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Buddhas Yoga
Die Indus/Sarasvati-Zivilisation war im Nordwesten des Subkontinents angesiedelt, der das heutige Indien umfasst. Archäologische Funde weisen immer deutlicher darauf hin, dass sie sich bereits um 6500 v. u. Z. entfaltete und zwischen 3100 und 1900 ihre Blütezeit erlebte. Es handelte sich zweifellos um eine komplexe Kultur: Sie war technisch ausgereift, benutzte radgetriebene Karren und Boote, und sie kannte Maße, die auf dem Dezimalsystem beruhten. Dies verweist, neben anderen Leistungen, auf eine erstaunliche Fähigkeit, Gewichte exakt zu bestimmen. Die meisten Häuser hatten Bäder, die an ein öffentliches Abwassersystem angeschlossen waren, das aus gemauerten Kanälen bestand, die durch Schächte betreten werden konnten. Nur die Römer hatten 2000 Jahre später ein vergleichbares System. Die geordnete geometrische Anlage der Städte (die sich alle glichen, obwohl sie über eine Fläche verteilt waren, die größer war als die der alten Zivilisationen der Sumer, Assyrer und Ägypter zusammen, nämlich mehr als 775 000 Quadratkilometer) lässt vermuten, dass diese indische Zivilisation von einer konservativen Priesterelite regiert wurde.
Die kulturellen Hinterlassenschaften dieser bedeutenden Kultur – unter anderem Tonsiegel mit einer Reihe von Figuren, die an den späteren Hinduismus erinnern – legen nahe, dass bereits eine rudimentäre Form des Yoga, wie wir ihn heute kennen, ausgeübt wurde. Die Abbildung einer männlichen Gottheit, die von Tieren umgeben ist, wird als frühe Darstellung Shivas gedeutet, des archetypischen Yogi, der auch als „Schützer des Tierreichs“ bekannt ist. Anscheinend beteten die alten Inder auch zu einer Großen Mutter oder Erdgöttin. Dies beweist ein Tongefäß, auf dem eine weibliche Figur zu sehen ist, aus deren Unterleib eine Pflanze sprießt. Andere Objekte zeigen Abbildungen der männlichen und weiblichen Fruchtbarkeitssymbole, wie sie auch heute noch in tantrischen Ritualen bekannt sind. Bestimmte Bäume und Tiere waren den Indern heilig. Von besonderer Bedeutung war der Pippala-Baum, der viele Jahre später als der Bodhi-Baum verehrt werden sollte, unter dem Siddharta Gautama saß und zum Buddha wurde, als er die Erleuchtung erlangte.
Die religiösen und philosophischen Lehren dieser Kultur wurden in den Veden (wörtlich: „Wissen“) mündlich überliefert. Bis heute betrachten gläubige Hindus sie als offenbarte Schriften. Jüngste Forschungen deuten darauf hin, dass die frühesten Veden aus dem 5. und 4. Jahrtausend v. u. Z. stammen.
Um 1900 v. u. Z. trocknete der breite Sarasvati-Strom aus, und viele Städte, die an seinen Ufern lagen, wurden verlassen. Das Zentrum der vedischen Zivilisation verlagerte sich nach Osten an die fruchtbaren Ufer des Ganges. Dieser Umbruch und die Umsiedelung führten zu großen sozialen Veränderungen, unter anderem zur Entwicklung eines Berufspriestertums. Diese Brahmanen und ihre Kommentare zu den Veden, die brahmanas genannt werden (ein Begriff, der auch die Brahmanen selbst kennzeichnet), ließen eine Religion entstehen, die, was sicherlich nicht weiter überrascht, als Brahmanismus bezeichnet wird.
Mit der Zeit bildete sich ein Kastensystem heraus, das vermutlich als ein Versuch der Priesterschaft verstanden werden kann, ihre herausragende gesellschaftliche Position zu festigen. In diesem System nahmen sie, zusammen mit den hohen Würdenträgern und Beratern des Königs, die höchste Stellung in der sozialen Hierarchie ein. Eine Stufe tiefer befand sich die Gruppe der kshatriyas, die Regierungsbeamte und Krieger umfasste, unter der wiederum die vaisyas standen, die Mitglieder der im Entstehen begriffenen Klasse der Händler. Die niedrigste Klasse, die sudras, setzte sich aus einfachen Arbeitern zusammen, die die Stellung von Dienstleuten innehatten. Schließlich gab es noch die panchamas, die sogenannten Unberührbaren, eine Gruppe, die so gering geachtet wurde, dass sie außerhalb des Kastenwesens stand.
Als Konsequenz des Kastensystems, in dem die Praktiken der Brahmanen immer spezialisierter und ritualisierter wurden, entfremdeten sich viele Menschen, die am unteren Ende der sozialen Leiter standen, vom brahmanischen Glauben als gelebte religiöse Erfahrung. Bereits zwischen 1500 und 1000 verwandelte sich deshalb der nach außen orientierte ritualisierte Brahmanismus, mit seiner Betonung auf Feuerzeremonien und Tieropfern, in eine eher nach innen gerichtete Form der spirituellen Praxis. Aus dieser Gegenbewegung stammen die ersten Upanischaden.
Das Wort upanishad bedeutet „nahe bei jemandem sitzen“ (etwa zu Füßen eines Lehrers), was darauf hindeutet, dass die Belehrungen der Upanischaden direkt von Lehrern zu Schülern weitergegeben wurden. Obwohl ihre Lehren sehr unterschiedlich sind, worauf Georg Feuerstein in seinem wunderbaren Buch The Yoga Tradition hingewiesen hat, können wir vier Themen erkennen, die eng miteinander verknüpft sind: (1) Der transzendente Kern der eigenen Existenz, Atman. Er ist mit dem transzendenten Grund des Seins, Brahman, identisch. (2) Die Lehre von der Reinkarnation, die manchmal auch als „wiederholte Verkörperung“ (punar-janman) oder, in den frühen Upanischaden, als „wiederholter Tod“ (punar-mrityu) bezeichnet wird. (3) Die Lehre vom Karma, ein Begriff, der „Handlung“ bedeutet und auf die moralische Qualität des eigenen Tuns und der eigenen Absichten, Gedanken und Äußerungen verweist. Dabei handelt es sich um eine Lehre der moralischen Kausalität, in der die auf Ursache und Wirkung beruhenden Konsequenzen einen ähnlichen Stellenwert haben wie die Naturgesetze in der modernen Wissenschaft. (4) Die Vorstellung, dass die karmischen Gesetze nicht fatalistisch sind: Durch spirituelle Praktiken, Entsagung und Meditation zum Beispiel, kann Karma transzendiert und die Wiedergeburt überwunden werden. Als die nach Patanjali verfassten Yoga-Upanischaden entstanden – viele von ihnen erst im 14. und 15. Jahrhundert u. Z. –, war Yoga zu einem Synonym für einen praktischen Ansatz zur Befreiung geworden.
Als Buddha zur Welt kam – sein Geburtsjahr wird meist mit 563 v. u. Z. angegeben –, war die brahmanische Priesterschaft bereits eine erstarrte, zumeist korrupte und abgesonderte Klasse. Zum Zeitpunkt von Buddhas Geburt hatten die Kasten, die ursprünglich nicht erblich gewesen waren, eine religiöse Überhöhung und Begründung erfahren. Jetzt wurden sie als Spiegel der kosmischen Ordnung betrachtet und galten deshalb als unveränderbar. Es gab keine soziale Mobilität. Den Menschen am unteren Ende der sozialen Leiter, die sich zweifelsohne nach spirituellen Lehren sehnten, die sie direkt ansprachen, wurde der Zugang zu den brahmanischen Unterweisungen verweigert und sie wurden von den höheren Kasten isoliert. Dadurch wurde die Verbindung zwischen dem brahmanischen Glauben und ihrer Lebenserfahrung abgeschnitten. Zur selben Zeit verbreiteten sich die Vorstellungen der Upanischaden in den intellektuellen Kreisen der Gesellschaft. Als Alternative zum strengen Ritualismus der Brahmanen entwickelte sich eine Bewegung umherziehender Asketen. Einige dieser Wanderasketen waren sogar brahmanischen Ursprungs. Sie wurden paribbajakas oder „Wanderer“ genannt, ganz gleich, ob ihre Praktiken orthodox waren – also auf den Veden beruhten – oder nicht. Eine weitaus größere Gruppe, die shramanas (Pali: samanas), was auf Deutsch „Suchende“ heißt, setzte sich aus den Angehörigen anderer Kasten zusammen, die unterschiedlichsten heterodoxen Praktiken folgten.
Die Shramanas, die ein asketisches Leben führten, zogen durch Städte und Dörfer und lebten außerhalb familiärer Bindungen von den Almosen, die man ihnen gab. Sie übten sich in Kontemplation und verbreiteten ihre Theorien, die sie untereinander und mit anderen Gruppen untersuchten und diskutierten. Die Jainas, die noch heute in Indien existieren, sind als religiöse Gemeinschaft aus den Shramanas hervorgegangen. Es gibt jedoch eine weitere Religion, die größer ist und ein weltweites Ansehen genießt, die ihren Anfang in einer Gruppe von Shramanas hatte: der Buddhismus.
Siddharta Gautama wurde als Sohn eines raja, eines Königs, in die Kaste der Kshatriyas geboren und genoß eine privilegierte Stellung. Trotz seines luxuriösen Lebenswandels fühlte sich der junge Siddharta unzufrieden. Das Wissen um die Unbeständigkeit des Lebens, die Tatsache, dass er Alter, Krankheit und Tod nicht entgehen würde, ließen ihn keinen geistigen Frieden finden. Doch dann sah er eines Tages einen Shramana. Diese Begegnung inspirierte ihn, einem spirituellen Pfad zu folgen. Als er die innere Ruhe, Stille und Zufriedenheit des Shramana bemerkte, überlegte der junge Prinz: „Vielleicht weiß er etwas. Vielleicht ist das der Weg. Vielleicht finde ich so eine Antwort auf die Fragen, die mich quälen.“ Von dieser Einsicht ermutigt, unternahm Siddhartha einen Schritt, den man später als die „Große Entsagung“ bezeichnen würde. Er ließ seine Familie und das luxuriöse Dasein im Palast hinter sich und brach zu einem Leben in der Hauslosigkeit auf. Der Bodhisattva (wie der Buddha vor seiner Erleuchtung genannt wurde) suchte in seinem Wunsch, die Befreiung zu finden, zuerst den Shramana-Heiligen Alara Kalama auf. Siddhartha war ein wissbegieriger Schüler, der die intellektuellen Lehren Alara Kalamas schnell begriff. Er war damit jedoch nicht zufrieden und fragte ihn nach den Meditationszuständen, in denen diese Lehren gründeten. Ihm wurde gesagt, diese seien die „Sphäre des Nichts“, ein tiefer Zustand, den man durch yogische Konzentration erreichen könne, in dem der Geist alle Objekte hinter sich lasse und im „Gedanken“ des Nichts verweile. Siddhartha lernte diesen Zustand sehr schnell zu verwirklichen, woraufhin Alara Kalama ihm anbot, seine Gemeinschaft gemeinsam zu leiten. Doch Siddhartha lehnte ab. Obwohl er einen hohen Grad an innerer Ruhe erreicht hatte, empfand er, dass dies noch nicht die Erleuchtung war, nach der er suchte; er fand, dass er das Leiden noch nicht überwunden hatte:
„Da kam mir der Gedanke: Diese Lehre führt nicht zur Befriedung der Leidenschaft, nicht zur Freiheit vom Begehren, nicht zum Verlöschen, nicht zum Frieden, nicht zur unmittelbaren Einsicht, nicht zur Erleuchtung, nicht zu Nibbana, sondern nur zum Grund des Nichts. Diese Lehre befriedigte mich nicht. So zog ich weiter, um meine Suche fortzusetzen.“
Gautama suchte einen zweiten Lehrer auf, Uddaka Ramaputta. Von dessen Lehren war er jedoch ebenfalls enttäuscht, außer dass er von Uddaka die noch höhere yogische Verwirklichung der „Sphäre, die weder Wahrnehmung noch Nichtwahrnehmung ist“ erlernte. Darüber sagte er später:
Selbst in der Sphäre, die weder Wahrnehmung noch Nichtwahrnehmung ist, in der die Befreiung von Form und Formlosigkeit verwirklicht wird, bleibt noch etwas – und zwar das, was von ihnen befreit wurde, der Betrachter „der Sphäre, die weder Wahrnehmung noch Nichtwahrnehmung ist“. Solange es diesen Betrachter gibt, den einige als die Seele bezeichnen, ist er der Samen der Wiedergeburt, auch wenn er für einige Momente vor dem Kreislauf des Leidens geschützt war. Sobald die Situation sich verändert, wird die Wiedergeburt ganz leicht von Neuem stattfinden. Dies geschieht in dem Moment, in dem ich mich aus der Meditation erhebe. Ganz gleich, wie tief meine Versenkung war, schon nach kurzer Zeit verstricke ich mich bereits wieder in die Welt der Sinneseindrücke. Die grundlegenden Ursachen und Bedingungen der Wiedergeburt wurden nämlich noch nicht ausgelöscht. Die vollständige Befreiung wurde noch nicht verwirklicht. Nach der Erleuchtung muss noch gesucht werden.
Aus zwei Gründen können diese Versenkungen, wie tief und subtil die darin erfahrenen Bewusstseinszustände auch sein mögen, nicht das Nirvana sein: Wenn Siddhartha aus diesen Versenkungen auftauchte, erkannte er, dass er trotzdem immer noch der Gier, der Abneigung und der Verblendung unterworfen war. Die meditative Erfahrung hatte zu keiner permanenten Verwandlung geführt, und er hatte durch sie keinen dauerhaften Frieden gefunden. Doch Nirvana wurde nicht als eine vorübergehende Erfahrung definiert; es sollte ewig sein.
Er bezweifelte auch, dass diese höheren Bewusstseinszustände dem „Ungeborenen, Unbedingten und Ungeschaffenen“ des Nirvana entsprechen sollten, denn ihm war deutlich bewusst, dass er diese Erfahrungen mit Hilfe seiner yogischen Kräfte gemacht hatte.
Viele, die diese Worte Buddhas gelesen haben, sind zu dem Schluss gelangt, dass er den Yoga und seine Mittel aufgrund seiner Erfahrungen mit seinen beiden Lehrern – die ihm offensichtlich Samkhya-Yoga und upanischadisches Denken gelehrt hatten – verworfen habe. Tatsächlich integrierte er diese meditativen Versenkungen und andere yogische Techniken jedoch in seine eigene Lehre und praktizierte sie ein Leben lang. In der oben zitierten Passage wird allerdings deutlich, dass er die metaphysischen Interpretationen der meditativen Erfahrung, die seine Lehrer gegeben hatten, nicht akzeptieren konnte. Seine eigene Integrität und Wahrheitsliebe, aber auch der Skeptizismus gegenüber metaphysischen Anschauungen, der sein Lehren ein Leben lang auszeichnete, erlaubten es ihm nicht, eine Deutung zu akzeptieren, die nicht von der Erfahrung bestätigt wurde. Wir können also festhalten, dass Buddha zwar die traditionelle Metaphysik des Yoga verwarf, doch in seinem unerschütterlichen Vertrauen auf eine direkte Verwirklichung erweist er sich als einer der größten Yogis Indiens.
Als ich zum ersten Mal von Buddhas Enttäuschung über die erhaltenen Lehren las, wurde ich sofort an meine eigene Erfahrung erinnert: Wie wunderbar ruhig und friedvoll ich mich nach der „Yoga-Praxis“ fühlte, und wie schnell ich in das Leiden der Anhaftung und Abneigung – Begierde und Zorn – zurückfiel. Als ich schließlich Yoga-Lehrer wurde, spürte ich immer deutlicher, dass viele Schülerinnen und Schüler ähnliche Erfahrungen zu machen schienen. Glücklich verließen sie den Unterricht, aber sobald sie sich wieder in der „Welt der Sinneseindrücke verfingen“, fanden sie sich in ihrem bedrückenden Leben wieder – aus der Glückseligkeit kehrten sie auf direktem Weg in den Alltagsstress zurück. Demnach stellt sich eine Frage: Wie können wir diesen offenbar endlosen Kreislauf anhalten, dieses ununterbrochene emotionale und psychische Auf und Ab? Ganz allgemein können wir in unserem Leben, insbesondere jedoch in unserer Yoga-Praxis, die Bewegungen von samsara verfolgen. Dieser zyklische Prozess von „Geburt und Tod“ ereignet sich immer wieder, von Moment zu Moment! Wie sollen wir damit umgehen?
Nachdem Siddhartha Uddaka Ramaputta verlassen hatte, beschritt er den Pfad der Askese. Viele Einsiedler, die in den Wäldern lebten, waren der Ansicht, dass sie so ihr Karma zum Stillstand bringen und die Befreiung erlangen könnten. Sechs Jahre lang nahm Gautama extreme Entbehrungen auf sich, bis er schließlich dem Tod näher war als der Befreiung, die er gesucht hatte. Trotz Askese und Selbstkasteiung spürte er, wie sein Körper nach Aufmerksamkeit verlangte und ihn auch weiterhin Anhaftungen und Abneigungen quälten. Tatsächlich schienen die Selbstkasteiungen seine Obsession mit dem Körper nur noch zu verstärken, etwa so, wie ein magersüchtiger Mensch vom Körper besessen ist, den er zu verleugnen sucht.
Er fragte sich, ob es nicht noch einen anderen Weg gebe. Als er darüber nachdachte, erinnerte er sich an ein Erlebnis aus seiner Kindheit, als er als Neunjähriger spontan zu meditieren begann. Es war während des Rituals des ersten Pflügens der Felder gewesen. Der junge Siddhartha beobachtete, wie ein Wasserbüffel unter der heißen Sonne den Pflug hinter sich herzerrte und dabei die Erde umgrub und die zuckenden Würmer zerschnitt, auf die sich die Vögel herabstürzten, die sie mit ihren Schnäbeln aufpickten. Mit dem Samen des Mitgefühls im Herzen setzte sich der Junge in den kühlenden Schatten eines Rosenapfelbaums. Dort, „weit entfernt von sinnlichen Begierden und unheilsamen Dingen“, verweilte er, „in dem Glück und der Zufriedenheit, die aus der Abgeschiedenheit kommen“, in einer ersten Meditation, die noch von Nachdenken und Erforschen begleitet war.
Daran erinnerte sich Siddhartha nun, viele Jahre später, und fragte sich: „Ist dies vielleicht der Weg, der zur Erleuchtung führt?“ In diesem Moment tauchte tief aus seinem Inneren eine Antwort auf: „Ja! Das ist ganz sicher der Weg, der zur Erleuchtung führt!“
Das sind gute Neuigkeiten für uns alle: Wir müssen uns nicht quälen, um Befreiung zu finden, denn Nirvana existiert auf natürliche Weise in allen Menschen. Es ist mit der Textur unserer menschlichen Existenz verwoben. Als Kind, ohne Meditationsunterweisungen, hatte Siddhartha den Geschmack des Nirvana spontan empfunden.
Nehmen Sie sich jetzt bitte einen Moment Zeit, schließen Sie die Augen, und erinnern Sie sich an die Religion, die Sie als Kind praktizierten. Nicht die Religion, in der Sie erzogen wurden, sondern die Religion, die noch vor der Religion lag, als der weite Himmel und die wunderbare Erde noch wirklich eins waren. Vielleicht lagen Sie damals auf dem Rücken und betrachteten die Wolken, vielleicht waren Sie vollkommen vom Kommen und Gehen der Wellen am Strand verzaubert oder aber Ihr Blick drang tief in das Adergeflecht eines Blattes ein. Ich kann mich an Zeiten erinnern, als es regnete und ich ganz und gar in das Wunder eines Regentropfens versunken war, der die Scheibe herabfloss. Ein anderes Mal beobachtete ich so konzentriert einen Käfer, der über eine Erdbeerpflanze krabbelte, dass seine Perspektive zu meiner eigenen wurde.
Erinnern Sie sich daran, wie es war, durch eine Welt der Wunder zu laufen? Können Sie sich darauf besinnen, je durch eine Welt der reinen Freude gereist zu sein, mit einem Glücksgefühl, das noch nicht von Anhaftung oder Abneigung befleckt war? Was ist aus dieser Welt geworden? Yoga, einschließlich Buddhas Yoga, wird oft „der Pfad der Umkehr“ genannt – eine Umkehr zurück zu unserem wahren Zuhause, von dem wir schließlich erkennen werden, dass wir es nie verlassen haben.
Als Buddha sich an seine Kindheit erinnerte, verstand er, dass wir durch einen Yoga des Mitgefühls und der Einsicht ein inneres Potenzial entwickeln können, das wir alle bereits miteinander teilen. Dieses Potenzial kann uns zu ceto-vimutti führen, ein Begriff aus dem Pali, der „Befreiung des Geistes“ bedeutet und ein Synonym für Erleuchtung ist. Wir können einen Yoga praktizieren, der zur Befreiung des Geistes von seinen Konditionierungen und erlernten Verhaltensweisen führt, weg von seiner Tendenz, sich der von Moment zu Moment gelebten Erfahrung unserer Existenz zu entziehen.
Wir müssen dies mit unserer menschlichen Natur tun und nicht, indem wir gegen sie ankämpfen oder sie unterdrücken. Buddhas zukünftige Praxis entwickelte und unterstützte heilsame Geisteszustände, wie zum Beispiel Mitgefühl und liebevollen Gleichmut, die er in seiner spontanen Meditation unter dem Rosenapfelbaum erfahren hatte. Er erkannte, dass er sich nicht davor schützen musste, die reine Freude zuzulassen, die er als Kind erfahren hatte, da sie frei von Anhaftung und Abneigung gewesen war. Ihm begann das deutlich zu werden, was er nach seiner Erleuchtung den „Mittleren Weg“ nennen sollte, der zwischen Sinnenlust und Askese liegt.
Die spezielle Technik, die er entwickelte, um mit seiner menschlichen Natur zu arbeiten, bezeichnete er als die Entwicklung von „Achtsamkeit“ (Pali: sati; Skrt.: smriti). Dazu bedarf es einer absichtslosen, wertfreien Betrachtung des physischen und geistigen Verhaltens von Moment zu Moment. Mit achtsamer Aufmerksamkeit betrachtete er einfach nur seinen Körper – seine Positionen und Bewegungen, seine einzelnen Teile, seine Empfindungen und seine Unbeständigkeit; er betrachtete seine Gefühle und emotionalen Prozesse sowie die Art und Weise, wie seine Sinne, Wahrnehmungen und Gedanken mit der äußeren Welt verbunden sind.
Siddhartha bediente sich der Konzentration, die er bei seinen Yoga-Lehrern kennen gelernt hatte, und richtete sie auf die Betrachtung seines Körpers und Geistes, um sich dadurch vollkommen bewusst zu machen, wie sie funktionieren und von welchen Bedingungen sie abhängen. Einerseits tat er dies, um seinen Körper und Geist unbeschränkt positiv einsetzen zu können, andererseits konnte er sich dadurch vollständig von seinen vorgefassten Ansichten über die Funktionsweise von Körper und Geist befreien. Noch wichtiger ist jedoch, dass er sich so von seiner Unbewusstheit über die Funktionsweise von Körper und Geist und ihrem Bezug zur Welt befreite. Er war zu der Überzeugung gelangt, dass die Lösung für das Problem des Leidens, das ihn zu seiner Suche veranlasst hatte, in ihm selbst lag oder, wie er es ausdrückte, „in diesem sechs Fuß langen Körper“. Es ist sicherlich interessant, dass ganz am Anfang von Buddhas Yoga bereits der Samen zu finden ist, der 1000 Jahre später überall in Indien die tantrische Bewegung entstehen ließ: In der Zwischenzeit hatten sich nämlich viele Praktizierende des buddhistischen und hinduistischen Yoga in der Vorstellung verfangen, dass der Körper nicht so sehr das Werkzeug der Befreiung, sondern vielmehr ein Hindernis zu ihrer Verwirklichung darstellt.
In der Praxis der Achtsamkeit wurde ihm das Ausmaß des Leidens (Pali: dukkha; Skrt.: duhkha) immer deutlicher, und sie zeigte ihm, wie die Aktivität des Anhaftens, der Abneigung und der Unwissenheit dieses Leiden schüren. Indem er diese Geisteszustände betrachtete, ohne sich mit ihnen zu identifizieren, ohne dem stark empfundenen Wunsch nachzugeben, sie auszudrücken, aber auch – was genauso wichtig ist –, ohne sie zu unterdrücken, sondern indem er stattdessen immer nur vertrauter mit ihnen wurde, begriff er, dass alles unbeständig ist. Alles ist im Fluss und verändert sich beständig. Nichts ist von Dauer – weder das Anhaften noch das, was es ergreift, und auch nicht das Glücksgefühl der Meditation selbst.
Durch diese Beschreibung können wir verstehen, dass Buddhas Achtsamkeits-Meditation „analytischer“ ist als einige andere Meditationsformen, die uns vielleicht bekannt sind, wie zum Beispiel innere Mantra-Rezitationen und Visualisierungen. Der Prozess, den Buddha lehrte, besteht jedoch nicht einfach nur aus Nachdenken. Achtsamkeits-Meditation ist kein rein diskursives Denken, sondern – was ich immer wieder betonen werde – eine Art von Yoga, die uns ein anschaulicheres, unmittelbar gelebtes Verständnis vermittelt, als rein rationale Prozesse dies tun können.
Neben der Praxis der Achtsamkeit entwickelte Buddha gewisse hilfreiche Geisteszustände, die er die „Vier Unermesslichen“ nannte und als brahma viharas (wörtlich: „Wohnorte Brahmas“ oder „göttliche Verweilzustände“) bereits in den alten yogischen Lehren kennen gelernt hatte. Die erste dieser Unermesslichkeiten ist eine Praxis, die zur Entwicklung eines offenen Gefühls der Liebe (Pali: metta; Skrt.: maitri) ermutigt, einer Liebe ohne Hass gegenüber allen Wesen, sichtbaren und unsichtbaren, großen und kleinen, in dieser und in allen weiteren Welten. Bei der zweiten handelt es sich um unterstützendes Mitgefühl (karuna), in dem es kein Gefühl der Trennung zwischen Meditierendem und jenen, die leiden, gibt. Die dritte ist die Entwicklung von Mitfreude (mudita), die sich am Glück anderer erfreut, ohne dabei an sich selbst zu denken. Die vierte schließlich ist ein Zustand des Gleichmuts (Pali: upekkha; Skrt.: upeksha), der ein Loslassen der Ich-Zentriertheit erfordert, aus der heraus wir andere Dinge und Menschen als Objekte betrachten, die uns entweder zum Vorteil oder zum Nachteil gereichen. Gleichmut ist weder Desinteresse noch Gleichgültigkeit, sondern die Qualität eines Geistes, der alle Wesen als gleich betrachtet und keines dem anderen vorzieht.
Die Erleuchtung Buddhas wird in vielen Lehrreden aus unterschiedlichen Perspektiven geschildert. Die ältesten Berichte beschreiben sein Erwachen alle in eher nüchternen psychologischen Formulierungen. Zumeist ist in ihnen von vier Meditationszuständen die Rede, die jhanas (Skrt.: dhyanas) genannt werden und in der Erkenntnis des Leidens, seiner Ursache, seiner Beendigung und des Pfades, der zu seiner Beendigung führt, gipfelt.
In den Worten Buddhas, die im Pali-Kanon überliefert sind, „neigte oder richtete er seinen Geist“ auf verschiedene Meditationsobjekte, unter anderem auf die Erinnerung an frühere Leben, die Funktionsweise des Karmas und die Untersuchung des Leidens, seiner Ursachen und wie es beendet werden kann. Dem Pali-Kanon zufolge erstreckte sich sein Erwachen über die Spanne von drei „Nachtwachen“ (zirka neun Stunden), doch dabei handelt es sich wohl eher um einen verdichteten mythischen Zeitrahmen. Wahrscheinlich dauerte es Tage oder sogar Wochen ab dem Zeitpunkt, an dem er seine Selbstkasteiungen aufgab.
Trotz Buddhas eigener, präziser Beschreibungen, die uns in den Pali-Sutras vorliegen, wurde sein Erwachen immer mehr als etwas ganz anderes dargestellt und als mystische Erfahrung einer transzendenten Offenbarung der Wahrheit verschleiert. Unglücklicherweise haben viele Autoren seine Erleuchtung mit dem Aufleuchten eines Blitzes verglichen. Selbstverständlich gibt es solche blitzartigen Einsichten, doch dabei handelt es sich nicht um das vollständige Erwachen, das Buddha beschrieben hat.
Buddhas Erwachen nahm also mindestens neun Stunden in Anspruch. Er selbst warnte davor, „dass der Fortschritt schrittweise erfolgt und es keine plötzliche, spontane Erkenntnis gibt“. Außerdem wurde der Prozess des Erwachens offenkundig von der Vernunft gesteuert. Darauf weist in den Texten die dreimal wiederholte Formulierung „Ich richtete meinen Geist auf die Erkenntnis des …“ hin. Siddhartha richtete seinen Geist auf eine tiefere Erkenntnis der upanischadischen Lehren über die Reinkarnation (die Buddha als „Wiedergeburt“ umformulieren sollte – was nicht dasselbe ist wie die traditionelle brahmanische Anschauung) und des Karma. Seine „Vier Edlen Wahrheiten“ (die ich im nächsten Kapitel beschreiben werde) basieren auf dem vedischen Modell des ayurveda, jenes alten indischen Heilsystems, das bis heute praktiziert wird und im Westen immer populärer wird.
Buddha hat nie behauptet, dass seine Lehren eigene Schöpfungen sind. Seine ersten drei Edlen Wahrheiten hätten bei den Shramanas Nordindiens und den upanischadischen Heiligen keinen Widerspruch hervorgerufen. Die vierte Wahrheit, der Pfad, wurde von Buddha als ein uralter Weg beschrieben, den bereits andere in einer fernen Vergangenheit beschritten hatten, der jedoch in Vergessenheit geraten war und durch ihn einfach nur wiederentdeckt wurde. Er sprach von seiner Einsicht in die Dinge „wie sie wirklich sind“: Seine Lehre beruhte nicht auf philosophischen Konzepten, sondern der Pfad war der Struktur der Wirklichkeit eingeschrieben. Falls es überhaupt ein „Aufleuchten eines Blitzes“ gegeben hat, dann vielleicht als plötzliche Einsicht in die Verbundenheit dieser vier Wahrheiten und in die Erkenntnis, dass es sich dabei um eine Methode handelt, die, angewendet, tatsächlich zur Befreiung führt.
Wieso Buddhas eigene Schilderung in den Mystizismus einer reinen Offenbarung der Wahrheit umgedeutet wurde, lässt sich vielleicht mit der historischen Verwandlung der Lehren Buddhas in eine Religion erklären. Buddha war kein „Buddhist“ – und seine ursprünglichen Anhänger und Anhängerinnen auch nicht. Buddha entdeckte den Dharma (im Gegensatz zu erfinden oder entwickeln) und lehrte daraufhin den Dharma. Seine Anhänger waren Praktizierende des Dharma. Nach seinem Tod wurden die grundlegenden Lehren und Instruktionen im Laufe der Zeit von religiösen Interpretationen überlagert. Komplexität wurde, wie so oft, auf Einheitlichkeit reduziert. Anstatt den verflochtenen Komplex von Wahrheiten, den Buddha gelehrt hatte, als Methode der Betrachtung und Praxis hervorzuheben, verlagerte sich die Betonung – möglicherweise unter dem Einfluss vedantischer und upanischadischer Lehren – auf eine einzige, absolute Wahrheit. Dadurch verwandelte sich eine soteriologische (d. h. Befreiungs-) Lehre und Methode der Praxis in eine metaphysische Epistemologie oder ein Glaubenssystem.
Selbstverständlich war Buddhas Erwachen nicht einfach nur ein analytischer oder rationaler Vorgang. Es war zugleich etwas zutiefst Existenzielles, Psychologisches. Die „Aha!“-Erfahrung des analytischen Prozesses wurde von der „Oh!“-Erfahrung der intuitiven Einsicht begleitet. Oder, wie es der zeitgenössische Vipassana-Lehrer S. N. Goenka ausgedrückt hat: Buddha erfuhr ganz direkt, was Physiker heutzutage über das Universum herausfinden – die Insubstantialität (das Nicht-Selbst) der Materie. Buddha wurde durch diese Einsicht befreit, Physiker jedoch, die einfach nur nach Außen blicken, die Wirklichkeit vermessen und sich nur auf der Ebene des intellektuellen Verständnisses bewegen, ohne ihre Erkenntnisse in einer direkten Realisierung zu verinnerlichen, leiden auch weiterhin.
Immer wieder unterstrich Buddha, dass der Dharma nicht allein durch Nachdenken, wie tief auch immer es sein mag, verstanden werden kann. Der Dharma offenbart seine wahre Bedeutung, wenn er direkt erfasst wird, was nur durch yogische Methoden und innerhalb eines moralischen Zusammenhangs möglich ist. Die Vier Edlen Wahrheiten sind, wie wir sehen werden, logisch absolut sinnvoll, doch als Glaubenssätze oder Tatsachenbehauptungen sind sie nicht sonderlich beeindruckend. Um wirklich zu beeindrucken, zu verwandeln und zu heilen, müssen sie in das eigene Leben integriert werden. Wir müssen ihnen gemäß handeln !
Um uns auf die Vier Edlen Wahrheiten einzulassen, sollten wir sie nicht als Dogma oder Glaubenssatz begreifen, sie nicht in eine Religion verwandeln (obwohl an sich nichts falsch daran ist, dem Buddhismus als Religion zu folgen), sondern wir müssen sie verinnerlichen und als unsere Dharma-Praxis leben – als unser Leben. In der ersten Edlen Wahrheit ermutigt uns Buddha, in aller Kürze gesagt, Dukkha zu erkennen und uns nicht von ihm abzuwenden. Wir müssen selbst begreifen, wie wir leiden, und, ohne das Leiden zu verleugnen oder uns von ihm abzulenken, uns dafür öffnen, es zu erfahren und zu verstehen.
Was die zweite Wahrheit, die Ursachen des Leidens, betrifft, müssen wir verstehen, dass Ursachen und Leiden letztendlich nicht zwei sind. Wenn wir erkennen, dass Ursachen und Leiden nicht getrennt sind, liegt es an uns, die Ursachen loszulassen. In diesem Loslassen berühren wir die zeitlose Wirklichkeit, die „Leerheit“, von der immer wieder die Rede ist, obwohl es vielleicht besser ist, je weniger man von ihr spricht. Die dritte Wahrheit ermutigt uns, dieses Loslassen zu verwirklichen – die Beendigung des Leidens.
Viele von uns – vielleicht die meisten oder sogar wir alle – verwirklichen hin und wieder, zumeist spontan, diese Beendigung des Leidens. Selbst wenn wir nie von Buddha oder Dharma gehört haben, berühren wir ab und zu diese Dimension. Wir erfahren sie als eine momentane Lücke zwischen den Wolken, als einen erhellenden Blitz. Viele von uns verwechseln diese Erfahrung mit dem vollkommenen Erwachen. Doch die vierte Wahrheit – und Buddhas gesamtes Leben nach der Erleuchtung – zeigt, dass wir den Pfad entwickeln müssen. Erwachen können wir nicht in einer weit entfernten Zukunft verwirklichen – in irgendeinem zukünftigen Leben. Erwachen oder Erleuchtung darf nicht zu einem Ding gemacht werden, da es keine konkrete Sache ist, sondern ein Prozess. Dieser Prozess ist jedoch nichts anderes als der Pfad, der letztendlich nicht von unserem Leben getrennt ist. Thich Nhat Hanh sagt dazu: „Erleuchtet zu werden heißt, über etwas erleuchtet zu werden.“
In der buddhistischen Gemeinschaft und unter den Praktizierenden des Yoga-Vedanta herrschte über Jahrhunderte eine leidenschaftliche Debatte darüber, ob Erleuchtung nah oder fern, direkt oder stufenweise, einfach erreichbar oder nur durch größte Anstrengungen erreichbar sei. Ich musste oft lächeln, wenn ich an diese dualistische Entweder-Oder-Debatte dachte, da es sich doch eigentlich um eine Lehre handelt, die, in meinen Augen, den Inbegriff der höchsten Lehren der Nichtdualität verkörpert. Vielleicht ist es, mit Nagarjuna gesprochen, zugleich beides und weder das eine noch das andere. Wir können in diesem Zusammenhang auch über Shunryu Suzukis enigmatische Bemerkung nachdenken: „Jeder von euch ist vollkommen, so wie er ist … und zugleich könnt ihr ein klein wenig Verbesserung gebrauchen.“