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Kriegsproduktion in der Stadt Göttingen
ОглавлениеDie Integration angestammter Unternehmen in die Rüstungsmaschinerie
Anfang des 20. Jahrhunderts war in der Universitätsstadt noch das Bau- und holzverarbeitende Gewerbe mit 1.830 Beschäftigten die stärkste Wirtschaftsbranche. Weit dahinter lag das Tuchmachergewerbe, bei dem 488 Personen in Lohn und Brot standen; etwa 75 % waren allein in der Tuchfabrik Levin beschäftigt.1 Doch daneben war eine Vielzahl hochspezialisierter Kleinbetriebe der Feinmechanik, Optik und Elektrotechnik mit zunächst nicht mehr als 25 Beschäftigten entstanden. Überwiegend stellten sie für Universitätsinstitute Präzisionsgeräte, wie Analysewaagen (Sartorius), meteorologische Instrumente (Lambrecht), Mikroskope (Winkel) und Apparate für die mineralogische Forschung (Optisch-mechanische Werkstätten von Voigt & Hochgesang sowie Spindler & Hoyer) her. 1912 wurde die Firma Kosmos für Präzisionsinstrumente gegründet, und 1913 die Physikalischen Werkstätten (Phywe), die sich auf Lehrmaterialien spezialisierte. Die Firma Ruhstrat hatte die Elektrotechnik zu ihrer Domäne gemacht; die Herstellung von Widerständen war ihr Schwerpunkt. Binnen weniger Jahre entwickelte sich eine „Universitätsindustrie“, die bald ihre Erzeugnisse auch weltweit vermarkten konnte. Während des Ersten Weltkrieges hatten diese Unternehmen mit ihren Produkten die Armee beliefert; dadurch waren sie zu Industriebetrieben mit mehreren hundert Mitarbeitern herangewachsen.2
Göttinger Betriebe versorgten schon während des Ersten Weltkrieges das Heer und die Marine mit mannigfaltigen Rüstungsgütern. Sie lieferten Vermessungsgeräte, Apparate zur Bestimmung des Standortes von Geschützen, Periskope für Geschütze, Armee-Beobachtungsrohre, Fern- und Prismengläser, elektrische Messgeräte, Notbeleuchtungen sowie Spezial-Widerstände für die Funktechnik. Andere stellten Zünder her oder bearbeiteten Granaten.3 Der Wegfall dieser kriesgbedingten Staatsaufträge führte zu Massenentlassungen und einer andauernden Krise der gesamten Branche, so dass im August 1933 noch immer 1.000 zumeist qualifizierte Arbeitskräfte erwerbslos waren. Verschärfend wirkte sich aus, dass gleichzeitig die Exportmärkte wegbrachen und die zivile Inlandsnachfrage stagnierte.4 Um der Krise zu begegnen, forderte der Magistrat der Stadt erstmals mit Schreiben vom 22. August 1933 vom Reichsarbeitsminister Unterstützung bei der Wirtschaftsförderung. Die Behörden sollten zu Neuanschaffungen angehalten und heimische Betriebe, so insbesondere die der Schwachstromtechnik, mit den großen Konzernbetrieben gleichbehandelt und mit Aufträgen bedacht werden.5 Als Anhang dieser Petition überreichte der Göttinger Magistrat eine ausführliche Übersicht der für eine solche öffentliche Unterstützung in Frage kommenden Industriebetriebe. Dazu gehörten etwa die Feinmechanischen Werkstätten Achilles (Maschmühlenweg 95), die vor allem Ausrüstung für das Eisenbahnsicherungswesen wie Morse-Farbschieber, Fernsprecher, Umschalter sowie Leitungsklemmen produzierte.
Auch die Werkstätten für Präzisions-Mechanik von Georg Bartels in der Unteren Maschstraße 26 (Aerodynamische, geophysikalische und elektrostatische Messinstrumente) und die Metallwarenfabrik Boie (Fabrikweg 2) wurden aufgeführt. Dieser Betrieb hatte bereits im Ersten Weltkrieg Zündladungskapseln sowie Beleuchtungsteile für Flugzeuge geliefert. Die Elektro-Schalt-Werke AG (Ruhstrat) wurde als Spezialfabrik für elektrische Apparate besonders hervorgehoben. Im Krieg hatte sie die Reichsmarine mit Notbeleuchtungen versorgt, war aber bei der Ausschreibung für zwei neue Panzerkreuzer unberücksichtigt geblieben. Neben automatischen Notbeleuchtungen, insbesondere für Gasschutzräume, konzentrierte sich die Firma auf die Fabrikation von Kontaktwiderständen sowie elektrischen Hochtemperatur-Schmelz- und Glühöfen. Als weitere potentielle Zulieferer von Instrumenten wurden die Mechanischen Werkstätten August Fischer in der Hospitalstraße 7 (Erschütterungsmesser, Abhorch- und Schallmess-Geräte) sowie die Firma Kosmos (meteorologische Stationen für Heereszwecke, Quecksilber-Barometer) präsentiert.6
Baustelleneinrichtung Feinprüf Göttingen (BA Berlin)
Anfang September 1933 übersandte das Reichsarbeitsministerium dem Reichsminister der Luftfahrt in Abschrift das Schreiben des Göttinger Magistrats mit dem eindringlichen Wunsch, der Bitte auf Zuteilung von Aufträgen zu entsprechen. „Die Erhaltung der hochqualifizierten feinmechanischen Werkstätten Göttingens und des zu ihnen gehörenden Facharbeiterstamms“ liege „im Interesse der deutschen Wissenschaft und Volkswirtschaft“.7 Am 10. März 1934 brachte die Hauptgeschäftsstelle Göttingen der Industrie- und Handelskammer das Begehren beim Reichsminister der Luftfahrt in Erinnerung. Sie bat ihrerseits um Unterstützung und Feststellung, „welcher Bedarf an feinmechanischen, optischen und ähnlichen Instrumenten“ bei sämtlichen „in Frage kommenden Instituten der dortigen Verwaltung“ bestehe. Das Ergebnis sollte den beschaffenden Stellen mit dem Auftrag zugeleitet werden, die erforderlichen Mittel zu bewilligen.8 Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten.
In der ersten Märzwoche 1936 beauftragte das Oberkommando der Wehrmacht die Esslinger Firma Carl Mahr, in Göttingen nach dem „Montan-Schema“ staatsfinanziert eine Fabrik für den Lehren- und Vorrichtungsbau „betriebsfertig einzurichten“. Sie sollte 150 bis 200 Mann mit der Herstellung von in erster Linie Gewindelehren beschäftigen. Eine zentrale Ausbildungsstätte für Lehrlinge im Lehrenbau sollte angeschlossen werden. Mahr blieb es überlassen, eine passende Fabrik um- oder auszubauen oder aber ein Grundstück zu erwerben und darauf einen kompletten Neubau zu errichten, doch sollten die Kosten 1,1 Million RM nicht überschreiten.9
Mahr gründete zu dem Zweck am 25. März 1936 die 100%ige Tochtergesellschaft „Feinprüf, Feinmeß- und Prüfgeräte GmbH“ und entschied sich für einen Neubau im Göttinger Brauweg, der umgehend begonnen wurde.10 Für die Inbetriebnahme konnte Mahr ebenfalls aus Staatsmitteln 20 Göttinger Arbeitskräfte sechs Monate lang im Esslinger Stammwerk schulen lassen.11 Im Mai 1937 war die ‚Werksanlage A‘ noch im Rohbau, allenfalls in Teilen betriebsbereit,12 da lagen schon erste Aufträge vor. Anfang 1937 bestellte das Heer eine Lieferung von Lehren, überwies auch gleich 50.000 RM.13 Die ersten 40 Lehren wurden am 8. Mai 1937 fertig.14 Feinprüfs Speziallehren dienten allen Munitionslieferanten der Wehrmacht zur Herstellung ihrer Geschosse.15 Im März 1938 verlangte das OKH von Feinprüf auf dem Gelände unverzüglich eine zweite Fabrik gleicher Größe, ein ‚Werk B‘, zu errichten.16 In den kommenden zwei Jahren wandte das OKH weiter hohe Investitionen in den Ausbau der Anlage auf; eine Zweigniederlassung im thüringischen Schmalkalden, das ‚Werk C‘, kam hinzu.17 Die besondere Wichtigkeit für die Kriegsvorbereitung von langer Hand unterstreicht, dass die Errichtungskosten der „Feinprüf“-Werke voll vom Reich getragen wurden, die Fabriken erst nach Fertigstellung über die staatseigene „Montan“ an Mahr verpachtet wurden. Die Pachtverträge wurden sehr viel später schriftlich fixiert, der zwischen der „Montan“ und Feinprüf am 30. Juni/31. August 1939, der Mantelvertrag zwischen Mahr und der „Montan“ am 26. April/2. Juli 1940.18
Baustelle ‚Werk A‘ des Feinprüf-Werkes im Göttinger Brauweg, 1937 (BA Berlin)
Blick von anderer Richtung auf die Feinprüf-Baustelle, 1937 (BA Berlin)
In Skelettbauweise errichte Feinprüf-Produktionshalle (BA Berlin)
Kriegsbedingt fand das Unternehmen ab November 1941 kein deutsches Fachpersonal mehr. In einem Schreiben an die „Montan“ äußerte Feinprüf am 19. November 1941 die Hoffnung, für das Werk Göttingen 30 und für Schmalkalden 20 französische Metallarbeiter rekrutieren zu können. Das Göttinger Stammwerk wollte die Franzosen „geschlossen in einem Gasthaus“ unterbringen und in der Werkskantine verpflegen. Die „Montan“ wurde gebeten, „die Aufforderung mit allem Nachdruck beim Reichsminister für Rüstung und Munition“ zu vertreten.19 Die letztendlich 60 bis 80 auf diesem Weg zugeteilten französischen Arbeiter quartierte die Firma dann im Gemeindehaus der Albani-Gemeinde in der Innenstadt ein.20 Ende 1942 bat die Firmenleitung den Kirchenvorstand, „die unteren Räumlichkeiten des Gemeindehauses zur Unterbringung von ausländischen Rüstungsarbeitern benutzen zu dürfen“. Der Mietvertrag wurde Mitte Januar 1943 geschlossen.21 Mindestens fünf weitere Franzosen waren in einem Steinbau in der Hospitalstraße untergebracht.22 Im März 1943 bekam „Feinprüf“ neun Ostarbeiter aus dem Durchgangslager Siemsen bei Recklinghausen zugewiesen.23 Im Oktober 1944 ging das Göttinger Werk ebenso wie die nach dem „Montan-Modell“ angepachteten Feinprüf-Fabrikationsstätten in Schmalkalden und Berlin-Neukölln in das Eigentum der Muttergesellschaft Mahr über. Der Anschaffungswert aller drei Betriebe hatte bei knapp acht Millionen RM gelegen, der Buchwert im Jahr 1944 betrug 5,3 Millionen RM. Davon hatte Mahr als Kaufpreis 85,7 % zu zahlen, mithin 4,947 Millionen RM.24 Ende 1944 beschäftigte Feinprüf Göttingen 690 Mitarbeiter, darunter ein Fünftel ausländische Zwangsarbeiter.25
Die Firma Josef Schneider & Co., Optische Werke, aus Bad Kreuznach hatte im Jahr 1936 ebenfalls Kapazitäten nach Göttingen verlagert; zunächst in das Stadtzentrum, Goethe-Allee 8a. Der Zweigbetrieb, zur Abarbeitung von Rüstungsaufträgen gegründet und ebenfalls mit Staatsmitteln gefördert, wurde am 9. April 1936 in das Handelsregister der Stadt eingetragen.26 Das Göttinger Werk stellte vorwiegend für die Luftwaffe optische Mess- und Bilderkennungsgeräte, Doppelfernrohre und Reflex-Visiere her.27 Die Einzelfirma wurde im Februar 1942 gelöscht. An ihre Stelle trat die Josef Schneider Optische Werke GmbH, die noch im selben Jahr das neu erbaute Fabrikgebäude in Weende an der Reichsstraße27 bezog.28 Ende Dezember 1944 beschäftigte der Göttinger Rüstungsbetrieb 653 Personen; darunter 46 Ost- und 37 Fremdarbeiterinnen anderer Herkunft, 76 männliche Ausländer sowie 41 französische Kriegsgefangene.29 Die Franzosen waren in einer Holzbaracke, zur Straßenseite mit Stacheldraht abgezäunt, auf dem Betriebsgelände selbst untergebracht.30
Ehemals Schneider & Co. in Weende, später ISCO, 1970er Jahre (Sammlung Karlheinz Otto)
Neben diesen in Göttingen neu angesiedelten Unternehmen kamen auch die alteingesessenen Firmen der feinmechanischen und optischen Branche in den Genuss von Rüstungsaufträgen in stetig steigender Zahl. Die Ruhstrat AG produzierte seit 1936 in ihrem Stammwerk in der Lange Geismarstraße 68 – 72 und ab 1942 im „Leinewerk“ in der Goethe-Allee (heute Am Leinekanal 4) Widerstände, Schiebetrafos, Verdunkelungseinrichtungen und Notbeleuchtungen. Zudem lieferte die Fabrik Abwurfgeräte und Zubehörteile wie Kolbenmagnete für Bombenschlösser.31 Wie schon im Ersten Weltkrieg war das Unternehmen erneut für die Marine tätig. So rüstete Ruhstrat U-Boote mit Akku-Notleuchten und Ladeschränken aus.32 Am 1. April 1940 beschäftigte der Betrieb 520 Personen; 119 waren im Bereich der Luftwaffenrüstung tätig.33 Ende Dezember 1944 war ihre Zahl allein im Hauptwerk auf 688 und im „Leinewerk“ auf 344 angewachsen. Zu diesem Zeitpunkt waren in beiden Niederlassungen 52 Ost- und 157 Ostarbeiter/innen sowie weitere 73 Ausländer im Einsatz.34 Die Russin Tamara Borisowna P., die im Juli 1942 als 13jährige deportiert und mit 37 anderen Zwangsarbeiterinnen Ruhstrat zugeteilt wurde, berichtet, sie habe zunächst an der Drehbank gearbeitet, dann Akkumulatoren mit Spezialsäure aufgefüllt. Schließlich sei sie an eine Fräsmaschine versetzt worden, und zwar in der Nachtschicht. Vor Müdigkeit habe sie die Maschine laufen gelassen, sei auf die Toilette gegangen und eingeschlafen. Der Meister habe sie entdeckt und mit kaltem Wasser begossen. Sie sei aufgeschreckt und habe dabei den Meister berührt. Das sei so ausgelegt worden, als hätte sie ihn geschlagen. Danach sei sie strafweise zu den Pelikanwerken nach Hannover gekommen.35
Das Ruhstrat-Stammwerk, Mitte der 1930er Jahre (Sammlung Baranowski)
Ruhstrat unterhielt für seine ausländischen Zwangsarbeiter auf einem Ziegeleigelände eine aus fünf Holzbaracken bestehende Sammelunterkunft.36 Auch Tamara Borisowna wurde in das von Ruhstrat betriebene Lager ‚Tonkuhle‘ gebracht. Das, so berichtet sie, wäre eines der schlimmsten Lager in Göttingen gewesen. Eingerichtet in einer alten Ziegelei, am Boden eines ausgebeuteten Tonlagers, so dass man den Himmel nur sah, wenn man den Kopf in den Nacken legte und so feucht, dass die Baracken auf Klötzen über dem Boden schwebend errichtet werden mussten.37 Gegen Ende des Krieges war dieses Lager ‚Tonkuhle‘ mit 250 Arbeitern belegt; 90 % waren Russen, die anderen Franzosen.38
Rede vor dem Ruhstrat-Stammwerk, 1938 (Sammlung Baranowski)
Der Laboreinrichtungshersteller Physikalische Werkstätten AG (Phywe), ein Göttinger Traditionsbetrieb, lieferte Nachrichtengeräte, Zünder, Frequenz-Prüfgeräte, Stromanzeige-Vorrichtungen für Schaltkästen und Auswurfklappen für das MG 42.39 Ende 1944 beschäftigte die Phywe 718 Personen, darunter 55 Ostarbeiterinnen, 35 weitere Ausländer (20 Männer und 15 Frauen) und 43 Kriegsgefangene.40 Die französischen Arbeitskräfte waren im Saal der Gastwirtschaft „Zur Linde“ im Göttinger Vorort Geismar untergebracht.41 Zivile Aufseher führten sie täglich quer durch Göttingen zur Fabrik im Salinenweg.42 Die Phywe verzeichnete seit 1938 jährlich zweistellige Umsatzzuwächse, 1941 gar 100 %.43 1941 richtete die Phywe ein Zweigwerk im annektierten Elsass ein: „Zwecks rationeller Ausnutzung der Fertigungsräume wurden Teile der Fertigung nach Straßburg-Neudorf verlegt“.44 Auch 1942 zeigte die Firma sich mit dem Gang der Geschäfte durchaus zufrieden: „Der Umsatzrückgang, bedingt durch weitere Einschränkungen der Friedenssektoren, hat im Geschäftsjahr 1942 durch Bearbeitung vermehrter Kriegsaufgaben voll ausgeglichen werden können“. Das galt auch für die elsässische Dependance: „Das Zweigwerk Straßburg-Neudorf konnte nach Anpassung der Fertigungsmöglichkeiten an einem […] Teil der Aufgaben des Stammwerkes bereits mit größeren Lieferungen einsetzen“.45
Fahrzeug der Phywe AG mit der Aufschrift „Jede Stimme dem Führer“, 1932?
(Sammlung Baranowski)
Erleichtert zeigte die Geschäftsführung sich 1942: „Eine Reihe von Spezialerzeugnissen der Vorkriegszeit ist inzwischen kriegswichtig geworden“, zudem konnten „Ende des Jahres […] weitere Aufgaben in Angriff genommen“ werden.46 Welche das waren, bedarf noch weiterer Aufklärung. Am 11. Dezember 1942 bat das Straßburger Zweigwerk in einem vom Firmengründer und Vorstandsvorsitzenden Gotthelf Leimbach unterzeichneten Brief die Göttinger Firma Lambrecht, einen mit getrennter Post zugeschickten „Zopf Haare […] auf die Dehnung genau bestimmen zu wollen“. Zwei Herren vom OKH Berlin hätten „Versuche an bei uns gefertigten Mustergeräten zur Wettersonde“ durchgeführt, bäten nun um Beprobung des Haarbüschels. Lambrecht solle es danach wieder nach Straßburg senden, aber „Meldung über die gefundenen Werte an OKH Wa Prüf 8/III, mit Durchschlag an Phywe Straßburg“ machen.47 Folglich wurden in Straßburg nicht nur Labormöbel gebaut, sondern ebenfalls „Feuchtigkeitsaggregate“.
Gebäude der Phywe im Groner Salinenweg, 1970er Jahre (Sammlung Karlheinz Otto)
Möglicherweise wuchsen der Phywe auch weitere Aufgaben bei Entwicklung von Geräten zur Isotopentrennung zu. Ein im Archiv des Deutschen Museums aufbewahrtes, nach Kriegsende zunächst von den USA beschlagnahmtes Dokument hält „ca. 1942“ fest, dass sich als „unmittelbare technische Vorhaben […] Ultrazentrifugen bei den Firmen Anschütz (Kiel) und Phywe (Göttingen) im Bau“ befänden. Sie sollten sich für Uranisotope anwenden lassen und „bei Anreicherungen von etwa 7 % relativ große Mengen“ liefern.48 Die Befreiung Frankreichs und der Vormarsch der Alliierten setzen der Phywe-Expansion ins Elsass und nach Baden 1944 ein Ende: „Aus militärischen Gründen sind die wichtigsten Fertigungen des Werks Straßburg/Els. im Oktober, die des Werks Lahr/Schwarzwald im November mit einigen Verlusten durch Feindeinwirkung in das Zweigwerk Elgersburg/Thür. und ein gemietetes Werk in Northeim verlagert worden“.49 Die Northeimer Außenstelle Rhume-Werkstätten GmbH baute ab November 1944 mit etwa 50 Personen Elektrobauteile und Zünder.50
Die Sartorius Werke GmbH war ebenfalls wichtiger Zulieferer der Luftwaffe.51 1936 versorgte sie das RLM mit Fotokassetten.52 Im Oktober 1939 gelang es dem Unternehmen, einen staatlichen Großauftrag über 200 Zeitzünderzusatzgeräte zur Ausrüstung der Kampfflugzeuge Ju 88 und Do 17 einzuwerben, der sich auf 150.000 RM belief.53 Mit der Abwicklung dürfte Sartorius für Monate, zumindest bis März 1941, ausgelastet gewesen sein. Der Göttinger Rüstungsproduzent beteiligte die ortsansässige Firma Neidel & Christian als Unterlieferanten an dem Auftrag. Weitere Ausrüster, an die das RLM Teilaufträge für diese Geräte vergeben hatte, waren Rheinmetall-Borsig (Sömmerda), die Stocko Metallwarenfabrik Henkels (Wuppertal-Elberfeld), Langlotz & Co. (Ruhla) und das Glimsoma-Werk (Wiesbaden-Schierstein).54 Ansonsten stellten die Sartorius-Werke Abwurfgeräte für die Luftwaffe und Leitwerke für Bomben her.55 Ende 1944 zählte der Betrieb 920 Mitarbeiter.56 Noch Anfang April 1940 waren es weniger als die Hälfte, und lediglich 216 von ihnen arbeiteten an den Luftwaffenaufträgen.57 Im Dezember 1944 zählten 107 russische Frauen, 67 Fremdarbeiter und 25 Fremdarbeiterinnen sowie 19 Kriegsgefangene zur Belegschaft.58
Westseite der Göttinger Aluminiumwerk GmbH, 1920er Jahre? (StadtA Göttingen)
Die Göttinger Aluminiumwerke GmbH (Alcan) nahm zwar eine Sonderstellung ein, denn ihre Geschäftsanteile befanden sich fest in kanadischem Besitz, doch frühzeitig, bereits 1933 profitierte das Unternehmen von Aufträgen des NS-Regimes. Das Unternehmen war aus einem 1905 vom Kaufmann Gustav Löding gegründeten Kleinbetrieb hervorgegangen, der in der Burgstraße Rasiernäpfe, Haus- und Küchengeräte herstellte. 1908 verband er sich mit dem Kaufmann Carl Albrecht zum Aluminiumwerk Löding & Albrecht. Allerdings schied Löding nach einem Jahr aus, erwarb ein Grundstück in Weende und gründete am 1. Oktober 1909 die Firma „Aluminiumwerk Carl Albrecht“. Sie produzierte ebenfalls Hausrat, spezialisierte sich aber gleichzeitig auf Zieh-, Druck-, Stanz- und Kaltpressteile aus Reinaluminium für Geräte, Behälter und Apparate. Der Betrieb florierte, offenbar auch aufgrund von Rüstungsaufträgen während des Ersten Weltkriegs. Das Aluminiumwerk produzierte mit 120 bis 160 Arbeitskräften Feldflaschen, Kochgeschirre und weitere Leichtmetall-Ausrüstungsgegenstände für Heer und Marine. In großem Umfang stellte das Werk zudem Zündladungskapseln her. 1919 kehrte das Unternehmen zur Produktion von Küchengeschirr zurück, zunächst mit großem Erfolg vor allem im Auslandsgeschäft; 1923 hatte es den höchsten Exportanteil seiner Branche. Zur Behauptung am Markt und, um weiter zu expandieren, ließ Albrecht auf dem Werksgelände an der Weender Landstraße ein eigenes Walzwerk errichten. Anfang September 1924 nahm es in zwei neu gebauten Hallen den Betrieb auf. Hohe Anlaufkosten des Walzwerkes, heftige Preiskämpfe und rückläufige Exportaufträge brachten die Firma finanziell in Bedrängnis.59
Bei Alcan vorwiegend für die Flugzeugindustrie hergestellte Sicherheitsmuttern
(Sammlung Baranowski)
1926 übernahmen die Gläubiger das Unternehmen, wandelten es unter Führung der Dresdner Bank Hannover am 26. Juli des Jahres in eine GmbH um; es firmierte nunmehr als Aluminiumwerk Göttingen GmbH, vormals Carl Albrecht. Im Mai 1930 erwarb die international agierende kanadische Unternehmensgruppe Aluminium Ltd. (Toronto) sämtliche Geschäftsanteile. Sie stattete ihre Göttinger Aluminiumwerke GmbH (Alcan) mit den für Ausbau und Modernisierung des Werkes erforderlichen Finanzmitteln aus und verfünffachte das Stammkapital. Trotz der ausländischen Muttergesellschaft bemühte sich das Unternehmen frühzeitig um Rüstungsaufträge des NS-Staates und führte schon ab 1933 Spezialanfertigungen für die SA aus. Zudem produzierte das Unternehmen Feldflaschen, Kochgeschirre und Einrichtungsgegenstände für Mannschaftsunterkünfte.60
Einen großen Schritt in Richtung Kriegsrüstung tat der Betrieb 1934 mit dem Erwerb des schwedischen Patentes zur Herstellung von „Elastic-Stop-Sicherheitsmuttern“. Die Firma stellte ihre Betriebsabteilungen auf die Fabrikation dieser besonders in der Flugzeugindustrie benötigten Sicherheitsmuttern um.61 So erlangte Alcan innerhalb weniger Jahre eine Alleinstellung für deren Fertigung.62 Von 1937 bis 1941 verdoppelten sich fast die jährlichen Umsätze mit diesen Muttern. Lag ihr Anteil am Gesamtumsatz 1937 noch knapp unter 20 %, so konnte er bis 1941 auf 67 % gesteigert werden. Die Gesamtbelegschaft wuchs im gleichen Zeitraum von 534 auf 1.270 Personen.63 Die zivile Produktion trat dagegen in den Hintergrund, wurde 1939 fast ganz eingestellt. Außer Sicherheitsmuttern stellte Alcan für die Flugzeugindustrie Bleche aus Reinaluminium und Aluminiumlegierungen her.64
Holzwarenfabrik Herlag in Lauenförde, links im Vordergrund Reste des Barackenlagers (Sammlung Baranowski)
Der Metallbetrieb war existenziell von Rüstungsaufträgen des RLM abhängig geworden; sie machten über 90 % seines Gesamtumsatzes aus. Weitere fünf Prozent entfielen auf Heeresaufträge. Private Auftraggeber und solche der Marine hatten nur eine untergeordnete Bedeutung. Obwohl Alcan somit die Kriegsmaschinerie bereitwillig unterstützte, wurde das Werk 1941 der Aufsicht der Aluminium Ltd. entzogen und an eine reichseigene Treuhandgesellschaft übertragen. Alleinige Gesellschafterin der neu gegründeten Aluminium-Verwaltungsgesellschaft war die Bank der Deutschen Luftfahrt AG, die ein Stammkapital von zwei Millionen RM einbrachte. Sie verpachtete die Fabrik an die ‚neue‘ Aluminiumwerke Göttingen GmbH, die die Produktion im bisherigen Umfang fortführte. Im Beirat der Gesellschaft saßen Regierungsrat Doyé (RLM), Direktor Hans Braun (Aerobank Berlin), Regierungsrat Dr. Goebel (Oberfinanzpräsidium Hannover) und Oberstingenieur Dr. Leyensetter (RLM). Ende 1943 zählte die Alcan-Belegschaft 1.321 Personen, darunter etwa 42 % Ausländer. Bei knapp 25 % lag der Anteil weiblicher deutscher Mitarbeiter.65 Etwa 75 % der Belegschaft war mit der Massenproduktion von Sicherheitsmuttern befasst.
Vermutlich Ende 1943/Anfang 1944 hatte Alcan vom Heer den Serienauftrag zur Anfertigung von Flanschmuttern für die A4-Rakete erhalten. Damit standen geringere Kapazitäten für die Produktion der Sicherheitsmuttern zur Verfügung. Sie wurde daher partiell nach Hameln verlagert und an die Holzwarenfabrik Herlag in Lauenförde abgegeben. Herlag übernahm 35 Maschinen und eine 800-t-Presse aus Göttingen.66
Nach dieser Dezentralisierung wurden 24 der pro Quartal geforderten 32 Millionen Annietmuttern außerhalb des Stammwerkes hergestellt.67 Alcan bediente sich dazu einer Vielzahl weiterer Unterlieferanten, so der Göttinger Firma Mehle & Co. (Umsatz in 1943 knapp eine Million RM), der Autohallen Göttingen (Umsatz in 1943 über 1,1 Million RM) und August Fischer (Umsatz in 1943 knapp über 200.000 RM). Außerhalb von Göttingen waren in die Rüstungsaufträge u. a. eingebunden: Adolf Jerger (Niedereschbach), Kolb & Co. (Wuppertal), Kreidlers Metall- und Drahtwerke (Stuttgart-Zuffenhausen), Werner Krüger (Erfurt), Gmöhling & Co. (St. Ludwig), Leipziger Leicht-Metallwerk, Martin Schmid (Berlin), H. W. Schmidt (Döbeln) und Math. Storz & Söhne (Waldkirch).68 Mitte 1944 beschäftigte Alcan 1.425 Mitarbeiter. Ende September hatte sich die Zahl geringfügig auf 1.387 reduziert.69 Bereits das nahende Kriegsende vor Augen, richteten die Aluminiumwerke noch im Juni 1944 in zwei Räumen des Göttinger Gerichtsgefängnisses eine dezentrale Produktionsstätte für Annietmuttern ein. Dort standen bis zu 39 Strafgefangene, ohne an arbeitsrechtliche Schutzvorschriften gebunden zu sein, in drei Schichten rund um die Uhr an den Werkbänken.70
Als Vermittler von Rüstungsaufträgen betätigte sich die „Feinhand“, Landeslieferungs- und Einkaufsgenossenschaft für das Feinmechaniker-, Optiker und Elektromechaniker- Handwerk Niedersachsen e. G.m.b. H, die vermutlich aus der Verkaufsvereinigung Göttinger Werkstätten hervorgegangen war. Diese Gesellschaft wurde 1921 von den Göttinger Unternehmern bzw. Firmen Sartorius, Ruhstrat, Spindler & Hoyer, Wilhelm Lambrecht GmbH und anderen zum Zwecke gemeinsamer Absatzförderung gegründet.71 1925 wurde der Betrieb in Vereinigung Göttinger Werke umbenannt. „Feinhand“ hatte bereits frühzeitig Rüstungsaufträge eingeworben, sie aber nicht selbst ausgeführt, sondern im Innenverhältnis an die Mitgliedsbetriebe weitergeleitet. Die Dachorganisation war ausschließlich für die Auftragsabwicklung und die Abrechnung mit den jeweiligen Auftraggebern zuständig. Die in Regie von „Feinhand“ hergestellten Produkte, vorwiegend Bombenabwurfgeräte und Zubehörteile für die Luftwaffe, trugen die Kennung „hev“.72 Nach dem Eintrag in der „Reichsbetriebskartei“ soll die Genossenschaft im Februar 1944 über 1.000 Personen beschäftigt haben,73 doch diese Zahl bezog sich vermutlich auf die Mitarbeiter der beteiligten Firmen. Zu denen gehörte das feinmechanische Unternehmen von August Fischer mit seinen Werkräumen in der Oberen Karspüle 47, später in der Hospitalstraße 7.74
Schon am 11. November 1937 hatte die Wehrwirtschaftsinspektion XI Hannover das RLM darauf hingewiesen, dass Fischer als Mitglied der „Landeslieferungs- und Einkaufsgenossenschaft GmbH“ bereits an „RLM-Aufträgen“ beteiligt sei.75 Damit ist die frühe Akquise von Rüstungsaufträgen über „Feinhand“ belegt. Anfang März 1939 erhielt „Feinhand“, zu dem Zeitpunkt noch mit Sitz in der Prinz-Albrecht-Straße 32, den Besuch eines Vertreters des RLM, der die Göttinger Rüstungsfirmen für den Nachbau eines Gerätes gewinnen wollte. Unter dem 23. März 1939 teilte die Verkaufsorganisation dem RLM mit, dass bei August Fischer „infolge der langjährigen Beschäftigung dieser Werkstatt mit elektrischen Schaltgeräten der Nachbau des fraglichen Gerätes […] außerordentlich günstig erfolgen könnte“.76 Am 24. Mai 1939 ging der Vorbescheid über die Lieferung von 300 Zeitzünder-Zusatzgeräten ZZG 1/24 für die Bombenflugzeuge Ju 88 und Do 17 nach Göttingen. Von Mai 1940 bis April 1941 sollten monatlich 25 Stück der bis dahin bei Rheinmetall in Sömmerda produzierten Geräte ausgeliefert werden,77 doch bis September 1940 hatte die Herstellung wegen mangelnder Zulieferungen noch nicht begonnen.78 Ende Februar 1941 gingen die ersten 12 Geräte bei der Abnahmestelle ein.79 Die zwischenzeitlich in die Obere Karspüle 43 (Baugeschäft Kraft) umgezogene „Feinhand“ hatte den kompletten Auftrag im ersten Quartal 1943 abgearbeitet. Im April 1943 veranlasste das RLM eine nachträgliche Preisprüfung, aufgrund der der ursprünglich vereinbarte Preis von 760 RM pro Gerät auf 631,30 RM reduziert werden musste, so dass die Göttinger Rüstungsagentur einen Betrag von 38.610 RM an die Staatskasse zu erstatten hatte.80
Außer Zulieferungen für die Kriegsmaschinerie organisierte „Feinhand“ als zentrale Stelle auch die Ausbildung und Qualifikation von Arbeitskräften, nicht nur für die Göttinger Unternehmen, sondern ebenso für die Junkers-Werke. Erstmals im Oktober 1940 trafen 50 Elsässer aus einem Transport der Junkers-Flugzeug- und Motorenwerke AG Kassel in Göttingen ein und wurden in der ‚Feinmechanikerschule‘ einquartiert.81 Von Januar 1941 bis Februar 1942 bildete die Dachorganisation Göttinger Feinmechanik und Optikfirmen mehrere Gruppen von Flamen aus, die nach vier bis 12 Wochen Aufenthalt bei Junkers in Schönebeck eingesetzt wurden. Ab Juli 1942 sind holländische Arbeitskräfte, die ebenfalls für den Arbeitseinsatz bei Junkers bestimmt waren, nachweisbar. Nach Aktenlage ließ Junkers letztmalig im Januar und März 1943 Tschechen in der Universitätsstadt schulen.82
Eine Firma, der die „Feinhand“ ebenfalls Rüstungsaufträge zuspielte, war die Spindler & Hoyer KG. Im August 1898 übernahmen die Mechaniker August Spindler (1870 – 1927) und Julius Adolf Hoyer (1874 – 1943) das herabgewirtschaftete feinmechanische Unternehmen Diederichs zum äußerst günstigen Kaufpreis von 6.000 Goldmark. Die Erwerber setzten zunächst die bisherige Produktlinie, bestehend aus meteorologischen, feinmechanischen und optischen Instrumenten fort, etablierten sich sehr schnell auf dem Markt und warben neue gewinnträchtige Aufträge ein, insbesondere von der Universität Göttingen. Besonders ertragreich erwies sich die Bau weltweit vermarkteter Seismographen zur Erbebenwarnung. 1907 bezog das Unternehmen einen großzügig ausgestatteten Werksneubau in unmittelbarer Nachbarschaft der Firma Rudolf Winkel. Zu Mikroskopen, die nun serienmäßig hergestellt wurden, kamen ab 1909 Feldstecher, mit denen Spindler & Hoyer bald die kaiserliche Armee ausstattete. Der Militärauftrag zog während des Ersten Weltkrieges weitere nach sich; so lieferte Spindler & Hoyer militärisches Gerät wie Minenbeobachtungsrohre und Sehrohre für Unterseebote, aber auch wissenschaftliche Instrumente für die Luftfahrt.
Anders als die übrigen feinmechanischen Unternehmen der Universitätsstadt überstand Spindler & Hoyer Inflation und Wirtschaftskrise der Weimarer Zeit verhältnismäßig gut, auch wenn die Belegschaft Anfang der 1930er Jahre zurückgebaut wurde. Im letzten Halbjahr 1932 erhielt die Firma einen größeren Auftrag der Reichsbahn über Drehmomentwandler (Föttinger-Kupplungen), der ihr Überleben sicherte. Nach 1933 besserte sich die wirtschaftliche Situation beständig durch Heeres- und Luftwaffenaufträge.83 Erste Bestellungen für die Reichswehr führte das Unternehmen bereits 1935 aus.84 Spindler & Hoyer brauchten den Betrieb nicht auf Kriegsproduktion umzustellen. Die Wehrmacht benötigte Feldstecher in solchen Mengen, dass die Kapazitäten der Firma damit nahezu ausgelastet waren. Nur wenige Militäraufträge entfielen auf Blinkgeräte für die Nachrichtentruppen, Zielfernrohre, Winkelspiegel für die MG-Optik und Periskope für Schützengräben.85 Hoyer, nach dem Tod Spindlers alleiniger Geschäftsführer, wurde im Dritten Reich als Leiter eines rüstungswichtigen Betriebes zum Wehrwirtschaftsführer ernannt. Ende 1944 konnte das Werk dem Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion knapp unter 300 Arbeitskräfte melden.86
Mitgründer der „Feinhand“ und Adressat erheblicher Militäraufträge war die Firma Zeiss-Winkel. 1857 hatte sich der Mechaniker Rudolf Winkel in angemieteten Räumen in der Goethe-Allee selbständig gemacht und führte seitdem feinmechanische Arbeiten für die Firma Breithaupt in Kassel sowie die Universität aus. Vor allem die hohe Qualität der Winkel-Mikroskope begründete die rasante Entwicklung der Werkstatt, so dass sie 1874 in ein eigenes Gebäude Düstere Eichenweg 9/Ecke Baurat-Gerber-Straße verlegt wurde. 1907 bezog Winkel einen Neubau in der Königsallee 17 – 21, noch heute Standort des Unternehmens. 1911 trat Carl Zeiss als Hauptgesellschafter in die Einzelfirma ein, die von nun an als Winkel GmbH (Mikrowerk Göttingen) auftrat.87 Schon frühzeitig war die Herstellung optischer Präzisionsinstrumente für das Heer ein Geschäftszweig, auf den die Firma sich spezialisierte. Ab 1934 produzierte Winkel Flak- und Winkelzielfernrohre, Peilaufsätze für Marinekompasse, Geschosswaagen und Einzelteile für Richtfernrohre.88 Am 11. November 1937 forderte die Wehrwirtschaftsinspektion XI Hannover das RLM auf, die „Winkel R. GmbH“ als „Ausrüstungswerk“ zu kennzeichnen.89 Auch auf dem Gebiet der U-Boot-Optik war der Göttinger Zeiss-Zweigbetrieb führend.90
Die Kriegswichtigkeit der Produktion ließ Anfang 1944 die Diskussion aufkommen, sie zum Schutz vor Bombenangriffen unter dem Decknamen „Ör“ in die Jettenhöhle bei Osterode zu verlegen.91 Am 27. Dezember 1944 wies der Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion die Rüstungsinspektion XI in Hannover an, „für Fertigung feinmechanisch-optisches
Rüstungsgerät für Heer, Kriegsmarine und Luftwaffe der Fa. R. Winkel GmbH, Göttingen, Postfach 15 […] die Jettenhöhle bei Papenhöhe im Südharz unweit Osterode mit 2.500 qm zu sperren“.92 Die Planungen wurden bis Kriegsende allerdings nicht weiter verfolgt. Ende 1944 zählte Winkel 651 Mitarbeiter, darunter 117 Ostarbeiterinnen und 50 „freie“ Ausländer.93 Etwa 25 bis 30 der in der Abteilung Feinmechanik angestellten Franzosen hatte der Zulieferer in einer Holzbaracke auf dem Gelände der Strickwarenfabrik Schöneis & Co. in der Groner Landstraße 55 einquartiert.94
Blick auf das Winkel-Werk in der Goethe-Allee (Carl Zeiss Archiv Jena)
In dem Zusammenhang ist ebenfalls die Feinoptikfirma Voigt & Hochgesang, Untere Masch 26, anzuführen. Der erste Lehrling Rudolf Winkels, F. G. Voigt, hatte sie gegründet. Um die Jahreswende 1935/36 wurde im RLM die Aufnahme des feinmechanischen Unternehmens auf die „Firmenliste für Auftragsvergabe“ überprüft. Am 11. Januar 1936 folgte die Anregung, Voigt & Hochgesang „Unteraufträge auf Teilfabrikate zukommen zu lassen“. Zugleich ging an Zeiss die Weisung, die Firma möge Voigt & Hochgesang Aufträge auf Einzelteile für in Bombenabwurf-Geräten benötigte Lotfernrohre (Lotfe) abgeben.95 Auch die Werkstatt für Präzisionsmechanik von Georg Bartels, Untere Masch 26, wurde, wie die Wehrwirtschaftsinspektion XI Hannover am 11. November 1937 feststellte, als „Ausrüstungsfirma unter Federführung des Heeres unter Beteiligung von Heer und Luft“ geführt.96
Ferner erhielt die Göttinger Wilhelm Lambrecht GmbH schon frühzeitig Rüstungsaufträge. Die 1859 von Wilhelm Lambrecht gegründete Firma für meteorologische Instrumente, seit 1864 in Göttingen ansässig, war Mitbegründer der Vereinigung Göttinger Werke. Die Wehrwirtschaftsinspektion XI Hannover benennt den Göttinger Traditionsbetrieb am 17. November 1936 dem RLM als mögliches Ausrüstungswerk.97 Doch schon seit Oktober 1936 belieferte Lambrecht die Luftwaffe mit Venturi-Düsen, ab Dezember des Jahres die Heinkel-Werke mit Leistungsschreibern.98 Ebenso stellte die Firma unter dem Kennzeichen „crg“ Wetterdienst-Geräte, Bodenmessgeräte für Flak, Gasfrühwarnsysteme, Windschreiber sowie Schiff- und Stations-Barometer her. Für die Flugzeugindustrie war Lambrecht ein wichtiger Zulieferer, der sie mit Bordinstrumenten wie Höhen-, Geschwindigkeits- und Öldruckmessern sowie Variometern versorgte.99 1939 und 1940 standen 80 Mitarbeiter an den Werkbänken, bis 1943 stieg die Zahl auf 95, offenbar den Höchststand in Kriegszeiten.100
Aufmarsch auf dem Lambrecht-Gelände, an der Hauswand das Plakat „Jeder Handgriff, jeder Hammerschlag, ein Gebot für Deutschland“, 1942? (Sammlung Baranowski)
Auffällig sind die zahlreichen Fotos von Szenen, bei denen sich die Firma durch Veranstaltungen oder Banner im Werk zum NS-Staat bekennt. Nach Ende des Krieges zeigten die Alliierten reges Interesse an den Produkten von Lambrecht. Am 23. Juli 1945 reichte das Unternehmen bei der Militärregierung Rechnungen für entnommenes Material im Wert von knapp über 69.000,00 RM ein, das die 21. Wetter-Schwadron der US-Armee unter Leitung von Capt. Singer am 12. Juni 1945 beschlagnahmt hatte; darunter rund 1.000 Hygrometer verschiedener Ausführung.101 Noch jahrelang stritt Lambrecht beim Göttinger Ausgleichsamt und Dienststellen der Alliierten, um den Verlust ersetzt zu bekommen. Letztlich blieben die Bemühungen erfolglos.
Technologietransfer in ‚letzter Minute‘: Die Grona GmbH
Erst 1944, weniger als ein Jahr vor Kriegsende, lagerte der Magdeburger Armaturenhersteller Schäffer & Budenberg (S & B) seine Entwicklungsabteilung als eigene Firma „Grona GmbH“ – eine Textilfabrik verdrängend – nach Göttingen aus. Von der Literatur wenig beachtet, blieb der Betrieb kaum bekannt und geheimnisumwittert, wenn auch so eminent „kriegswichtig“, dass er noch im „Führernotprogramm“ bis Kriegsende arbeitete. Treibende Kraft der Verlagerung war Rudolf Gottfried Berthold,102 seit 1940 Leiter der hochmodernen Forschungsabteilung Messgerätebau beim Magdeburger Marine- und Luftwaffenausrüster für Meß- und Regelgeräte aller Art, der u. a. die Flugzeugindustrie mit Kabinendruckanzeigern, Überdruckventilen und Druckmessern belieferte.103 Berthold, 1892 geborener Göttinger Professorensohn, 1919 in Göttingen mit einer Arbeit über "‘Spektroheliographische Untersuchungen am Wechselstromlichtbogen“ promoviert,104 gehörte als Prokurist mit Direktorentitel zur Unternehmensleitung.105 Zugleich war er als Vorsitzender des Arbeitsringes Feinarmaturen im Sonderring Armaturen mit staatlichen Stellen eng vernetzt.106
Durchhalteparole in den Werkhallen von Lambrecht, 1944 (Sammlung Baranowski)
Die Gebäude der Firma Schöneis in der Groner Landstraße 55, auf dem Gelände steht heute das Leinehotel (Sammlung Karlheinz Otto)
So hatte Berthold bereits im August 1943 Kontakt mit dem Leiter der „Entwicklungskommission Munition“ in Speers Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion, Dr. Ing. habil Johann Sommer,107 aufgenommen und die werkseigenen Labore für Forschungen auf dem Gebiet des Hochdrucks angedient. Über Sommer hatte Berthold die Möglichkeit erhalten, seine „Gedanken dem Präsidenten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Herrn Generaldirektor Dr. Vögler, zu unterbreiten, welche seine vollständige Billigung fanden“.108 Es scheint, als habe Berthold seit dem Zeitpunkt zielstrebig die Ausgliederung der Forschungsabteilung aus dem Firmenverbund und ihre Verselbständigung betrieben. Am 25. November 1943 wies er S & B-Generaldirektor Klein auf die Notwendigkeit hin, „angesichts der zunehmenden Luftgefährdung“ die gesamte Versuchsabteilung – das wissenschaftliche ‚Herzstück‘ des Unternehmens – mit der Versuchswerkstatt 171, dem Laboratorium 162, dem Prüfraum und den rein konstruierenden Abteilungen 154 (Klisch), 157 (Heinz), 158 (Smith), 164 (Diesterweg) und 155/167 (Drewfs) aus Magdeburg „fort zu bringen“; man solle, um die Installationsarbeiten einfacher zu bewältigen, diese Forschungsabteilungen gemeinsam mit einer Betriebsstelle verlagern.109
Zwar hatten die Alliierten ihre Bombardements 1943 auf das ganze Reich ausgedehnt, doch Magdeburg war davon zunächst verschont geblieben. Aus diesem Grund bestand für den Firmenvorstand kein Entscheidungsdruck. Am 6. Dezember 1943 antwortete Klein: „Die Frage der Verlagerung unserer Büros und unserer Werkstätten hat uns natürlich sehr viel beschäftigt. Wir sind aber zu keinem Entschluss gekommen, weil wir auf sehr viele Schwierigkeiten stoßen und zum Schluss immer wieder bezweifeln mussten, ob die Verlagerung tatsächlich den gedachten Erfolg bringen würde“. Um Berthold entgegenzukommen oder ihn ruhig zu stellen, bot Klein ihm leer stehende Büroräume im angemieteten Karstadt-Kaufhaus im 2. Obergeschoß in Burg an, erklärte aber gleich, für Bertholds Werkstatt wären sie nicht geeignet. Ebenfalls verworfen wurde eine Unterbringung der Forschungsabteilungen in den Kellern des Gesellschaftshauses im Magdeburger Klosterbergegarten im Herzen der Stadt. Eine uneingeschränkte Nutzung war in dem als Lazarett und Zwangsarbeiterunterkunft dienenden Gebäude nicht gegeben.110
Erst eine Serie verlustreicher Bombenangriffe auf Magdeburg vom 29. Dezember 1943 bis zum 22. Februar 1944 ließ die Firmenleitung umdenken. Es setzte ein hastiges Verlagern ein, bei dem auch Bertholds Vorschläge wieder zu Ehren kamen.111 Die Würfel fielen zu Gunsten seiner Heimatstadt Göttingen; die Forschungsabteilung sollte dort seinem Vorschlag entsprechend als eigenständige Konzerntochter fortgeführt werden. Schon Anfang März 1944 reichte die Mutterfirma Umbaupläne für das Gebäude der Göttinger Strick- und Wirkwarenfabrik Willy Schöneis in der Groner Landstr. 55 „zur Lagerung von Entwicklungsstellenwerk“ ein – gemeint wohl „Verlagerung“.112 Am 13. April 1944 wurde der Mietvertrag rückwirkend zum Monatsersten mit einer Befristung bis zum Ende der Kriegsdauer abgeschlossen. Gegen einen monatlichen Mietzins von 2.000 RM standen der ausgelagerten Forschungsabteilung dort etwa 1.400 qm zur Verfügung.113 Am 9. Mai 1944 bestätigte Klein gegenüber Berthold die Ausgliederung: „Es ist – wie Ihnen bekannt – die Verlagerung unseres gesamten Meßgerätebaus beschlossen“. Einschränkend fügte er allerdings hinzu, dass das Tempo von der Unterstützung der Behörden abhänge; die sei noch völlig ungenügend. Er könne daher nicht beurteilen, ob der „von uns mit dem 31. 12. 1944 angesetzte Termin für die restlose Verlagerung des Meßgerätebaus“ eingehalten werden könne.114
Am 7. August meldete die Grona GmbH das Gewerbe als „Metallverarbeitungsbetrieb“ in Göttingen an, doch schon am 13. Juni 1944 hatte sie ihre Arbeit in der Universitätsstadt aufgenommen.115 Am 14. November berichtete der S & B-Generaldirektor Otto Klein geflissentlich dem Leiter der „Entwicklungsabteilung Munition“, Dr. Sommer, den Vollzug der Ausgründung: „die Verlagerung unserer Entwicklungsstellen auf dem Gebiet des Höchstdrucks und Messgerätewesens nach Göttingen [ist] nahezu abgeschlossen“. Und „entsprechend den Tarnungsbestimmungen“ habe man „diese unserer Firma gehörenden Abteilungen mit dem Namen ‚Grona GmbH‘ bezeichnet, um den Vorschriften Genüge zu leisten“.116 So verbarg sich der im Rahmen der letzten Rettung tätige Rüstungsbetrieb hinter dem Ortsnamen einer sächsischen Kaiserpfalz bei Göttingen. Klein für die Magdeburger Zentrale fährt in dem Schreiben fort, „um die Kontinuität zu wahren“, solle „unser Herr Direktor Dr. Berthold, […] der Leiter der ausgelagerten Stelle“, Auftragsarbeiten vom Präsidium der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft bzw. dem Reichsforschungsrat übernehmen. Das Schreiben berief sich auf „erste Geräte“, die „unsere [Magdeburger] Hochdruckabteilung an das Oberkommando der Marine und der Physikalisch-technischen Reichsanstalt abgeliefert hat“.117
Auch daran dürfte Berthold schon beteiligt gewesen sein. Die Göttinger Niederlassung erfreute sich umfassender Protektion verschiedener Instanzen der Rüstungsentwicklung. Berthold, umtriebiger und auf Eigenständigkeit bedachter Direktor der Grona GmbH, konnte sich überall auf Unterstützung des Rüstungsministeriums und die Befürwortung des Präsidenten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, des Stahlindustriellen Dr. Albert Vögler, wie auch des KWG-Generalsekretärs Dr. Ernst Telschow berufen.118 Für Personal, das „u. K.“ gestellt, das heißt vom Kriegsdienst befreit oder aus dem Felde zurückgeholt werden musste, sorgte das von Werner Osenberg119 geleitete Planungsamt des Reichsforschungsrates, evakuiert nach Lindau bei Northeim, nicht weit von Göttingen entfernt.
Doch was forschte und produzierte die Grona GmbH in Göttingen mit ihren 20 bis 40 Betriebsangehörigen? Offenbar hatte die Magdeburger Firmenzentrale nicht die ganze Forschungs- und Entwicklungsabteilung mit Berthold an der Spitze und von diesem im November 1943 gewünschten Umfang nach Göttingen ziehen lassen.120 Der Grona-Direktor konzentrierte seine Firmentätigkeit – wie von Generaldirektor Kern am 14. November eingeräumt – auf die Hochdruckforschung und die Abwicklung von Aufträgen des Präsidiums der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und des Reichsforschungsrates. Fest eingebunden waren Berthold und seine Firma in das Netzwerk, das der Münchener Ordinarius für Experimentalphysik Walther Gerlach (1889 – 1979) als Leiter der Physiksparte des Reichsforschungsrats und „Bevollmächtigter des Reichsmarschalls für Kernphysik“121 aufgebaut hatte. Gerlachs zentrale Rolle bei der Entwicklung der Kernenergie in der letzten Kriegsphase zur Waffenfähigkeit, besonders als nukleare Hohlladungs-Explosivwaffe, tritt immer deutlicher zutage.122 Gerlach hatte am 1. Januar 1944 die Leitung der Fachsparte Physik des Reichsforschungsrates übernommen, nachdem sein Vorgänger Abraham Esau – nicht ohne Zutun Heisenbergs und Vöglers – bei Speer in Ungnade gefallen und 1943 abgelöst worden war.
Der im März 1937 beim Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Bernhard Rust eingerichtete erste Reichsforschungsrat (RFR) hatte die Aufgabe, unter Zugrundelegung des „Führerprinzips“ kriegsvorbereitend die Rüstungsforschung in enger Zusammenarbeit mit der Vierjahresplan-Behörde zu fördern, zu koordinieren und ihr Wege in die ‚Bewaffnungspraxis‘ zu ebnen. Seit dem Selbstmord seines ersten Präsidenten Karl Becker 1940 war der RFR Gegenstand von Auseinandersetzungen. 1942 genügte er nicht mehr den veränderten Anforderungen des sich wendenden Krieges, wurde neu gegründet und an das Reichsministerium für Bewaffnung und Munition angebunden; sein nomineller Präsident war Hermann Göring. Eine Schlüsselfunktion erhielt die vom Chemiker Georg Graue geleitete „Kriegswirtschaftsstelle“, die ab Juli 1943 „Dringlichkeitsstufen“ der Forschungsförderung vergab und so die Rüstungsentwicklung der letzten Kriegsphase steuerte. Der RFR war keine juristische Person; Verwaltung, Finanzen und Einstellungen erledigte die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) unter dem in Göttingen promovierten Chemiker und SS-Brigadeführer Rudolf Mentzel, ab 1930 in Göttingen NSDAP-Kreisleiter. Gerlach machte sich sofort daran, die in zahlreiche, konkurrierende Forschungszentren aufgesplitterte Kernforschung zu koordinieren und auf das Waffenziel auszurichten. Otto Hahns Entdeckung der immensen Energieausbeute durch Kernspaltung war in der Forschung sofort auf ihre Waffentauglichkeit erkannt und diversen Regierungsstellen gemeldet worden.123 1939, noch vor Kriegsausbruch, berief Reichswissenschaftsminister Rust die führenden deutschen Kernphysiker in ein Expertengremium, den „Uranverein“, der als Ziel die Herstellung eines „Uranmaschine“ oder „Uranbrenner“ genannten Kernreaktors vereinbarte. An diesem „Uranprojekt“ beteiligten sich im ganzen Reich – parallel und zugleich konkurrierend – Universitäts- und Forschungsinstitute, die drei Wehrmachtsteile mit eigens eingerichteten Laboren, aber auch das Reichspostministerium, private Institute wie das von Manfred von Ardenne und Privat- sowie SS-Firmen mit ihren Entwicklungsabteilungen.
Die Beteiligung von Hochschulen und Forschungsinstituten bot beteiligten Forschern nach 1945 die Möglichkeit, eine angeblich unverfängliche Grundlagenforschung von der Waffenentwicklung beim Militär zu trennen. Allerdings herrschte Durchlässigkeit sowohl für Informationen über Ergebnisse als auch für Karrieren. An zentraler Stelle saß der Physiker Kurt Diebner. 1934 in den Dienst Forschungsabteilung des Heereswaffenamt (HWA) getreten, war er dort im Sommer 1939 mit der Leitung des neu gegründeten Referats für Atomphysik bei der Gruppe Wa F I (Physik) betraut worden und baute eine Forschungsstelle in Gottow auf. Gleich nach Kriegsbeginn übernahm das HWA das Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für Physik und setzte Diebner an die Spitze des Instituts. Gegen diese aufgezwungene Besetzung mit einem Außenstehenden erhob sich Widerstand der Generalverwaltung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG), nicht allerdings gegen die Neuausrichtung des Instituts auf die Kernenergie- und -waffenforschung.124 Diebner gelang es durch Berufung des renommierten Kernphysikers Werner Heisenberg zum Berater, sich als geschäftsführender KWI-Direktor zu behaupten; Heisenberg hielt allerdings in Leipzig Ordinariat und Reaktorforschung aufrecht.125 Walker fasst seine Erkenntnisse zum Berliner KWI-Team zusammen: „Heisenberg und seine Kollegen, allen voran Karl-Heinz Höcker, Carl Friedrich von Weizsäcker und Karl Wirtz, waren sich fraglos der Tatsache bewusst, dass sie sich mit der Reaktorforschung und Isotopentrennung auf dem Weg zur Atombombe befanden“.126
So wusste Heisenberg schon im Dezember 1939 geheim zu berichten, sollte es gelingen reines oder fast reines U-235 herzustellen, sei dies „ferner die einzige Methode, um Explosivstoffe herzustellen, die die Explosivstoffe um mehrere Zehnerpotenzen übertreffen“.127 Allerdings, während des ‚Blitzkrieges‘ und bis Mitte 1941 „brauchten die deutsche Wehrmacht und die nationalsozialistische Führung keine Kernwaffen. Das Interesse daran war bestenfalls zukunftsorientiert“,128 analysiert Walker. „Der Angriffskrieg schien gewonnen, das ‚Dritte Reich‘ erfolgreich auf dem Wege, dem eroberten Europa seine Ordnung aufzuzwingen. Großbritannien, den einzigen Gegner, belagerte es, mit der Sowjetunion bestand ein Nichtangriffspakt, und die USA hielten sich aus dem Kriegsgeschehen heraus“.129 Für die Entwicklung der Kernwaffe gab es weder einen Ernstfall noch eine militärische Notwendigkeit; sie war zunächst eine eher unverbindliche Perspektive, eine der Kernenergie innewohnende Möglichkeit. Die Explosion als höchste Form nuklearer Energieentfaltung lag nur in der Konsequenz der Nuklearforschung. „Noch bestand kein Bedarf an ‚Wunderwaffen‘“.130
Die Ausweitung des Krieges ab Sommer 1941 ließ Wissenschaftler wie Heisenberg und von Weizsäcker erkennen, dass sie einem „ideologisch geführte[n] Unterwerfungs- und Vernichtungskrieg“131 zuarbeiteten. Walker redet vom „Ende der Unschuld“.132 Die endgültige Wende des Kriegsgeschehens im Winter 1941 führte zu jener Umorientierung der Rüstungsforschung, die Fritz Todt, Reichsminister für Bewaffnung und Munition, schon seit Wochen anmahnte. Es zählte nur noch, was in nächster Zeit einsetzbare Waffen erbrachte. Ob das für das Uranprojekt erreichbar war, blieb 1942 auch bei einer Reihe von Konferenzen kontrovers. Diebner hielt es für möglich, Heisenberg und andere wollten zunächst einmal einen funktionsfähigen Reaktor haben. So verneinte Heisenberg in der Februarkonferenz gegenüber der Generalität die Möglichkeit, binnen neun Monaten eine „kriegsentscheidende Bombe“ herzustellen.133 In der Juni-Zusammenkunft dagegen prägte er Milch gegenüber den berühmten ‚Ananas-Vergleich‘, eine Bombe von deren Größe genüge, um eine Großstadt zu zerstören.134
Die Konferenzen begleiteten im ersten Halbjahr 1942 den Prozess der Umstrukturierung der atomaren Forschungs- und Entwicklungslandschaft;135 ihr Zusammenhalt im Uranverein zerriss darüber nicht. Im Ergebnis zog sich das Heereswaffenamt aus dem Berliner KWI für Physik zurück, konzentrierte sich auf das von Diebner seit 1939 aufgebaute und parallel zum KWI geleitete militärische Forschungszentrum in Gottow.136 Der Vertrag zwischen dem HWA und der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft wurde zwar offiziell erst am 1. Juli 1942 aufgehoben, aber schon vorher erlangte die KWG Verfügungsgewalt über das KWI für Physik; der bei den Wissenschaftlern ungeliebte Diebner wurde entlassen, Heisenberg im Sommer zum Direktor berufen. Gleichermaßen erfuhr der Reichsforschungsrat, nunmehr wieder alleiniger Träger des „Uranvereins“, eine Neuorganisation, wurde im Juni nominell Göring übertragen, faktisch an Speers Reichsministerium für Bewaffnung und Munition angebunden. Leiter der Fachsparte Physik wurde Abraham Esau, seit 1939 Präsident der Physikalisch-technischen Reichsanstalt.137 1942 zum „Bevollmächtigten des Reichsmarschalls für Kernphysik“ ernannt, oblag ihm die Leitung des „Uranvereins“ – sehr zum Unwillen Heisenbergs. Bis zum Sommer 1942 habe „das Uranprojekt wieder fest Fuß gefasst“, so Walker, „der RFR hatte das Projekt übernommen und sicherte damit die kontinuierliche finanzielle Förderung. Sowohl der Präsident der KWG, der Industrielle Albert Vögler, wie auch Reichsrüstungsminister Albert Speer zeigten starkes Interesse an der Forschungsarbeit“.138
Schreiben der Grona GmbH an Prof. Gerlach, Leiter der Arbeitsgemeinschaft für
Kernphysik im Reichsforschungsrat und seit 1944 „Bevollmächtigter für Kernphysik“, 13. Januar 1945 (BA Berlin)
Damit war ab Mitte 1942 die Kernreaktor- und Kernwaffenforschung neu aufgestellt. Beim Militär wurde sie forciert betrieben, in allen Waffengattungen, allen voran vom HWA unter Diebner in Gottow. Von der beim KWI angesiedelten, vom Reichsforschungsrat begleiteten Entwicklungsarbeit erwartete das Regime zwar nicht unbedingt die kriegsentscheidende Waffe, finanzierte sie aber weiter, sogar mit größeren Etats, stellte die darin tätigen Wissenschaftler „u. k.“ und sicherte vor allem den beteiligten Instituten Zugang zu den knappen Ressourcen. Walkers Darstellung des Vorgangs, Heisenberg und Kollegen hätten zu dem Zweck die Uranforschung „verkauft“, ist eher von Goethes Faust inspiriert als zutreffend. Sie waren von Anfang an in die Kernreaktor- und Kernwaffenforschung eher integriert als involviert, arbeiteten durchaus mit der Perspektive, dass daraus ein waffenfähiger Sprengstoff entstehen könne. In der neuen Konstellation entstand ein Wettlauf zwischen Diebner und Heisenberg um das besser funktionierende Reaktorkonzept.139
Diebner kannte vom KWI die Konstruktion des Theoretikers Heisenberg, spaltbares Uran und Moderatoren übereinander zu schichten; er stellte sie in Frage, erprobte in Gottow stattdessen ein räumliches Punktgitter aus Uranoxidwürfeln und hatte damit eine höhere Neutronenausbeute. Walker resümiert: „Die in Gottow erzielten Ergebnisse übertrafen bei weitem alles, was man bisher bei Versuchen in Leipzig oder Berlin-Dahlem erreicht hatte. Höcker wurde gebeten, die Gottower Versuche zu evaluieren und kam zu dem Schluss, dass die Gitterkonstruktion erheblich funktionaler sei“.140 Allerdings wollte Heisenberg Diebners erfolgreicheres Konzept nicht wahrhaben, besaß als renommierter Kernphysiker den längeren Arm und erlangte im Laufe des Jahres 1943, als Esau das Gottower Gittermodell zu unterstützen schien, bei Speer dessen Ablösung als RFR-Fachspartenleiter Physik.
Ihm folgte ab 1. Januar 1944 Walter Gerlach,141 in Personalunion als Chef-Physiker des Reichsforschungsrates, Leiter der Fachsparte Physik des RFR und ab 1944 „Bevollmächtigter des Reichsmarschalls für Kernphysik“. Er nahm die Fäden der vielfach aufgesplitterten Reaktor- und Kernwaffenentwicklung sofort und energisch in die Hand, mit dem Ziel, konvergierend doch noch zur atomaren Wunderwaffe zu gelangen. In Berlin-Dahlem im Harnack-Haus residierend, wenn er sich nicht gerade in seinem physikalischen Institut in München betätigte oder in Stadtilm in Thüringen aufhielt,142 bereiste er unter den schwierigen Bedingungen des Bombenkrieges unermüdlich die im Reich verstreuten nuklearen Entwicklungsstätten bzw. ihre Evakuierungsorte, steuerte den Prozess durch Konferenzen, durch Finanzmittel, vor allem aber durch Zuweisung des raren Materials. Dabei favorisierte er Diebners Arbeiten in Gottow, bewirkte 1944 dessen Zusammenarbeit mit Paul Harteck, Entwickler der Urananreicherung durch Zentrifugentechnik,143 und begünstigte früh das alternative Kernwaffenkonzept mittels Hohlladungen eine thermonukleare Fusion zu erzeugen. Parallel zu den einschlägigen Versuchsanstalten des Heeres (Walter Trinks),144 Versuchsanstalt in Kummersdorf/Gottow und der Marine (Otto Haxel in Dänisch-Niehof), in denen Gerlach in seinen Funktionen beim Reichsforschungsrat ein und aus ging, betrieb er einen eigenen Höchstdruck-Arbeitskreis des Reichsforschungsrates in München, dem auch Rudolf Berthold von der Grona GmbH angehörte.145 Der Arbeitskreis kam auch in Göttingen zusammen, und er vergab Aufträge an die Grona GmbH.146
Mit dem von Prof. Wever geleiteten KWI für Eisenforschung in Clausthal-Zellerfeld, das unter persönlicher Obhut des Präsidenten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft Albert Vögler stand, tauschte Berthold sich über „für die Herstellung von in Hochdruckgeräten angewandten Stähle“ aus. Eine Kooperation war ebenso für deren Beprobung wie auch für die Untersuchung eines Stahls geplant, „dessen austenitisch-ferritisches Gleichgewicht durch Nickelzusatz in die Nähe der Temperatur herabgedrückt ist, auf die das Hochdruckgefäß ohne Schwierigkeiten gebracht werden kann“. So sollte mit der Versuchsapparatur der Grona GmbH unter Druck die Verschiebung des Übergangs geprüft werden, „indem die Änderung der magnetischen Eigenschaften mit Hilfe der Selbstinduktion einer um die Stahlprobe gewickelten Spule verfolgt wird“.147
Die Magdeburger Firmenzentrale von Schäffer & Budenberg unternahm im Februar 1945 den Versuch, die Verselbständigung ihres Göttinger Zweigbetriebes zurückzuschrauben, indem sie ein „Notverlagerungsabkommen Buckau-Grona“ beschloss, um ihre komplette Herstellung von Kleinmanometerfedern nach Göttingen zu übertragen. Am 8. Februar erteilte sie ihrem Abteilungsleiter Beuthner Weisung, die Grona GmbH entsprechend einzurichten.148 Über die Folgen für ihre Göttinger Firma war sich die Konzernleitung im Klaren. Der geschäftsführende Direktor Otto Klein schrieb Berthold am 12. Februar 1945, dass „die allgemeine Entwicklung weitreichende Auswirkungen auf die Beschäftigung der Grona GmbH haben“ werde. Fraglich sei, „ob es möglich sein wird, Arbeitskräfte und -mittel in gleichem Umfang wie bisher einzusetzen für allgemeine Forschung und für Hochdruckgeräte“. Vielmehr sei es notwendig, die angebahnte Entwicklung zu einer Fertigungswerkstatt weiter voranzutreiben, selbst wenn dies die übrige Betätigung stark einschränke.149
Allerdings musste sich die S & B Konzernleitung erneut den Gegebenheiten beugen. Am 15. März 1945 stimmten die beiden Direktoren Dr. Widdel und Dr. Abel einer Fortsetzung der Arbeiten auf dem Gebiet der Hochdruckforschung zu, scheinbar ohne vorherige Zustimmung des geschäftsführenden Direktors Otto Klein. Das Protokoll ihrer Besprechung mit Berthold hält fest, „an der Entwicklung und an der laufenden Fertigung dieser Geräte“ müsse weitergearbeitet werden, da sie kriegswichtig seien und mithin zum Führernotprogramm gehörten. Konstruktionszeichnungen lägen bereits vor; von jedem Gerät sollte zunächst nur ein Muster hergestellt und bis zum 30. April 1945 ausgeliefert werden. Die Grona GmbH habe bis Ende März 1945 über den Fortgang der Arbeiten Bericht zu erstatten.150 Vordruckpumpen wie die fünf in Auftrag gegebenen stünden auf der Wunschliste des Reichsforschungsrates an vorderster Stelle, ebenso eine Hochdruckwaage und ein spezielles Ringfederkolbenmanometer, das für den Dauerbetrieb und besonders hohe Drücke – zunächst für 15 t/cm – ausgelegt werden sollte.151
Gerlach intervenierte immer wieder bei anderen Stellen für Bertholds Grona GmbH,152 traf zugleich aus eigener Zuständigkeit die Firma begünstigende Entscheidungen. Nach dem fehlgeschlagenen Versuch der S & B-Konzernleitung erreichte ihn im thüringischen Stadtilm, dem Verlagerungsort der HWA-Versuchsanstalt Kummersdorf, ein ‚Brandbrief‘ Bertholds vom 19. März 1945. Der Grona-Direktor wollte seine Aussagen vom 15. März bestätigt haben, wollte Klarheit, welche Arbeiten seiner Firma unter das „Führernotprogramm“ vom Januar 1945 fielen, das Prioritäten der Waffenherstellung in allerletzter Minute setzte. „Es ist in hohem Maße wahrscheinlich, dass ein erheblicher Teil auch unserer Hochdruckentwicklungsarbeiten unter dies Programm – im Interesse der Munitionsherstellung – fallen“, suggerierte Berthold. Er sah sogar „in gewissem Umfange freie Hand, Arbeiten ausführen zu lassen, sofern dieselben nach unserem Urteil für die Kriegsführung wichtig sind“. Für neun Hochdruckgerätschaften wollte Berthold explizit die Genehmigung, drei Manometer von 6,3 t bis 16 t/cm2 Druck, zwei Pressen von 6,3 t bis 25 t/cm2, zwei entsprechend ausgelegte Ventile, eine Druckwaage und eine Pumpe für je 15 t/cm2.153 Gerlach erteilte die erbetenen Genehmigungen postwendend. „Diese Entscheidung ist von mir endgültig gefällt und der Kriegswirtschaftsstelle des Reichsforschungsrates bereits mitgeteilt“, 26.000 RM habe er „für das laufende Etatjahr“ beantragt, antwortete Gerlach aus München am 28. März 1945, nunmehr als „Konzentrationsbeauftragter des Reichsministers für Rüstung u. Kriegsproduktion“.154
Bertholds gewundene Ausdrucksweise in dem Brief, sein dreimaliger Ansatz: die Frage, was unter das Programm fiele, der Hinweis, freie Hand für weitere Arbeiten zu haben, und der konkrete Antrag auf Genehmigung der neun Geräte, legt nahe, dass es um mehr ging als um die eher unverfänglichen Zusatzaggregate. Vielleicht war Berthold in dem auf eine Vereinbarung zielenden Fachdialog des Januars 1945 mit Prof. Wever vom KWI für Eisenforschung ehrlicher, wenn er von einem Hochdruckgefäß und von Probekörpern spricht, die wechselseitig hergestellt und beprobt werden sollen.155 Auf jeden Fall meldet Wever dem KWG-Präsident Albert Vögler direkt an dessen Dortmunder Anschrift, bei Grona seien Werkstoffschwierigkeiten aufgetreten, derentwegen die Firma sich jetzt an sein KWI für Eisenforschung gewandt habe.156 Karlsch berichtet, die Göttinger Firma habe „einen hoch geheimen Auftrag – die Herstellung von Hochdruckkörpern“ gehabt, den sie mit „vierzig hoch qualifizierten Ingenieure(n) und Techniker(n) mit der höchsten Dringlichkeitsstufe“ betrieben habe.157
Beleuchtet wurde, ob die Grona GmbH Beziehungen zu naturwissenschaftlichen Instituten der Göttinger Universität unterhielt, ob diese vielleicht sogar ursächlich für die Ansiedlung der Magdeburger Entwicklungsabteilung in Göttingen waren. Aber derartige Querverbindungen ließen sich nicht feststellen. Zu untersuchen wäre, ob die Marineforschung nicht ein gemeinsamer Nenner war. Schon die Hochdruckabteilung der Magdeburger Mutterfirma Schäffer & Budenberg hatte nach Basset-Lizenz erbaute „erste Geräte an das Oberkommando der Marine“ geliefert.158 Das von Richard Becker geleitete Göttinger Institut für theoretische Physik hatte einen Schwerpunkt bei Marineaufträgen, ebenso das Schulers für angewandte Mechanik. Die um den Physiker Otto Haxel 1943 in Dänisch-Niehof gebildete Forschungsgruppe des Marinewaffenamtes war – eng begleitet von Walther Gerlach – mit der Entwicklung nuklearer Hohlladungs-Sprengkörper am weitesten gediehen. Die in Berlin-Wannsee angesiedelte Forschungsabteilung FEP III des Marineoberkommandos hatte der Korvettenkapitän und Göttinger Mathematik-Ordinarius Helmut Hasse Ende 1941 aufgebaut und seither geleitet. Er hielt sich regelmäßig in Göttingen auf, nahm die Leitung des Mathematischen Institutes wahr. In dessen Räumen richtete er im Herbst 1943 eine Forschungsstelle für Höchstdruckphysik ein.159
Norbert Schappacher160 bestätigt die Nutzung der Institutsräume für Forschungsarbeiten des OKM „auf dem Gebiet der Hochdruckphysik“, hält sie aber „mindestens teilweise für eine Scheinbelegung, mit der anderweitige Forderungen abgewiesen werden konnten“. Ansonsten nennt er für Hasses Forschungsgruppe die Beschäftigung mit Verfolgungskurven. Ein privater Marineforscher veröffentlicht ein Organigramm des Marinewaffenamtes, in dem sehr viel konkreter die „Marineforschungsstelle für Höchstdruckphysik in Göttingen unter ObRegRat Dr. Claus“ als Unterabteilung von Hasses Forschungsabteilung FEP III aufgeführt ist.161 Die hier formulierten Ergebnisse zeigen, wie sehr es noch gilt, lose Enden der Entwicklung nuklearer Hohlladungswaffen in Göttingen und um die dortige Firma Grona GmbH miteinander zu verknüpfen.
Nach dem Einmarsch amerikanischer Truppen nach Göttingen am 8. April 1945 trachtete Berthold, die unversehrt gebliebenen Fabrikanlagen für eine Fortführung der Produktion zu erhalten. Zunächst tat er alles, um die Fabrik gegen eine Plünderung durch befreite Zwangsarbeiter – displaced persons – zu sichern. Noch harrten die im ehemaligen Zwangsarbeiterlager unmittelbar hinter der Fabrik untergebrachten Franzosen, Russen und Polen ihres Heimtransports und hielten sich für Ausbeutung, Leid, Entbehrungen und Misshandlungen schadlos. Tag und Nacht ließ Berthold die Gebäude bewachen, bis die amerikanische Militärbehörde Anfang Mai 1945 die Insassen des Lagers verlegen ließ.162 Das Magdeburger Stammwerk war zerstört, eine Rückführung der Göttinger Dependance kam daher nicht in Frage. S & B war unentschieden, was mit seiner Grona GmbH geschehen sollte: sie abstoßen oder aber weiterbetreiben wie die werkseigenen Verlagerungsbetriebe Oda-Werke bei Blankenburg und die Niederlassung in Wegeleben?163
Für eine Fortsetzung der Firmentätigkeit in Göttingen mussten auf jeden Fall neue Räume gefunden werden, denn das Gebäude Groner Landstraße 55 war lediglich bis Kriegsende angemietet, und der Besitzer, Vermieter und vorherige Nutzer Willy Schöneis beanspruchte es, um dort seine Textilfabrik wieder zu eröffnen.164 Im Juni 1945 verlangte er die Räumung der Immobilie. Durch die Wirren des Kriegsendes war die Grona GmbH von dem Kapitalfluss der Muttergesellschaft abgeschnitten, so dass Mitte Juli 1945 ein Mietrückstand von 7.500 RM, nach Schöneis’ Auffassung sogar von 8.500 RM, aufgelaufen war.165 Bis zum 2. Juli 1945 hatte Grona eine Teilfläche von 196 qm und bis zum 17. Juli weitere 276 qm geräumt, doch Schöneis verlangte umgehend die Rückgabe der gesamten Immobilie. Es war schnellstmöglich Ersatzraum zu schaffen. Schöneis hatte inzwischen den Maschinenpark mit einem Vermieterpfandrecht belegt. Am 23. August 1945 verständigte sich Berthold mit ihm auf eine verbindliche Räumung bis zum 30. September 1945 und eine Abstandssumme von 20.000 RM, gestellt über eine Bankbürgschaft, zur Abgeltung sämtlicher Ansprüche aus dem Mietverhältnis.166
Berthold war in der Göttinger Industrie-Szene gut vernetzt, und so fand er eine Ersatzunterkunft bei der Firma Josef Schneider im Vorort Weende. Anfang August 1945 begann er damit, die Maschinen auf dem Firmengelände in einer Baracke, teils Holz, teils gemauert, aufzustellen.167 Die primitiven Werkstatträume waren sofort verfügbar, verursachten nur geringe Mietkosten und boten eine gewisse Sicherheit, „da sie sich in nächster Nähe eines solide organisierten Betriebes auf dessen Grundstück“ befanden.168 Offenbar hatte Berthold den Umzug aus eigener Verantwortung und ohne Rückendeckung aus Magdeburg unternommen, denn am 4. Oktober 1945 erhielt er von dort die Weisung, die Grona GmbH aufzulösen und den Geschäftsbetrieb einzustellen.169 Berthold allerdings hatte andere Vorstellungen, wollte den „Betrieb zwar nicht als wissenschaftliches Laboratorium, aber wohl als kleine Fabrikationsstätte und als Entwurfsbüro in Gang“ halten.170 Anfang Oktober hatte er bereits einen „Massendrehauftrag in Pressstoffteilen mit angemessener Verdienstspanne angenommen“.171
In den folgenden Monaten entbrannte ein heftiger Kampf um das ‚technische Vermächtnis‘ der Firma. Im Westen hatten die Engländer reges Interesse an den Forschungsergebnissen, im Osten bot die Magdeburger Firmenleitung das know how den Russen zur weiteren Nutzung an. Beide Lager versuchten, der Spezialmaschinen und der Unterlagen habhaft zu werden. In einer persönlichen Unterredung vom 22. Oktober 1945 versuchte der geschäftsführende S & B-Direktor Klein persönlich den Grona-Mitarbeiter Smith – Leiter einer der Versuchsabteilungen – abzuwerben, „um mit seiner Erfahrung ein Geschäft in Höchstdruckgeräten mit russischen Stellen aufzuziehen“. Smith wurde vorgeschlagen, zunächst alleine nach Magdeburg zu wechseln und „bei der Gelegenheit Zeichnungen und sonstige Unterlagen für die Höchstdruckgeräte mitzubringen“, mit denen die Russen für die Angelegenheit interessiert werden sollten. Mit ihrer Unterstützung sollten dann „die in Göttingen liegenden angearbeiteten Teile sowie Halbzeuge und Materialien“ aus der englischen Besatzungszone ins Stammwerk geschafft werden. Auch die Zusage einer Wohnung konnte Smith offenbar nicht überzeugen, nach Magdeburg zu wechseln.172
Etwa zur gleichen Zeit besuchte ein englischer Offizier Berthold in seinem Privathaus und forderte ihn auf, ein Angebot über die Herstellung von Hochdruckgeräten zu erstellen, nannte aber keinen Auftraggeber. Grona sollte sechs Druckgeräte (Prüfpumpen für 3.000 atü) liefern. Zudem regte er die Neukonstruktion eines Zähigkeitsprüfgerätes für Hochdruck an. Er begründete seinen Auftrag, „dass es seiner Behörde darauf ankäme, die auf diesem Spezialgebiet erfahrenen Leute beisammen zu halten“. Berthold verwies loyal auf die Zugehörigkeit der Firma zu S & B, versprach aber ein schriftliches Angebot, das Anfang November 1945 in Bearbeitung war.173 Danach brach der Schriftverkehr zwischen Grona und der Konzernzentrale nahezu komplett ab; der wiederholten Aufforderung, Gerät und Unterlagen herauszugeben, kam die Göttinger Zweigniederlassung nicht nach. Am 15. Juli 1946 teilte Grona letztmalig mit, dass aus Gründen, die nicht von der Firma zu vertreten seien, keine Möglichkeit bestünde, die gewünschten Gegenstände, Bücher, Akten, Zeichnungen und andere Unterlagen zurückzusenden.174 Die Diktion des Schreibens lässt vermuten, dass die Firma auf die Demontageliste der Westalliierten stand. Danach verlieren sich alle Spuren. Auch über das weitere Schicksal der hochspezialisierten Grona-Mitarbeiter liegen keine Informationen vor. Einzig von Berthold ist bekannt, dass er zumindest zeitweise von Göttingen aus als technischer Sachverständiger arbeitete und im Sommer 1966 in seiner Heimatstadt starb.