Читать книгу Rüstungsproduktion in der Mitte Deutschlands 1929 – 1945 - Frank Baranowski - Страница 8
Forschungsstand
ОглавлениеNach der Kapitulation Deutschlands Ende des Ersten Weltkriegs hatte das Offizierkorps erleben müssen, wie Heer und Marine auf einen Bruchteil ihrer Vorkriegsstärke reduziert wurden und wie die ehemals privilegierte Stellung des Standes in Staat und Gesellschaft ins Wanken geriet. Gleichermaßen betroffen waren die großen deutschen Rüstungsunternehmen, die nicht nur ihre lukrativen und gewinnträchtigen Aufträge verloren hatten, sondern darüber hinaus unter Kontrolle der Alliierten entmilitarisiert wurden und einen Großteil ihres Maschinenbestandes abzugeben hatten. Der Versailler Vertrag legte der Industrie enge Beschränkungen auf und reglementierte die Herstellung von Rüstungsgütern, die bis auf wenige Ausnahmen nicht mehr zugelassen waren, auch nicht für den ausländischen Markt. Wirtschaftsunternehmen und Militär standen dem neuen Staat daher gleichermaßen ablehnend gegenüber. Die Reichswehr war nicht gewillt, den eingetretenen Zustand auf Dauer hinzunehmen und strebte schon zu Beginn der 1920er Jahre die Restauration ihrer bisherigen Macht an, nötigenfalls durch einen Angriffskrieg. Im Rahmen ihrer „wirtschaftlichen Mobilmachungsvorarbeiten“ unterhielt die Reichswehr ab 1923 hinter dem Rücken und ohne Kenntnis der Reichsregierung Beziehungen zur Industrie, die der umfassenden Vorbereitung der gesamten Wirtschaft auf ihren Einsatz im Kriegsfalle dienten.1 Spätestens ab 1926 lagen in den Schubladen der verantwortlichen Reichswehroffiziere konkrete Pläne für die Aufstellung eines 21-Divisionen-Heeres.2 Um den daraus resultierenden Bedarf zu decken, ging der Nachschubstab des Heereswaffenamtes frühzeitig daran, in Frage kommende Rüstungsfirmen systematisch zu erfassen und ihnen bedingt mit finanziellen Mitteln, teils aus „schwarzen Kassen“, unter die Arme zu greifen.3 Diese vorbereitenden Handlungen der Reichswehr bildeten die Grundlage der NS-Aufrüstungspolitik, und ohne sie wäre eine rasche ‚Mobilmachung‘ nach 1933 undenkbar gewesen. Die bisherige Literatur hat ihren Fokus auf die Aufrüstungsbestrebungen des neuen Regimes ab 1933 gerichtet und ist zumeist nur am Rande auf die Vorarbeiten der Reichswehr eingegangen.4 Bis heute gibt es nur eine sehr überschaubare Zahl an Studien, die das Thema der frühen Aufrüstungsbestrebungen der Reichswehr aufgegriffen oder gar zum Kernthema gemacht haben.
Schon in den 1950er Jahren hatte sich Hallgarten der Thematik angenommen und die Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee aufgezeigt.5 Außerdem ist die von General Georg Thomas im Oktober 1944 zum Abschluss gebrachte Arbeit über die „Geschichte der deutschen Wehr- und Rüstungswirtschaft“ zu nennen, die 1966 von Wolfgang Birkenfeld neu herausgegeben wurde.6 Von November 1928 an war Thomas nach seiner Ernennung zum Major im Heereswaffenamt des Reichswehrministeriums führender Kopf in Fragen der Bedarfsplanung für den Kriegsfall. Aus seiner Feder stammt die am 22. November 1928 Reichminister Groener vorgelegte Denkschrift über „Zweck, Notwendigkeit und Umfang der wirtschaftlichen Aufstellungsarbeiten“.7 Als Chef des Stabes des Heereswaffenamtes erlebte der zwischenzeitlich zum Oberstleutnant aufgestiegene Thomas die ‚Machtübernahme‘ Hitlers. Am 1. September 1934 wurde er zum Leiter der neu errichteten Dienststelle „Wehrwirtschafts- und Waffenwesen“ im Wehrmachtsamt des Reichswehrministeriums ernannt. In den ersten Jahren der Naziherrschaft war Thomas der Vertreter der Wehrmacht in allen Fragen der Wirtschaft und Rüstung. Sein Einfluss und seine Macht schwanden allerdings in dem Maße, wie die Verantwortung für die Rüstung auf das neu geschaffene Reichsministerium für Bewaffnung und Munition unter Fritz Todt überging. Nach dessen Tod bei einem Flugzeugabsturz am 8. Februar 1942 war unter dem Amtsnachfolger Albert Speer schon bald klar, dass Thomas den Kampf um die Steuerung der Kriegswirtschaft verloren hatte. Mitte November 1942 trat er als Chef des Rüstungsamtes zurück.8
Am 11. Oktober 1944 verhaftete die Gestapo ihn. Seine Beteiligung an der Opposition, insbesondere um die Jahreswende 1939/40, war im Laufe der Untersuchungen nach dem Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 aufgedeckt worden. Die Gestapo brachte Thomas zunächst in ihr Hauptquartier in der Prinz-Albrecht-Str., bevor er am 2. Februar 1945 ins Konzentrationslager Flossenbürg eingewiesen und am 9. April 1945 weiter in das KZ Dachau gebracht wurde. Danach geriet Thomas in amerikanische Gefangenschaft, in der er am 29. Dezember 1946 verstarb.9 Birkenfeld gelang es, die Ausarbeitung von Thomas in wesentlichen Teilen mit den teils verschollenen Anhängen zu rekonstruieren und so die frühen Kriegsvorbereitungen der Reichswehr zu dokumentieren. Thomas hält als Ergebnis seiner Arbeit fest, „dass bis 1928 auf dem wehrwirtschaftlichen Gebiet in der Hauptsache nur theoretische Vorarbeiten geleistet werden konnten, die darauf hinausgingen, die deutsche Wirtschaft neu zu erfassen und sich ein Bild von ihrer Leistungsfähigkeit zu verschaffen“.10
Anja Bagel-Bohlan legt in ihrer 1975 publizierten Arbeit „Hitlers industrielle Kriegsvorbereitung 1936 bis 1939“ dar, dass die sich aus der Bewaffnung und Ausrüstung der Reichswehr ergebenden Industrieaufträge einen sehr geringen Stellenwert gehabt hätten und die „schwarz“ betriebenen Maßnahmen die Situation nicht wesentlich hätten ändern können. So habe die Reichswehr Entwicklungsarbeiten und Prototyp-Erprobungen auf dem Luftwaffen- und Marinegebiet gefördert und die Forschung auf dem Gebiet von ‚unerlaubten‘ Waffen, Geschützen und U-Booten vorangetrieben. Diese geheim betriebenen Arbeiten hätten nur zu „Schubladenergebnissen“ geführt, seien aber im Übrigen ohne nennenswerte fabrikatorische Auswirkung geblieben.11
Ernst Willi Hansen weist nach Auswertung von Unterlagen des Heereswaffenamtes in seiner 1978 veröffentlichten Studie zu „Reichswehr und Industrie“ erstmals nach, dass die Reichswehr bereits seit 1924 eine Anzahl privater, nicht für die Rüstungsfabrikation zugelassener Fabriken aus geheimen Mitteln mit Spezialmaschinen zur Herstellung von Kriegsmaterial ausstattete und finanzielle Mittel bereitstellte, von denen vor allem die wenigen von den Alliierten zugelassenen Monopolfirmen profitierten.12 Im gleichen Jahr erschien in einem von Müller/Opitz organisierten Sammelband eine thematisch gezielte Abhandlung Hansens zum „Militärisch-Industriellen-Komplex“ in der Weimarer Republik, in der er seine Ergebnisse nochmals in komprimierter Form darstellte.13 Im selben Werk erschien ein Beitrag von Michael Geyer zu der Thematik, im dem er darlegte, dass drei Elemente die vom Militär betriebene Restauration bestimmt hätten. So sei diese Entwicklung unter anderem geprägt gewesen durch die innenmilitärische Systematisierung und Zentralisierung, sowie die langfristige Planung der Rüstungspolitik mit dem Ziel des Aufbaus einer ‚Zukunftsarmee‘.14 Auf seinen bisherigen Erkenntnissen aufbauend publizierte Geyer 1980 eine Gesamtstudie über „die Reichswehr in der Krise der Machtpolitik in den Jahren 1924 bis 1934“, ließ dabei aber die Problematik der Zusammenarbeit zwischen Militär und Industrie nahezu unberücksichtigt.15
Über die bisherigen Ansätze und Publikationen hinausgehend legte Manfred Zeidler 1993 in einer systematischen Darstellung die Beziehungen zwischen Reichswehr und Roter Armee von 1920 – 1933 offen. Er stellt den Aufbau des Junkers-Werkes im russischen Fili, den Beginn der Zusammenarbeit beider Luftwaffen seit 1924/25, den Aufbau des Waffenerprobungszentrums in Lipeck, der Panzerschule in Kazan und des Testgeländes für chemische Kampfstoffe in Vol’sk ausführlich und detailreich dar.16 Barbara Hopmann hat sich in ihrer 1996 erschienenen Dokumentation über die Geschichte der Industrieverwaltungsgesellschaft (IVG) intensiv mit der Entwicklung und der Ausgestaltung der ‚fabrikatorischen Vorbereitung‘ von Rüstungsbetrieben in staatlicher Hand befasst, so etwa der sprengstoffverarbeitenden Industrie, durch die „Montan“.17 Für die Flugzeugindustrie und die Luftrüstung hat die 1998 von Lutz Budraß verfasste Studie Vorreitercharakter. In einem separaten Kapitel arbeitete er die gemeinsamen Rüstungsbestrebungen der Reichswehr und der Flugzeugindustrie in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre akribisch auf und belegt seine Erkenntnisse erstmals in der Literatur an Hand ausgewählter Unternehmen wie Rohrbach, Heinkel und Junkers.18 Insbesondere die Arbeiten von Hansen, Zeidler und Budraß zeigen, dass die im Geheimen betriebenen Aufrüstungsmaßnahmen viel umfangreicher waren als weithin angenommen und über rein theoretische Planspiele hinausgingen. Welchen Stellenwert sie tatsächlich hatten, ist bis heute empirisch nicht aufgearbeitet. Eine systematische Dokumentation über die Verflechtungen der Reichswehr und Industrie, den tatsächlichen qualitativen/quantitativen Umfang sowie das Ausmaß der geheimen Aufrüstung steht, mit Ausnahme des Bereiches der Luftwaffe, bis heute aus.
Bedeutend besser erschlossen ist das Phänomen des Ausländer- und Zwangsarbeitereinsatzes in der deutschen Rüstungsindustrie. Das Thema rückte in Absetzung vom politischen Mainstream und der bis dahin vorherrschenden Rechtfertigungsmentalität erstmals Mitte der 1980er Jahre in das Bewusstsein einer größeren Öffentlichkeit, angestoßen durch regionale Geschichtswerkstätten und Schülerarbeiten, die anfangs zumeist auf Interviews von Zeitzeugen – Oral History – fußten. Während auf dem Gebiet der DDR schon seit den 1950er und verstärkt seit den 1960er Jahren zum Thema Zwangsarbeit geforscht wurde,19blieb die Fremdarbeiterproblematik bis in die 1980er Jahre in der westdeutschen Geschichtsschreibung weithin unbeachtet. Positive Ausnahme waren die Arbeiten von Martin Broszat,20 Hans Pfahlmann21 und Eberhard Jäckel.22
Ulrich Herbert setzte mit seiner 1985 in erster Auflage veröffentlichten Publikation „Fremdarbeiter. Politik und Praxis des ‚Ausländer-Einsatzes‘ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches“ einen Meilenstein und schuf die Grundlagen für eine neue Qualität der Geschichtsschreibung im Sinne einer zeitkritischen und quellenorientierten Auseinandersetzung. Mit seinen in den Jahren von 1991 bis 2001 herausgegebenen Studien, die nahtlos an das Erstlingswerk anknüpften, beleuchtet Herbert weitere Facetten des „Reichseinsatzes“.23 2001 präsentierte Marc Spoerer eine Gesamtdarstellung zum „Zwangsarbeitereinsatz unter dem Hakenkreuz“, die einen Überblick über das Thema in seiner ganzen Breite gibt. Zudem bietet sein Buch eine umfangreiche Literaturliste und ein ausführliches Kapitel über die Entschädigung von Zwangsarbeitern. Der Komplexität des Themas entsprechend erschienen ab Mitte der 1980er Jahre vornehmlich Einzelstudien, die sich auf bestimmte Firmen24 – oft im Zusammenhang mit der Darstellung ihrer Rüstungsbetriebe – Regionen oder bestimmte Nationalitäten,25 oder aber einzelne Gesichtspunkte des Ausländereinsatzes konzentrierten.26 Mittlerweile ist ein nahezu flächendeckendes Netz an Regional- und Detailstudien entstanden, auch für die von der vorliegenden Arbeit erfassten Region. Den Anfang machte Gerd Wysocki mit seiner 1982 veröffentlichten Dokumentation über den Zwangsarbeitereinsatz bei den Reichswerken Hermann Göring in Salzgitter.27
Unter dem Titel „Geschichte und Gegenwart einer deutschen Stadt 1942 – 1992“ erschien genau zehn Jahre später ein von Wolfgang Benz herausgegebener Sammelband zur Entwicklung der Stadt Salzgitter. Darin liefert Beatrix Herlemann einen Beitrag, der sich mit den Lebensbedingungen ausländischer Zwangsarbeiter in den Reichswerken befasst.28 Daran schloss 1995 eine Studie von Gudrun Pischke über das nationalsozialistische Lagersystem in Salzgitter nahtlos an.29 Für die Stadt und das Land Braunschweig leistete Paul Liedtke seit 1983 Pionierarbeit.30 Als Mitautor war er auch an dem 2003 von Gudrun Fiedler und Hans-Ulrich Ludewig herausgegebenen Gemeinschaftswerk über „Zwangsarbeit und Kriegswirtschaft im Lande Braunschweig 1939 – 1945“ beteiligt, einer ersten Vor-Ort-Studie, die sich zusammenfassend mit der Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte durch Kriegswirtschaft, Verwaltung und Landwirtschaft innerhalb einer ‚geschlossenen‘ Region befasste.
Die Thematik des Zwangsarbeitereinsatzes in Hildesheim wurde von Max Lichte,31 Gerhard Notzon-Hillmann32 und Markus Roloff33 aufgearbeitet. Das 1937 mit Staatsmitteln im Hildesheimer Stadtwald errichtete Bosch-Werk beherrschte die örtliche Szene. Die Unterlagen des Betriebsarchivs überstanden den Krieg nahezu unversehrt. Sie hatten Manfred Overesch uneingeschränkt zur Verfügung gestanden, als er 2008 die Ergebnisse seiner fünfjährigen Recherchen präsentierte. Umfassend handelt er die einzelnen Entwicklungsphasen des Hildesheimer Bosch-Werkes ab, von der Ansiedlung über die Aufnahme der Produktion bis zum Kriegsende und in die Anfänge des Wiederaufbaus nach 1945 hinein. Ein eigenständiges Kapitel befasst sich mit den mehreren hundert ausländischen Arbeitskräften, die der Rüstungszulieferer an seinen Werkbänken beschäftigte.34 Für Göttingen sind die Arbeiten von Cordula Tollmien maßgeblich, vor allem ihre Dissertation aus dem Jahr 1999.35 Im Auftrag der Stadtverwaltung forschte sie über Zwangsarbeiter in Ämtern, Dienststellen und Betrieben der Stadt,36 ebenso wie in der Göttinger Rüstungsindustrie.37 Zudem ist sie Initiatorin der Homepage www.zwangsarbeit-in-goettingen.de. Weiterführend zeigte Eckart Schöle 2007 am Beispiel von Sartorius und Feinprüf (Mahr) den Einsatz ausländischer Arbeitskräfte in Göttinger Industriebetrieben auf.38
Die Arbeit von Günter Siedbürger gibt einen Gesamtüberblick über den Zwangsarbeitereinsatz im gesamten Landkreis Göttingen, von Hann.-Münden bis Duderstadt und dem Eichsfeld.39 In einem gesonderten Teil befasst sich seine Synopse mit der Geschichte des Rhumspringer Schickert-Werkes und des Duderstädter Polte-Werkes. Mit diesen beiden Kapiteln knüpft Siedbürger an die vorangegangenen Arbeiten von Hans-Heinrich Hillegeist40 und des Autors aus den 1990er Jahren an.41 In vier Sammelbänden sorgfältiger Detailforschung dokumentiert Detlef Creydt Zwangsarbeit und Rüstungsindustrie im Weserbergland.42
Im Oberharz hoben erstmals Michael Braedt und die von ihm mitbegründete Initiative gegen Rüstungsaltlasten das Thema Mitte der 1980er Jahre am Beispiel der Sprengstofffabrik „Tanne“ in Clausthal-Zellerfeld ins öffentliche Bewusstsein. Ende November 1989 stellte die Initiative auf dem Bundeskongress „Altlasten der Rüstungsindustrie“ in Göttingen ihre Ergebnisse vor. Dieser Beitrag und die Resultate ähnlicher Projekte in anderen Regionen erschienen noch im gleichen Jahr in einem Kongressbericht,43 der weitere Forschungen anregte. 1993 erschien in einem von der Arbeitsgemeinschaft Südniedersächsischer Heimatfreunde e. V. veröffentlichten Sammelband eine erste Übersichtsdarstellung von Michael Braedt, Hansjörg Hörseljau, Frank Jakobs und Friedhart Knolle über die Sprengstofffabrik „Tanne“, die den Ausländereinsatz in dem Werk nicht aussparte. 1998 legte das Autorenteam eine erweiterte Fassung des Textes als Monographie vor.44 Neben einem Beitrag zur Rüstungsindustrie in Clausthal-Zellerfeld hatte Hans-Heinrich Hillegeist in dem 1993 editierten Sammelband der Südniedersächsischen Heimatfreunde e. V. Einzelbeiträge über die Rüstungsbetriebe OIGEE und HEMAF in Osterode, die Schickert-Werke in Bad Lauterberg und Rhumspringe sowie das Untertageprojekt „Dachs IV“ publiziert; der Einsatz von Zwangsarbeitern stand dabei nicht im Vordergrund.45
Für Walter Struve steht – minutiös erhoben – der Ausländereinsatz in wichtigen Industriebetrieben der Stadt Osterode im Mittelpunkt seiner Arbeit aus dem Jahr 1992.46 Struve stützt sich dabei auf eine sorgfältige Auswertung von Archivquellen, aber auch auf eine Vielzahl Interviews, die er mit Zeitzeugen geführt hat; sie geben einen Einblick in die Einstellung der deutschen Bevölkerung gegenüber den ausländischen Arbeitskräften. Friedhart Knolle befasste sich mit der Geschichte der Metallwerke Silberhütte, Schmiedag und Odertal.47 2007 veröffentlichte er gemeinsam mit Michael Braedt und Peter Schyga einen Artikel über „NS-Zwangsarbeit und Kriegsgefangeneneinsatz im Westharz unter besonderer Berücksichtigung medizinischer Aspekte“. Schyga war es auch, der 1999 zur NS-Geschichte Goslars forschte.48 Helmut Lüder arbeitet seit Jahren über Bad Lauterberg und hat mehrere Arbeiten über Zwangsarbeiter, die in der Harzstadt ihr Leben ließen, vorgelegt.49 Einen Gesamtüberblick über den Ausländereinsatz im Landkreis Osterode bietet die Veröffentlichung von Claus Heinrich Gattermann, in der er die Quellen- und Forschungslage durch eigene Recherchen anreichert.50 In den Unterlagen der Krankenkassen fand er umfassendes statistisches Material, mit dem sich die Bedeutung des Zwangsarbeitereinsatzes quantitativ ermessen ließ. 2006 legten Günther Hein und Claudia Küpper-Eichas ihre Untersuchung zur Arbeits- und Wirtschaftsgeschichte im Oberharz in der Zeit des Nationalsozialismus vor, die insbesondere aus Unternehmersicht die Notwendigkeit beleuchtet, Zwangsarbeiter einzusetzen.51
In Nordthüringen – den Landkreisen Nordhausen, Eichsfeld, Mühlhausen und Sömmerda – sind Zwangsarbeit und Rüstungsindustrie bislang nur in Ansätzen erforscht. Zwar hat der Autor dazu veröffentlicht,52 doch darüber hinaus liegen nur wenige Monographien oder Regionalstudien vor.53 Mit dem rüstungswirtschaftlichen Strukturwandel im gesamten Land Thüringen befassen sich zwei Arbeiten von Jürgen John und die jüngst von Markus Fleischhauer veröffentlichte Struktur- und Funktionsgeschichte des NS-Gaus Thüringen.54 Ein Beitrag von Wolfgang Bricks und Paul Gans über die staatlich gesteuerte Industrieansiedlung ergänzt diese Erkenntnisse.55 Annegret Schüles Arbeit über die Geschichte des Rheinmetall-Werkes in Sömmerda spannt einen Bogen von der Gründung des Unternehmens über die geheime Wiederaufrüstung während der Weimarer Republik bis hin zur nationalsozialistischen Firmen- und Personalpolitik. Auch die Nachkriegszeit spart sie nicht aus.56 Weitere Informationen lassen sich dem achten Band des Heimatgeschichtlichen Wegweisers zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 – 1945 in Thüringen entnehmen.57
Die 2002 von Norbert Moczarski, Bernhard Post und Katrin Weiß herausgegebene, klar gegliederte Quellenedition zur Zwangsarbeit in Thüringen 1940 – 1945 bietet Material für weiter reichende Erkenntnisse zu Kriegsproduktion, Arbeitskräftemangel sowie Lebens- und Arbeitsbedingungen ausländischer Arbeitskräfte.58 Aussagekräftig und bewegend zugleich sind die in Buchform veröffentlichten Erinnerungen von Krystyna Ewa Vetulani-Belfoure über ihr Leben als polnische Zwangsarbeiterin in Nordhausen in den Jahren 1942 – 1945.59 Das KZ-Lagersystem in Nordthüringen und in Niedersachsen ist dagegen durch die Forschungsergebnisse der letzten 20 Jahre gut dokumentiert.
Die westdeutsche Geschichtsforschung hatte die Konzentrationslager bis Ende der 1950er Jahre nahezu komplett ausgeblendet. 1962 eröffnete Eberhard Kolbs Monographie über Bergen-Belsen die wissenschaftliche Beschäftigung mit einem KZ-Einzellager.60 Drei Jahre später veröffentlichte Martin Broszat seine grundlegende Gesamtdarstellung über die nationalsozialistischen Konzentrationslager, die aus einem Gutachten für den Frankfurter Auschwitz-Prozess hervorging.61 Mit seinen „Studien zur Geschichte der Konzentrationslager“ legte Broszat Einzeluntersuchungen zu sechs Konzentrationslagern vor, darunter auch Mittelbau-Dora.62 Damit endete im Westen bereits diese erste Phase der Auseinandersetzung mit der Geschichte nationalsozialistischer Konzentrationslager. Bis auf Falk Pingels Arbeit über „Häftlinge unter SS-Herrschaft“63 fand über Jahre hinweg eine weitere Auseinandersetzung mit dem Thema nicht statt. Die wichtigen Studien westdeutscher Historiker ließen sich bis Ende der 1970er Jahre problemlos auf einem Regalmeter unterbringen. Mit vornehmlich regionalgeschichtlichen Ausarbeitungen erwachte die KZ-Forschung erst Mitte der 1980er Jahre zu neuem Leben. Dem zweibändigen, von einem Autorenteam unter Leitung von Rainer Fröbe erarbeiteten Sammelband über Konzentrationslager in Hannover64 folgten bald zahlreiche zum Teil ins Detail gehende Untersuchungen über verschiedene KZ-Außenlager.65
Für Niedersachsen sind insbesondere die Arbeiten von Gudrun Pischke66 und Gerd Wysocki zum KZ-Komplex der Reichswerke zu nennen,67 weiterhin die Publikationen von Karl Liedke zu Braunschweig,68 von Detlef Creydt zum Buchenwalder KZ-Lager „Hecht“69 sowie von Janet Anschütz und Irmtraud Heike zum KZ-Außenkommando Ahlem bei Hannover.70 Unter dem Titel „Der Ort des Terrors“ veröffentlichten Wolfgang Benz und Barbara Distel in sieben seit 2005 erschienenen Bänden die bislang umfassendste Untersuchung zur Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Verschiedene Autoren stellten in Einzelartikeln als Grundlage für weitere Forschungen fest, welches die einzelnen Entwicklungsphasen der Hauptlager waren und wie ab 1942 rasch zunehmend die Außenlager entstanden.71 2009 veröffentlichte das United States Holocaust Memorial Museum den ersten Teil einer umfassenden Enzyklopädie zum nationalsozialistische Lagersystem, beginnend mit den frühen Lagern, den Konzentrationslagern und ihren Subkommandos.72
Für das Konzentrationslager Buchenwald steht eine vergleichende Strukturanalyse der Verhältnisse in den verschiedenen Außenlagern noch aus. Nach Jens-Christian Wagners Arbeit für den Komplex Mittelbau-Dora haben die kürzlich von Marc Buggeln für das KZ Neuengamme veröffentlichte Arbeit sowie die von Bertrand Perz und Florian Freund für das Außenlagersystem von Mauthausen Modellcharakter. Alle drei Ausarbeitungen untermauern, dass die Überlebenschancen der Häftlinge wesentlich von der Art der Arbeit, zu der sie eingesetzt wurden, abhingen.73 Es bleibt abzuwarten, ob die Feststellungen auf das System der Außenlager von Buchenwald übertragbar sind. In der Vergangenheit war die Räumung der Buchenwalder Außenkommandos vergleichbar schlecht erforscht. Diese Lücke wurde im Jahr 2008 durch die Arbeit Katrin Greisers geschlossen.74
Die Entwicklung der Buchenwalder Außenkommandos zum Konzentrationslagerkomplex Mittelbau-Dora und seine Bedeutung innerhalb des Lagerkosmos – insbesondere die Gründung einer Vielzahl neu gegründeter Sub- und Außenkommandos – ist verhältnismäßig gut dokumentiert, auch wenn Neander in seiner Dissertation von 1996 noch schrieb, es handele sich um ein weithin „vergessenes Lager“, ja sogar „eines der bislang am wenigsten bekannten und erforschten nationalsozialistischen Konzentrationslagern“.75 Diese Aussage mag auf frühe Darstellungen des KZ-Komplexes zutreffen, ist heute aber nicht mehr gerechtfertigt.76 Auf westdeutscher Seite gehörte das KZ Mittelbau-Dora zu den wenigen Lagern, die schon 1970 in Broszats „Studien zu den nationalsozialistischen Konzentrationslagern“ vorgestellt wurden.77 Bis Ende der 1980er Jahre blieben auf westlicher Seite mit Ausnahme der technik- und militärgeschichtlich ausgerichteten Arbeiten von Manfred Bornemann78 – und insoweit ist Neander zuzustimmen – weitere nennenswerte Impulse aus. Anders die Situation in der DDR. Dort waren bereits in den 1960er Jahren eine Vielzahl wissenschaftlicher Abhandlungen zum KZ Mittelbau-Dora entstanden, die allerdings nur schwer zugänglich waren, da sie meist nur in wenigen Exemplaren aufgelegt oder nur im kleinen Rahmen veröffentlicht wurden. Es handelte sich dabei um Arbeiten einer von Professor Walter Bartel79 betreuten studentischen Forschungsgruppe, die an der Berliner Humboldt Universität zwischen 1966 und 1970 sehr detailreiche Diplomarbeiten und Dissertationen hervorbrachte.80 Ende der 1960er Jahre war das KZ-Mittelbau in der DDR weitaus besser erforscht, als die ebenfalls in Ostdeutschland gelegenen ‚größeren‘ Konzentrationslager Buchenwald, Ravensbrück und Sachsenhausen. Allerdings beschränkten sich die Arbeiten weitgehend auf die Darstellung von Einzelaspekten des Stammlagers und seine Rolle für die Rüstungsindustrie. Die Außenlager und Subkommandos Doras spielten nur eine untergeordnete Rolle. Die in der DDR bis 1990 veröffentlichten Arbeiten griffen fast ausschließlich auf die Ergebnisse der Berliner Forschungsgruppe zurück. Neue Erkenntnisse blieben seit Anfang der 1970er Jahre aus.
Seit Anfang der 1990er Jahre vermitteln sowohl Gesamtdarstellungen als auch Untersuchungen einzelner Aspekte der Lagergeschichte und Einzeldarstellungen zu den Subkommandos ein sehr genaues Bild vom System des KZ Mittelbau-Dora. Joachim Neander dokumentiert in seiner bereits genannten Dissertation und in weiteren Arbeiten ausführlich die Auflösung des Lagerkomplexes im April 1945 sowie die Todesmärsche und ihre Routen.81 Teils noch unveröffentlicht sind Oliver Taukes Analyse zur Funktion der Häftlingskrankenbauten und Olaf Mußmanns Forschungsergebnisse über die Funktionshäftlinge sowie die italienischen Häftlinge im KZ-Komplex Mittelbau-Dora.82 Die Geschichte einzelner Dora-Außenkommandos haben Jürgen Müller („Dachs IV“), Thilo Ziegler (Raum Sangerhausen), die Arbeitsgemeinschaft Spurensuche in der Südharzregion (Lager der Helmetalbahn), Joachim Neander und der Autor aufgearbeitet.83 2000 legte der französische Historiker und ehemalige Mittelbau-Häftling André Sellier seine umfangreiche Darstellung der Lagergeschichte vor, die als ‚Innen-Ansicht‘ wertvoll ist.84 Sehr viel grundsätzlicher gehen Rainer Eisfeld und Michael Neufeld in ihren Monographien den Gesamtkomplex Mittelbau-Dora an. In ihren umfassenden Darstellungen bildet die Frage nach Verantwortung von Wissenschaft und Technik für die Zwangsrekrutierung von KZ-Häftlingen für die Raketenproduktion den zentralen Schwerpunkt.85
Maßstäbe setzt der Historiker und Direktor der Gedenkstätte Jens-Christian Wagner mit seinen Arbeiten.86 Ihm gelang schon 2001 in seiner Dissertation mit dem Titel „Produktion des Todes“ eine analytische Einbettung des Gesamtkomplexes Mittelbau-Dora in die NS-Kriegswirtschaft. So belegt er, dass nur eine Minderheit der Lagerhäftlinge in der Raketenmontage eingesetzt war, der weitaus größte Teil von ihnen unter katastrophalen Bedingungen auf den SS-Untertagebaustellen der Region um Nordhausen ihre Lebenskräfte ließen. Gleichzeitig belegt er die Unterschiede der Arbeits- und Lebensbedingungen sowie der Überlebenschancen in den Baukommandos im Vergleich mit denen der Produktion. Auch geht er der Frage nach, in welcher Weise SS und Rüstungsindustrie, aber auch Lagerverwaltung, kommunale Behörden und Institutionen kooperierten und wie die Häftlinge in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurden.87 Die vorliegende Arbeit greift Wagners Thesen auf und versucht, weitere Elemente der Entstehung des Lagersystems und seiner Bedeutung im projektierten bzw. entstehenden nordthüringischen Rüstungskomplex herauszuarbeiten.