Читать книгу Dschungelgefängnis - Franco Pereira - Страница 9

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V

Der Mann, den Flores Mantilla genannt hatte, war ungewöhnlich hager und hatte ein ausgemergeltes Gesicht, das es schwer machte, sein Alter zu schätzen. Er brachte Anita in die Küche: ein großer Raum mit langgestreckten Arbeitsflächen, mehreren Öfen und einer Unmenge an aufgereihten Töpfen und Pfannen. Die Essenszeit schien vorüber zu sein. Ein Koch und zwei Frauen, die blaue Jacken und Beinfesseln trugen, waren mit Aufräumarbeiten beschäftigt. Auf den Brust- und Rückenseiten der Jacken prangten vierstellige Nummern.

Gott sei Dank!, dachte Anita. Sie hatte schon befürchtet, die Häftlinge wären ständig nackt. Allerdings waren die Jacken sehr kurz, und als sich eine der Frauen bückte, konnte Anita zwischen den blanken Pobacken ihre Schamlippen sehen, denn die Frauen trugen keine Slips.

Der Koch, beinahe noch dürrer als Mantilla, mit buschigen Augenbrauen und einer geflickten grau-weißen Mütze, goss dünne Suppe in einen Teller und reichte Anita ein Stück wässriges Weißbrot. Sie verschlang beides, ohne sich an dem Geschmack oder vielmehr dessen Abwesenheit zu stören. Der Koch füllte ihr sogar noch einen zweiten Teller. Zu trinken gab es Wasser in einem Blechbecher.

Als sie fertig war, drückte ihr Mantilla ein zusammengefaltetes Kleidungsstück in die Hand, das er in der Zwischenzeit organisiert hatte. Es war eine Jacke von der gleichen Art, wie sie die beiden Küchenhilfen trugen. »5009« stand darauf.

Was auch immer passieren wird, dachte Anita, diese Nummer werde ich niemals vergessen!

Sie riss dem Wärter die Jacke beinahe aus der Hand und streifte sie über. Sie war aus grobem Stoff, spannte sich über ihre Brüste und reichte, wenn Anita stand, nur bis zur Obergrenze ihres Schamhaars. Dennoch fühlte sie sich sofort viel besser.

Mantilla hatte noch etwas mitgebracht, das er ihr nun anlegte: Ein Paar stählerner Fußschellen, verbunden durch eine halbmeterlange Kette; die gleiche Art, wie sie die beiden Küchengehilfinnen trugen. Kettenklirrend folgte sie Mantilla in den Zellentrakt, durch eine doppelte und von einem müde aussehenden Grauuniformierten bewachte Sicherheitstür. Dahinter ging es eine enge und verwinkelte Treppe hoch ins erste Obergeschoss. Vom Hof aus hatte Anita gesehen, dass das breite Gebäude, das die Südseite des Hofs abschloss, insgesamt über drei Stockwerke verfügte.

Sie passierten mehrere Gänge mit vielen Türen, die zweifellos zu den Zellen führten. Eiserne Türen mit Schiebefenstern sowohl in Boden- als auch in Augenhöhe. Was für Schrecken mochten sich dahinter verbergen?

Unterwegs überdachte Anita ihr Gespräch mit dem Kommandanten. Er erschien ihr nicht mehr ganz so dämonisch wie während seiner Ansprache auf dem Hof, doch sie wollte nicht abermals den Fehler begehen, zu rasch Vertrauen zu fassen. Ein Fehler, den sie schon viel zu oft gemacht und der sie letztlich hierher gebracht hatte.

Ob Flores ihr glaubte? Aber es war wohl tatsächlich so, wie er gesagt hatte: Hier spielte es keine Rolle, ob sie schuldig war oder nicht. Sie konnte nur beten, dass man sie bald wieder herausholte. Schließlich würde ihr Prozess wohl kaum hier, sondern in Santa Cruz stattfinden.

Mit einem Mal packte sie die Angst. Bedeutete nicht allein die Tatsache, dass man sie hierher gebracht hatte, mitten in den Dschungel, dass es noch längere Zeit bis zum Prozess dauern würde? Hätte man sie so weit weg verfrachtet – eine ganze Tagesfahrt! –, wenn ihr Prozesstermin nur eine oder zwei Wochen in der Zukunft läge?

Mantilla hielt vor einer Tür an, die sich nur in der darüber stehenden Nummer von den anderen unterschied: 114. Er zog einen verblüffend kleinen Schlüsselbund aus der Tasche, sucht zielstrebig einen Schlüssel heraus und öffnete. Wahrscheinlich, dachte Anita, hatten alle Zellen – oder zumindest alle Zellen eines Traktes – identische Schlösser.

Anita hatte ein die Ohren marterndes Quietschen erwartet, doch die Tür schwang beinahe geräuschlos auf. Dahinter herrschte Dunkelheit. Mantilla betätigte einen Schalter außen neben der Tür, und eine nackte Birne von höchstens 25 Watt, um die ein Schwarm Mücken brummte, erleuchtete mehr schlecht als recht einen hohen, etwa vier mal fünf Meter messenden Raum: Anitas Heimat für unbestimmte Zeit.

Er schob sie hinein, bückte sich und löste ihre Fußkette. »In 15 Minuten schalte ich das Licht wieder aus«, sagte er und schloss die Tür.

Anita registrierte das Drehen des Schlüssels im Schloss nur am Rande, zu beschäftigt war sie damit, das Zelleninnere zu mustern.

Die vier Ecken waren von Betten oder besser gesagt Pritschen aus Stahlrohrgestell belegt, so dass nicht allzu viel Platz dazwischen frei blieb. Jede Pritsche verfügte über einen Nachttisch, nicht mehr als ein niedriges Stahltischchen, auf dem Utensilien wie Kämme, Klopapierrollen und Blechbecher lagen. In der Mitte der hinteren Wand, gegenüber der Tür, hing ein altertümlicher Ausguss, dessen Emaille-Überzug größtenteils abgesplittert war.

Drei der Betten waren belegt. Zwei Frauen hatten sich aufgesetzt und sahen Anita entgegen, die dritte lag zusammengerollt auf der fleckigen Matratze und schien zu schlafen. Sie war ebenso nackt wie die beiden anderen; die blauen Häftlingsjacken lagen zerknüllt auf den Nachttischen oder dem Fußboden. Anita wurde auch sofort klar, warum die Frauen es vorzogen, ohne Kleidung zu schlafen: Hier drin war es fast ebenso heiß wie im Büro des Kommandanten. Der Geruch von Schweiß und Moder stieg ihr in die Nase, und noch von etwas anderem. Urin? Wände, Boden und Decke bestanden aus nacktem Beton, das eintönige Grau wurde lediglich durch große Schimmelflecke sowie einige Kreide-Graffiti an den Wänden aufgelockert.

Anita wusste nicht, was sie zu den beiden Frauen sagen sollte, daher entschloss sie sich zu einem neutralen »Buenas tardes« – »Guten Abend«.

Doch das schien die falsche Wahl gewesen zu sein. Während eine laut auflachte, kniff die anderen die Brauen zusammen.

»Wer bist denn du?«

Anita stellte sich vor. Das Ganze kam ihr unwirklich vor, wie in einer bizarren Komödie. Hier stand sie, nur mit einer Jacke bekleidet, die ihre Schamgegend freiließ, und betrieb Konversation mit zwei nackten Frauen, die auf ihren Betten kauerten und sie beäugten wie eine zu groß geratene Schabe.

»Ausländerin? Gringa?«, fragte die, die schon einmal gesprochen hatte, und ihre Miene ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, wie sie über »Gringas« dachte. Anita hatte gelernt, dass mit »Gringo« beziehungsweise »Gringa« pauschal alle Ausländer bezeichnet wurden.

»Alemana.«

Die Frau entspannte sich. Sie war Mitte zwanzig, sehr dunkelhäutig, mit schwarzen Locken und einem Paar grauer Augen, das im Licht der Glühbirne glitzerte.

»Ich bin Sara, und das da ist Josefa. Die da so tut, als ob sie schläft, heißt Lina.«

Josefa hatte glattes, kurzgeschnittenes Haar, eine deutlich hellere Hautfarbe als Sara, schwere Brüste und eine breite Nase, die aussah, als wäre sie mindestens zweimal gebrochen. Von Lina sah Anita kaum mehr als Rücken, Po und ein Paar rissiger Fußsohlen.

»Weswegen bist du hier?«, fragte Sara.

»Drogenbesitz. Aber ich bin unschuldig!«

Sara lachte wie über einen guten Witz, doch Josefa schnellte sich hoch und fuhr auf Anita zu, die zurückzuckte und mit dem Hinterkopf gegen die Eisentür prallte. Der Schmerz war geringer als die Angst, die Anita verspürte, als sie in Josefas von der dicken Nase entstelltes Gesicht starrte. Es hatte sich zu einer drohenden Grimasse verzogen.

»Ich bin wegen Mordes hier, aber ich bin nicht unschuldig! Hahaha! Nimm dich vor mir in Acht!«

Im nächsten Moment saß sie wieder auf ihrer Pritsche. Sara machte eine Geste, die wohl besagte, Anita solle Josefa nicht allzu ernst nehmen, doch die Deutsche beruhigte sich nur langsam. Ihren Hinterkopf reibend, starrte sie auf das einzige noch leere Bett links neben der Tür. Eine dünne Matratze, eine graue Wolldecke und ein Kissen, das war der ganze Komfort, den ihre neue Schlafstelle zu bieten hatte.

Dann entdeckte sie die Lederfesseln.

Sie waren von der gleichen Art wie jene an dem Untersuchungsgestell. Der einzige Unterschied bestand in kleinen Schlössern, mit denen die Fesseln gesichert werden konnten. Jeweils eine hing am linken und rechten Fußende der Pritsche, so dass die Gefangene mit gespreizten Beinen fixiert werden konnte. Etwa in der Mitte der Längsseiten gab es je eine weitere für die Handgelenke, ebenso an beiden Seiten des Kopfendes, mit denen die Arme hochgebunden werden konnten. Doch damit nicht genug: An der Querstange des Kopfendes, einen halben Meter über der Matratze, war ein weiteres Paar angebracht.

Mit einem raschen Blick zu den anderen Betten überzeugte Anita sich davon, dass diese über identische Fesseln verfügten. Sie deutete auf das Paar an der Querstange.

»Wofür sind die?« Sie bemerkte, dass ihre Stimme zitterte.

Josefa gluckste, und Sara zeigte ein unergründliches Lächeln. Es lag irgendwo zwischen Häme und Verlegenheit.

»Das wirst du gewiss bald herausfinden.«

Etwas kribbelte an Anitas linkem Schienbein. Sie sah an sich hinab – und schrie auf. Sie machte einen Satz zur Seite und wischte das Bein ab. Mindestens ein Dutzend großer schwarzer Ameisen hatte versucht, an ihr hochzuklettern.

Sara und Josefa lachten. »Man sollte ihnen nicht den Weg versperren«, sagte Sara.

Erst jetzt bemerkte Anita die Ameisenstraße, die von der Tür nach hinten führte, in die Nähe des Ausgusses, und unterdrückte einen Fluch. Sie setzte sich auf die freie Matratze, wobei sie darauf achtete, keine der Lederfesseln zu berühren. Abermals sah sie sich in der Zelle um, auf der Suche nach etwas, da sie vermisste. Ein Fenster gab es, klein und hoch oben, außer Reichweite. Wenn ihr Orientierungssinn sie nicht trog, ging die Zelle auf den Hof hinaus. Das Fenster stand offen – nein, korrigierte Anita sich, es besaß überhaupt keine Verglasung! Kein Wunder, dass die Mücken in Wolken um die Lampe schwirrten.

Doch das, was sie suchte, fand Anita nicht.

»Gibt es denn hier keine … keine Toilette?«, fragte sie schließlich mit vor Verlegenheit glühendem Gesicht. Ihre Blase, die sie zum letzen Mal in gefesseltem Zustand im Gefängniswagen entleert hatte, drückte sie seit der schrecklichen Untersuchung.

Josefa fiel auf die Matratze zurück und klatschte sich auf die nackten Schenkel. »Ein Zimmer mit Bad! Sie will ein Zimmer mit Bad! Was noch? Vielleicht Meerblick? Wo kommst du denn her?« Sie wälzte sich kichernd hin und her, dann setzte sie sich wieder auf und warf Anita einen schlecht gespielten Verschwörerblick zu. »Wenn du sehr nett zum Kommandanten bist, lässt der dich vielleicht sein Klo benutzen! Natürlich nur unter Aufsicht.«

Anita blickte sich verzweifelt um. »Aber wie …?«

Sara bückte sich, griff mit der Hand unter die niedrige Pritsche und zog einen breiten Nachttopf hervor, so schwungvoll, dass etwas von seinem Inhalt überschwappte.

»Du hast auch einen. Sie werden einmal am Tag geleert, irgendwann am Nachmittag.«

Zum zweiten Mal an diesem Abend glaubte Anita, sich übergeben zu müssen. Das konnte doch alles nicht wahr sein! Sie sollte hier vor den Augen und Ohren der anderen Frauen ihre Bedürfnisse verrichten?

Was sie während der Untersuchung und später im Büro des Kommandanten noch hatte zurückhalten können, drängte nun mit aller Macht hinaus. Aufschluchzend ließ sie sich auf die Matratze fallen und vergrub den Kopf in dem muffig riechenden Kissen. Niemand störte ihren Gefühlsausbruch.

Das Licht erlosch.

Schniefend hob Anita den Kopf und wischte sich mit dem Jackenärmel über die Augen. Die Dunkelheit war absolut, aber sie hörte ein Paar Füße, das über den blanken Betonboden klatschte. Im nächsten Moment trommelte jemand gegen die Tür.

»Heda! Schwanzlutscher! Das war aber keine Viertelstunde!«

Der Stimme nach war es Josefa. Anitas Herz machte einen Satz. Sie erwartete, dass die Tür auffliegen und Josefa hinausgezerrt würde, auf den Hof, um mit einer der dort zur Schau gestellten Delinquentinnen den Platz zu tauschen.

Doch es erfolgte keine Antwort.

Nur langsam gewöhnten sich Anitas Augen an die Dunkelheit, aber auch dann konnte sie nicht mehr als das Rechteck des Fensters hoch über sich wahrnehmen. Das Innere der Zelle war schwarz wie eine Kohlengrube.

»Wie viel haben sie dir aufgebrummt?«

Sara hatte die Frage gestellt, und es konnte kein Zweifel darüber bestehen, wem sie galt.

»Noch gar nichts.« Anitas Verzweiflung äußerte sich in einem tiefen Seufzer. »Ich warte immer noch auf meinen Prozess.«

»Wann wurdest du denn verhaftet?«

»Vor drei Wochen.«

Ein Ausruf der Verwunderung oder auch des Mitleids ertönte. »Dann sollten wir uns vertragen, denn wir werden für lange Zeit Zellengenossinnen sein.«

Anita fuhr auf. Ihr rechter Fuß stieß gegen den Stahl des Bettgestells und sie unterdrückten einen Schmerzensschrei.

»Wieso? Wie lange dauert das gewöhnlich?«

»Mit einem halben Jahr musst du mindestens rechnen. Es kann aber auch zwei oder drei Jahre dauern.«

»Drei Jahre?« Anita rang um Atem. »Aber man kann mich doch unmöglich so lange einsperren, ohne Prozess! Ich bin unschuldig!«

Von der Tür her ertönte haltloses Kichern. Josefa fand ihre neue Zellengenossin offensichtlich äußerst unterhaltsam.

»Ja, der Prozess«, fuhr Sara fort. »Fünf Jahre sind keine Seltenheit, manche Prozesse dauern noch länger. Natürlich, wenn du dich schuldig bekennst, geht es schneller. Das solltest du dir überlegen.«

»Fünf Jahre!«

Anitas Kopf fühlte sich an, als ob jemand darin ein Feuerwerk entzündet hätte. Sie sank zusammen und barg ihr Gesicht in den Händen.

Dschungelgefängnis

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