Читать книгу Dschungelgefängnis - Franco Pereira - Страница 6

Оглавление

II

Marcos Flores hatte die Ankunft des Gefangenentransports vom Fenster seines Büros im ersten Obergeschoss des Hauptgebäudes beobachtet. Jetzt stand er vor dem Spiegel, rückte seine Uniform zurecht und strich sich durch die beinahe täglich lichter werdenden Haare. Als Kommandant des Frauengefängnisses »Esperanza« – »Hoffnung« – legte er Wert auf eine untadelige Erscheinung in jeder Situation.

Es klopfte. Flores hatte das »Herein!« kaum ausgesprochen, als Leutnant Pablo Tejeda eintrat, strammstand und salutierte. Flores nickte dem schnauzbärtigen Mann zu, Tejeda nickte kaum merklich zurück, und gemeinsam machten sie sich auf den Weg in den Hof. Worte waren zwischen dem Kommandanten und seinem Stellvertreter nur noch selten nötig. Wenn man sechs Jahre auf einem gottverlassenen Dschungelposten zusammenarbeitet und dabei aufeinander angewiesen ist, kennt man sich und weiß, auf wen man sich verlassen kann und auf wen nicht. Flores vertraute Tejeda blindlings. Dieses Vertrauen wurde auch nicht durch gewisse Neigungen Tejedas erschüttert, vor denen Flores den Blick verschloss.

Sechs Jahre!

Zu Beginn hatte Flores noch mit seinem Schicksal gehadert, war beinahe zum Alkoholiker geworden über seine Wut auf die Versetzung, die seine Vorgesetzten als »Beförderung« verbrämt hatten – jene Vorgesetzten, die sich aus Angst vor der DEA, der US-amerikanischen Drogenbekämpfungsbehörde, in die Hosen machten. Doch im Lauf der Jahre war seine Wut stumpfer Resignation gewichen. Ihm wurde klar: Der einzige Weg zurück in die Zivilisation – falls es überhaupt einen gab –, war jener exakter Pflichterfüllung. Mit 46 Jahren war es noch nicht zu spät für einen Schreibtischposten. Es musste nicht unbedingt in La Paz oder Santa Cruz sein, eine der Provinzhauptstädte hätte ihm schon genügt, vielleicht Cochabamba, wo seine Schwester verheiratet war.

Sie traten aus der Kommandantur, Tejeda zu Flores’ Rechten und stets einen Schritt hinter ihm. Während sie auf die Phalanx der sechs nackten Neuzugänge zuschritten, die von zwei Wachen flankiert wurden, glitt der Blick des Kommandanten über den weiträumigen Hof, dessen Boden aus festgestampfter Erde im Licht der Abendsonne eine rotbraune Farbe angenommen hatte.

Wie stets hatte Flores den Tag der Ankunft neuer Häftlinge ausgewählt, um die im Lauf der letzten Wochen verhängten Bestrafungen vorzunehmen. Er war kein Anhänger sinnloser Grausamkeit, aber die Disziplin unter den gefangenen Frauen musste unter allen Umständen gewahrt werden, und eines der Mittel zu diesem Zweck war es, sie von Anfang an wissen zu lassen, was ihnen drohte, wenn sie sich nicht an die Regeln – seine Regeln – hielten.

Etwa fünf Meter vor den gefesselten Frauen, die ihm mit stumpfen Blicken aus von den Strapazen der Fahrt gezeichneten Gesichtern entgegensahen, blieb Flores stehen und musterte sie. Der übliche Abschaum, keine Frage, nicht einmal der Mühe wert, sich ihre Akten näher anzusehen. Mit einer Ausnahme: die blonde Ausländerin, die mit aufgerissenen Augen auf den Kopf der Delinquentin starrte, der ein Stück entfernt aus der Erde ragte. Eine Deutsche, wenn er sich recht erinnerte. Ihre helle Haut ließ sie zwischen den Bolivianerinnen wie eine Marmorstatue erscheinen, mit festen und spitzen Brüsten und einem Flaum zwischen den Beinen, so kurz und durchscheinend, als sei ihr Schoß erst vor Kurzem rasiert worden. Und groß war sie, mindestens einen halben Kopf größer als er selbst. Er musste achtgeben, sich ihr nicht direkt gegenüberzustellen, das könnte die Disziplin untergraben.

Er begann seine Ansprache.

»Mein Name ist Marcos Flores, ich bin der Kommandant hier.« Seine Stimme schallte über den Hof. Auch die Blonde sah nun in seine Richtung. »Ihr befindet euch im Frauengefängnis Esperanza, wo ihr eure Strafe absitzen oder auf euren Prozess warten werdet.«

Er musterte jede Einzelne mit einem stechenden Blick.

»Dies ist kein Gefängnis wie das berüchtigte Palmasola, wo die Gefangenen sich selbst überlassen sind, wo Anarchie herrscht und Mord und Totschlag an der Tagesordnung sind. Hier herrscht Disziplin, und es ist meine Aufgabe, diese Disziplin durchzusetzen. Wer sich unauffällig verhält und meine Anweisungen und die der Wachen sofort und widerspruchslos befolgt, hat nichts zu befürchten. Wer nicht …« Flores machte mit dem linken Arm eine Geste, die den halben Hof umschloss. »Seht euch an, wie hier mit Aufrührerinnen verfahren wird!«

Während Tejeda stehenblieb und die Frauen im Auge behielt, schritt Flores zu der ersten Delinquentin. Nur ihr Kopf ragte aus einer in die Erde eingelassenen Betonröhre, deren Durchmesser es der Frau gerade erlaubte, darin mit eng an den Leib gepressten Armen zu stehen. Die Röhre war sogar so eng, dass die Frau auch dann stehen bleiben würde, wenn sie das Bewusstsein verlöre. Ihre Augen waren halb geschlossen, das Gesicht vom Nachmittag in der gnadenlosen Sonne gerötet. Die Haut an ihrer Nase hing in Fetzen hinunter.

Und sie trug einen ledernen Knebel, der ihr kaum mehr als ein Stöhnen erlaubte.

»Diese hier, Häftling Nummer 7248, hat einen der Wärter tätlich angegriffen. Sie wird es sich sehr sorgfältig überlegen, bevor sie dieses Vergehen wiederholt.«

Er schritt einige Meter weiter. Eine nackte Frau mit schulterlangen Haaren hing mit weit über dem Kopf gefesselten Händen an einem Pfahl. Eine eiserne Stange, die in Fußschellen endete, spreizte ihre Beine, der Sand dazwischen war dunkel vor Nässe. Über Oberschenkel, Bauch und Brüste zogen sich ein Dutzend Striemen, deren Farbspektrum von feuerrot bis tiefviolett reichte.

»Häftling Nummer 9307. Sie hat über das Essen geschimpft und ihre Mitgefangenen aufgefordert, in einen Hungerstreik zu treten. Nun wird sie einen dreitägigen Hungerstreik in einer lichtlosen Einzelzelle antreten, sobald sie losgebunden wird.«

Ein kurzer Seitenblick zu den Neuzugängen verriet Flores, dass die Demonstration ihren Zweck erfüllte. Sogar über die Entfernung von mehr als 20 Metern hinweg bemerkte er, dass einigen die Knie zitterten. Und die Deutsche war inzwischen noch bleicher als die Marmorstatue, mit der er sie verglichen hatte. Sie sah aus, als stünde sie kurz vor einer Ohnmacht.

Er ging zu den letzten beiden Delinquentinnen.

»Häftlinge Nummer 9076 und 6844. Während diese hier mit ihren Reizen einen Wärter ablenkte, versuchte die andere, seinen Schlagstock zu stehlen.«

Die beiden nackten Frauen waren ebenso gefesselt wie die Neuzugänge, mit eisernen Hand- und Fußschellen, die hinter dem Rücken mit einer kurzen Kette verbunden waren. Zusätzlich trugen sie Halseisen, deren zwei Meter lange Ketten in Bodenhöhe an einem Betonpfahl befestigt waren. Sie lagen nebeneinander, mit angezogenen Knien, und hatten nicht einmal aufgesehen, als Flores zu ihnen getreten war. Das änderte sich sofort, als er sich zu einem Futtertrog bückte, knapp außerhalb der Reichweite der beiden. Flores nahm ein vertrocknetes Stück Brot in die Hand und wog es prüfend. Die Frauen wälzten sich herum und folgten seinen Bewegungen mit aus den Höhlen quellenden Augen.

»Sie sind die besten Freundinnen«, sagte er mit ironischem Unterton, »aber beide haben seit gestern Morgen nichts mehr gegessen. Sehen wir mal, was geschieht …«

Er warf das Brot in Richtung der Frauen. Da sie nicht mit den Händen danach greifen konnten, hatten sie keine andere Möglichkeit, als darauf zuzurobben und zu versuchen, es mit dem Mund zu packen. Eine der beiden – eine Brünette, von deren Lockenfrisur nach einem Tag im Gefängnishof kaum etwas übrig geblieben war – erreichte es zuerst, biss hinein und begann sofort zu kauen. Doch da war die andere, eine Schwarzhaarige mit vollen, schmutzverkrusteten Brüsten, bereits heran und rammte die Oberseite ihres Kopfes in das Gesicht der Brünetten. Die ließ den Rest des Brotes mit einem Aufschrei los. Blut schoss aus ihrer Nase und ihrem Mund. Die Schwarzhaarige kümmerte sich nicht darum, sondern nutzte die Gelegenheit, um das Brot mit den Zähnen zu packen und davonzukriechen, so schnell es ihre Fesselung erlaubte. Während die Brünette vor Schmerzen heulte, verschlang die andere den Rest des Brotes mit solcher Gier, dass sie von einem Hustenanfall geschüttelt wurde.

Abschaum!, dachte Flores. Nicht besser als Tiere!

»Beginnend mit heute Abend«, fuhr er fort, »werden sie einen Monat in Einzelhaft verbringen.«

Nach einem letzten, verächtlichen Blick auf die beiden Frauen kehrte Flores langsam zurück zu seinem ursprünglichen Platz vor den Neuen. Er ließ sich nicht anmerken, welche Genugtuung ihm die angsterfüllten Blicke bereiteten, die ihm folgten.

»Das sind nur einige der Strafen, die Aufsässigen hier drohen. Und falls jemand an Flucht denkt: Das Lager ist von Dschungel und Bergen umgeben, und die einzige Zufahrtsstraße wird bewacht. Es gibt eine Menge wilder Tiere hier. Von Jaguaren, Pumas und Ozelots will ich gar nicht reden, aber Giftschlangen sind oft nur fingerlang und so gut wie unsichtbar. Ein einziger Biss, nicht schmerzhafter als der Stich eines Moskitos, kann zu einem schrecklichen Tod führen. Und dann sind da noch die Pekaris. Kaum jemand kann sich vorstellen, wie gefährlich diese Wildschweine sind. Sie sind äußerst aggressiv und haben Zähne wie Raubtiere, die sie sich gegenseitig schärfen. Sie jagen in Gruppen und können einen Menschen in Sekundenschnelle zerfleischen. Ich habe das selbst gesehen.«

Flores’ Blick wich nicht von den Frauen. Trotz ihrer Erschöpfung, dachte er, haben sie noch genug Energie, um zuzuhören. Das ist gut. Sie werden kein Wort vergessen.

»Aber jene, die auf der Flucht sterben, können sich trotz allem glücklich schätzen«, fuhr er fort. »Werden sie nämlich wieder eingefangen, wird ihre Strafe nicht nur verdoppelt. Sie werden die nächsten drei Monate in Einzelhaft verbringen, nackt und mit Händen und Füßen an die Wand des feuchtesten und tiefsten Lochs geschmiedet, über das Esperanza verfügt.« Er lächelte drohend. »Wenn sich die eine oder andere von euch dafür interessiert, wie es da unten aussieht, wird Leutnant Tejeda hier sie einmal hinunterführen. Vorausgesetzt, sie erträgt den Gestank, der dort herrscht.«

Er fixierte die Deutsche. Als sie seinen Blick bemerkte, schlug sie die Augen nieder. Ihre Lippen bebten, und dann löste sich eine Träne von ihrem linken Auge und lief über die von Schweiß und Schmutz verkrustete Wange.

Wut flammte in Flores auf. Was hatte diese Nutte mit der rasierten Möse erwartet? Dass sie hier eine Extrawurst serviert bekäme? Diese Ausländerinnen glaubten, sich alles erlauben zu können, dachten wohl, bolivianische Gesetze gälten nicht für sie.

Nicht mit mir! Ich werde ein besonderes Auge auf die Deutsche haben – oder sogar anderthalb. Beim ersten Vergehen, so gering es auch sein mag, werde ich sie als warnendes Beispiel benutzen.

Am besten war es wohl, sie sich noch an diesem Abend, gleich nach der Einkleidung, vorzuknöpfen und ihr Weltbild geradezurücken.

Ja, dachte er, ich werde Tejeda einen entsprechenden Befehl geben …

Dschungelgefängnis

Подняться наверх