke, und es roch noch feuchter als draußen im Gang.

Einer der Uniformierten packte die erste der Frauen am Oberarm und zerrte sie in eine Ecke. Als sie ihm wegen der Fußfesseln nicht schnell genug folgte und zu fallen drohte, fing er sie auf und lehnte sie wie ein Möbelstück an die Wand. Dann machte er ein Handzeichen und trat zurück.

Die Geste galt einem zweiten Wärter, der in der anderen Ecke stand und einen abgewetzten roten Gummischlauch hielt. Er zielte wie mit einem Gewehr und öffnete den Verschluss. Die Frau schrie auf, als der dampfende Strahl sie traf. Ihre Haut rötete sich sofort. Sie presste sich in die Ecke, doch dem Strahl, der langsam an ihrem Körper auf- und abstrich, konnte sie nicht entkommen. In ihrer Not drehte sie sich zur Seite, doch das kam den Absichten des Wärters nur entgegen. Er säuberte ihren Körper Quadratzentimeter für Quadratzentimeter. Der Geruch von Desinfektionsmitteln stieg Anita in die Nase.

Als der Strahl endlich erlosch, sackte die Frau zusammen, wurde jedoch sofort an ihren Handfesseln gepackt, hochgezogen und durch eine türlose Öffnung in einen anschließenden Raum gezerrt, den Anita nicht einsehen konnte. Der Wärter kehrte jedoch sofort zurück, um sich der Nächsten zu widmen.

Anita sah der Prozedur stocksteif zu, ihr Gehirn war wie leergewischt. Bald herrschte in dem Raum eine Atmosphäre wie in einer Waschküche. Wasser, das an ihrem Körper kondensierte, vermischte sich mit Schweiß und lief in kleinen Bächen an ihrem Hals hinab und zwischen ihren Brüsten hindurch. Als die Reihe an sie kam, wankte sie willenlos in die Ecke und lehnte sich an die nasse Wand. Die Oberfläche war rau und von Blasen überzogen, an einigen Stellen war der Putz abgeblättert.

Wie viele Schichten Putz und Farbe mögen hier übereinander liegen?, dachte sie. Und wie viele Generationen von Häftlingen mögen der gleichen Behandlung unterzogen worden sein?

Dann traf sie der Wasserstrahl. Er war nicht so heiß, wie sie befürchtet hatte, dennoch schrie sie auf. Die Anspannung eines nicht enden wollenden Tages voller Schrecken entlud sich in diesem einzigen, langgezogenen Schrei.

Als es vorüber war, fühlte sie sich besser als vorher, vor allem sauberer. Das Schlimmste war die Angst vor der Prozedur gewesen, nicht die Prozedur selbst.

Ob wir nun endlich etwas zu essen und zu trinken bekommen?

Doch als sie mit klirrenden Ketten den nächsten Raum betrat, standen da nur die anderen Frauen in einer Reihe vor einem grünen Plastikvorhang und warteten. Halt – eine fehlte. Und die Frauen waren auch nicht mehr gefesselt.

Jemand berührte sie am Arm. Einer der Wärter stand neben ihr, einen kleinen Schlüssel in der Rechten, den er nacheinander in die Öffnungen ihrer Handschellen schob und umdrehte. Dann wiederholte er das Gleiche an den Fußschellen. Die Ketten fielen. Er nahm sie auf und warf sie zu den anderen in eine Ecke. Anita stöhnte vor Erleichterung und auch ein wenig Schmerz, als sie sich reckte und die Arme ausstreckte.

In diesem Moment drang ein Schrei hinter dem Vorhang hervor – der Schrei einer Frau. Anitas leerer Magen ballte sich zusammen.

Was tut man ihr an?

Es war kein lauter Schrei gewesen und er hatte auch nicht nach großen Schmerzen geklungen, eher nach tiefer, hilfloser Verzweiflung.

Stille.

Anita wartete darauf, dass die Frau herauskam, doch dann wurde die Nächste hineingewinkt.

Sie versuchte sich einzureden, dass wie vorhin bei der Zwangsdusche das Warten schlimmer sei als der Vorgang selbst, welcher Natur dieser auch immer sein mochte, doch es wollte ihr nicht gelingen. Das unstillbare Bedürfnis überkam sie, die anderen Frauen zu fragen, was sich in dem Raum hinter dem Plastikvorhang abspielte, doch sie wagte nicht einmal den Mund zu öffnen. Keine der Frauen hatte gesprochen, seit sich die Tür des Gefangenentransports geöffnet hatte. Keine wollte die Erste sein, über die sich der Zorn des Kommandanten entlud.

Endlos zogen sich die Minuten. Kein Schrei ertönte mehr hinter dem Vorhang, nur manchmal ein verhaltenes Stöhnen.

Als der Wärter Anita das Zeichen gab einzutreten, rannte sie beinahe. Was auch immer man ihr anzutun gedachte, sie wollte es so rasch wie möglich hinter sich bringen.

Sie betrat einen kleinen Raum, der durch eine schirmlose Glühbirne erhellt wurde. Zwei grauuniformierte Wärter blickten Anita ausdruckslos entgegen. Die einzigen Einrichtungsgegenstände waren ein hoher Metallschrank sowie, beinahe im Zentrum des Raums, ein hölzernes Gestell, von dem einige Lederriemen herabhingen. Anita fröstelte, diesmal jedoch nicht wegen der Kälte. Das Gestell sah drohend aus, wie ein roh zusammengezimmerter, hüfthoher Tisch – oder wie ein nachgebautes mittelalterliches Folterinstrument. An der Anita zugewandten Schmalseite war eine lederbezogene Holzrolle anmontiert, acht oder zehn Zentimeter durchmessend, und an der gegenüberliegenden Seite ein Paar Lederriemen. Auch an den Füßen des Gestells, unterhalb der Rolle, waren Lederriemen befestigt.

Einer der Wärter winkte Anita heran. Als sie zögerte, packte er ihre Handgelenke und zog sie mit sich. Sie musste sich über den Tisch beugen, wobei ihr nackter und von der Dusche immer noch heißer Unterleib auf der fleckigen Lederrolle zu liegen kam. Eine Hand presste ihren Oberkörper auf das Holz. Sie musste ihre Arme ausstrecken, die in dieser Stellung mit den Lederriemen fixiert wurden. Dann spreizte man ihre Beine und fesselte sie ebenfalls an das Gestell, so dass Anita nun straff über den Tisch gespannt war. Die schorfige Oberfläche drückte sich gegen ihre Brüste, ihr Unterleib war nach hinten hinausgereckt und den Blicken der beiden Männer preisgegeben – und nicht nur ihren Blicken …

Jetzt erst erkannte Anita, was man mit ihr vorhatte. Sie bäumte sich auf und riss an den Riemen, doch diese waren unerbittlich, ebenso unerbittlich wie die mit Gummi überzogene Hand eines der Wärter, die sich nun zwischen ihren gespreizten Pobacken zu schaffen machte. Zwei kalte Finger teilten ihre Schamlippen, und dann waren diese Finger in ihr, drangen in sie ein und untersuchten ihr Innerstes mit der gnadenlosen Präzision eines Roboters.

Anita warf den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und stöhnte auf. Der Schmerz war gering, aber die Demütigung unermesslich, als würde sie in einer öffentlichen Toilette vergewaltigt.

Nach schier endloser Zeit zogen sich die Finger zurück. Anita atmete tief durch, doch die Pause war nur kurz, dann kam ihr Poloch an die Reihe.

Nur ein Finger diesmal, doch nicht weniger fordernd und erprobend als zuvor. Als er sie verließ, sackte Anita in ihren Fesseln zusammen. Tränen hinterließen dunkle Flecke im Holz. Nach ihrer Verhaftung in Santa Cruz hatte sie Ähnliches durchmachen müssen, doch damals war es eine Frau gewesen, die die Untersuchung durchgeführt hatte, und kein Mann hatte zugesehen. Hier hingegen schien es überhaupt nur männliche Wärter zu geben – in einem Frauengefängnis! War das überhaupt erlaubt?

Nach westeuropäischen Gesetzen bestimmt nicht, dachte sie – aber nach bolivianischen …

Dann erinnerte sie sich an Flores’ Demonstration im Hof und an seine Worte, und sie erkannte:

Was auch immer die bolivianischen Gesetze sagen mögen, hier im Dschungel gibt es nur ein Gesetz: das des Stärkeren – Flores’ Gesetz!

Der Kommandant war Herr über Leben und Tod, denn hier gab es keine übergeordnete Instanz, die unmittelbar eingreifen konnte. In seiner Allmacht kam er für die Häftlinge einem Gott gleich – einem Gott, den man besser nicht erzürnte.

Schwankend stand Anita vor dem Gestell, nachdem die Lederriemen gelöst worden waren. Sie hatte einen sauren Geschmack im Mund und fürchtete, sich übergeben zu müssen. Dem Wärter, der sie in den nächsten Raum führte, konnte sie nicht in die Augen blicken, ebenso wenig den Mitgefangenen, die dahinter warteten. Wieder war ihr Gehirn leer. Sie fühlte sich, als sei sie stehend bewusstlos, und nahm kaum wahr, was in ihrer Umgebung geschah.

Irgendwann riss eine Stimme sie aus ihrem Dämmerzustand – eine männliche Stimme.

»Ihr bekommt jetzt zu essen, dann werdet ihr in eure Zellen gebracht. Es ist strikt verboten, während des Essens zu sprechen. Da lang!«

Nackt und im Gänsemarsch, aber ungefesselt, setzten sich die sechs Frauen in die angezeigte Richtung in Bewegung. Doch als Anita den Wärter passierte, der gesprochen hatte, hielt er sie zurück. Anitas Herz sank bis in die Magengrube.

»Du nicht! Du kommst mit mir. Der Kommandant will dich sehen.«

Dschungelgefängnis

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