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Vorgeplänkel zu den Anderen

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Einer meiner Nachbarn war ein fetter Mann, dessen Alter ich auf Ende fünfzig schätzte. Seine Frau war eine fette Frau ähnlichen Alters. Beide kämpften mit ihren Lungen. Gemeinsam, wenn ich sie im Treppenhaus traf. Er allein, wenn ich ihn durch die dünnen Wände hörte. Treu um viertel vor sieben weckte er mich mit dem immer wieder aufs Neue mühsamen aber erfolgreichen Versuch, seine Lungen vom morgendlichen Schleim zu befreien. Das freute mich umso mehr, da er selbst keiner Arbeit nachging. Und so war er am Abend auch pünktlich um zehn im Bett, was sich auf mein eigenes Ruhebedürfnis positiv auswirkte. Manchmal traf ich den Schleimhustenwecker auf dem Balkon. Unserem gemeinsamen Balkon. Ich ließ mich dort nicht oft blicken. Weil ich keine Lust hatte, meinen Nachbarn zu treffen. Ich denke, ihm ging es genauso. Er kam zum Rauchen hinaus. Und zum Gaffen. Zu beiden Anlässen trug er ein weißes Unterhemd. Das Weiß strahlte nicht wie in der Werbung. Er war Asthmatiker und suchte eine Wohnung weiter unten. Das erzählte er wenigstens seit vier Jahren. Ich wohnte dort seit vier Jahren. Er erzählte das nicht nur mir, was ich verstehen würde, ich war nur sein Nachbar. Er erzählte das auch seinen Bekannten. Wenn sie ihn besuchten. Und am Telefon. Und er schimpfte viel mit seiner Frau. Wenn er in Rage war, schimpfte er gleich über die Hausverwaltung mit. Über sein verdammtes Recht, eine Wohnung weiter unten zu bekommen. Schon weil er Asthmatiker war. Ein rauchender Asthmatiker. Die Ärzte sagen, man solle das Rauchen lassen. Die Frau meines Nachbarn rauchte nicht. Sie wurde aber gerne vom Rettungsdienst geholt. Lungenleiden hörte ich den Nachbarn am Telefon erklären. Dann schimpfte er über die Hausverwaltung, weil sie es zugelassen hatte, dass seine Frau die vielen Stockwerke mühsam hinuntergetragen werden musste. Und er schimpfte über seine Frau. Weil sie es wagte, ihn während ihres Aufenthalts im Krankenhaus im Stich zu lassen.

Ich war der Überzeugung, dass seine Frau verreckte, noch bevor sie beide umgezogen waren. Und er würde über die Hausverwaltung schimpfen, weil sie ihm auch dann keine kleinere Wohnung zur Verfügung stellen würde.

Neben mir war ein Paar eingezogen. Meiner Einschätzung nach war es jung und damals erst seit kurzem zusammen. Noch war ich ihm nicht begegnet. Meine Einschätzung rührte aus den Signalen her, die durch die dünnen Wände drangen. Kein Zeichen eines Streits, nur die der Liebe. Häufige laute Liebe. Die Häufigkeit nahm ab, die Schallausbreitung ging zurück. Dann waren Techniker des Bezahlfernsehens im Flur. Danach konnte ich dem Fußballgeschehen von nebenan mühelos folgen und schreckte nur noch auf, wenn die Lieblingsmannschaft ein Tor schoss. Zärtlichkeit, Leidenschaft oder gar Hemmungslosigkeit waren Vergangenheit. In sexueller Hinsicht auf jeden Fall. Ein Hund zog fast zeitgleich ein. Die gemeinsame Verantwortung hätte ein harmonisierendes Moment bilden können. Tatsächlich aber entbrannte ein hemmungsloser Streit. Darüber, wer dem armen Tier bei der Ausübung seiner Rechte regelmäßig zur Seite stehen sollte. Der Köter konnte wie all seine Artgenossen nicht selbstständig von der vierten Etage auf die Straße und zurück, um seinen Instinkten nachzugehen. Erst recht nicht um sechs Uhr morgens. Wenn es draußen regnete. Ich wohnte in einem jener Viertel der Stadt, in denen man keine Hunde halten sollte. Es sei denn, man hatte Verwendung für verstörte Kampfhunde. Oder man scherte sich nicht um Verantwortung.

Ich ging davon aus, dass sie schwanger von ihm wurde. Er würde seiner jungen Jahre wegen das Weite suchen, ohne das Bezahlfernsehen vorher abzumelden. Den Hund würde er am wenigsten vermissen. Sie würde zu spät merken, dass ein Hund, ein Bezahlfernsehenabonnement und ein Neugeborenes zu viel des Guten sind. Ich grübelte, wovon sie sich zuerst trennen würde.

Unter mir wohnte Frau Pauli. Sie war einundachtzig Jahre alt. Anders als meine dicken Nachbarn schaffte sie die Treppen noch ganz gut alleine. Augen und Geist hatten jedoch gelitten. Manchmal suchte sie mich auf. Am Anfang fehlten ihr nur Zutaten zum Kochen. Eier, Milch, Mehl. Später musste ich Strahlen aus ihren Räumen entfernen. Mit einer Sprühflasche. Ich bot ihr an, bei ihr ein wenig sauberzumachen, was sie ablehnte. Ihre Kinder machten das schon, wenn sie kämen.

Ich glaubte nicht, dass sie je kamen. Wenn es sie überhaupt gegeben hatte und noch gab. Sie würden nicht einmal kommen, um die Wohnung zu räumen. Das würden drei oder vier abgehalfterte Gestalten machen. Die würden die Schränke ausräumen und alles in blaue Müllsäcke werfen. Das ein oder andere würden sie zu verkaufen versuchen. In einer Verkaufsbaracke, die noch armseliger war, als die Wohnung von Frau Pauli. Frau Pauli würde wahrscheinlich von einem ihrer Nachbarn gefunden werden. Wenn der Verwesungsgeruch ins Treppenhaus drang. Bis dahin würde sie in trauter Regelmäßigkeit kochen, backen und mich ab und zu um Hilfe bitten.

Im Erdgeschoss wohnte Hannelore. Frau Doktor Hannelore Lamprecht. Sie war Internistin. Mit ihr war ich mal ein Paar. Kein junges. Aber auch eines, das nur kurz zusammenblieb. Und auch eines, das die dünnen Wände des Hauses strapazierte. Darauf lag im Übrigen ihr Hauptaugenmerk. Leider nicht das meine, was unserer Beziehung wenig Stabilität verlieh. Ich will nicht verhehlen, dass ich mir gewünscht hatte, länger mit ihr zusammen zu bleiben. Am Ende war ich nur froh, von der Boshaftigkeit verschont worden zu sein, die aus der Liebe gebastelt wird, wenn klar wird, dass sie einseitig ist.

Sie würde noch ein paar holprige Versuche unternehmen, so war ich mir sicher, einen akzeptablen Mann für ihre Bedürfnisse zu finden, um schließlich mit jüngeren und mittellosen Männern in eine heimliche Form des Gebens und Nehmens einzutreten. Sie würde ihr Äußeres mühsam aber vergeblich vor dem Verfall bewahren wollen, was groteske Züge annehmen würde.

Ich selbst, so spekulierte ich, würde noch einige Jahre Bier trinken, mich mit diversen Fragestellungen auseinandersetzen und dann allmählich körperlichen Gebrechen Gelegenheit zum Austoben geben. Diesen würden Depressionen folgen, die mich zu einer armen Gestalt, einer noch ärmeren, als ich sie bereits war, würde verkommen lassen. Mein Ende würde ich im Pflegeheim finden, einsam und verbittert. Mein letzter Tag, so nahm ich mir vor, würde der sein, an dem ich den Fernseher mit der Fernbedienung nicht mehr würde einschalten können.

Henrik war solchen Gedanken gegenüber wenig aufgeschlossen. Ich schrieb sie ihm regelmäßig. Ob ihm das gefiel oder nicht. Es gefiel ihm nicht. >> Mindy << , so antwortete er, >> Du hast zu viel Scheiße im Hirn. Trink mehr oder geh mehr raus! << Seine Nachrichten waren stets kurz. Er lebte irgendwo am anderen Ende der Welt. Mit einer Frau vom anderen Ende der Welt und Kindern, die sicher nur die Sprache des anderen Endes der Welt sprachen. Sicher kannten sie schon lange das Wort „Scheiße“ in ihrer Sprache. Seine Nachrichten waren kurz, weil ich auf seine eigenen Schilderungen nie eingegangen war und ihm meine Überlegungen wohl auf den Zeiger gingen.

Ich folgte seinem Rat und trank mehr.

Henrik und ich waren seit unserer Jugend engste Freunde. Unsere Freundschaft wurde nicht oft auf die Probe gestellt und überstand solch seltene Momente in der Regel ohne größere Blessuren. Als wir fünfzehn oder sechzehn Jahre alt waren, verliebte sich Henrik in ein Mädchen, das erst seit kurzem in unserer Nachbarschaft wohnte. Er scharwenzelte ganze Nachmittage um sie herum und ließ nicht davon ab, ihr mit jugendlichen Albernheiten imponieren zu wollen. Er erzählte schlüpfrige Witze, vollführte akrobatische Turnübungen und versuchte sich an Zaubertricks, die er mit mir abends mühsam einstudierte. Als er damit keinen Erfolg verbuchen konnte, wechselte er bewusst oder unbewusst die Strategie und bot allerlei Dienste feil. Er erledigte ihre Hausaufgaben, reparierte ihr Fahrrad, begleitete sie als Träger bei Einkäufen und machte sich auch sonst zum willfährigen Lakaien. Ich schimpfte mit ihm. Wenn wir allein waren. Seine Rechtfertigung stand logischerweise auf dünnem Fundament. Er wollte mir weismachen, aus Berechnung zu handeln, während ich ihm vorwarf, schon längst ein Opfer geworden zu sein. Einige Zeit später, er war in seinem Bestreben nicht viel weitergekommen, änderte sich sein Verhalten mir gegenüber. Er redete in ihrer Gegenwart abfällig über mich, machte Zoten auf meine Kosten und ließ mich demonstrativ links liegen, sofern ich nicht als Prügelknabe dienlich sein konnte. Unsere regelmäßigen zweisamen Treffen mied er, wusste er schon, dass er für dieses Verhalten mehr als nur Kritik von mir zu erwarten hatte. Dass keine Erklärung der Welt eine angemessene Entschuldigung darstellte. Mein Gram darüber legte sich jedoch nach geraumer Zeit, und ich bildete mir endlich ein, für sein Verhalten Verständnis aufbringen zu können. So betrachtete ich seine Bemühungen fortan aus der Ferne und freute mich schon auf den Tag, da er mit eingezogenem Schwanz bei mir vorbeikommen und um Verzeihung betteln würde. Zu meiner Verwunderung erhörte die Angebetete sein Flehen und ging mit ihm das ein, was man im fortgeschrittenen Alter eine Beziehung nennen würde. Fast im gleichen Augenblick bedurfte der Bräutigam eines sozialen Umfelds, interessanter Freunde und lustiger Vorschläge für die Freizeitgestaltung. Urplötzlich wurde ich vom Pantoffelabtreter zum Freund der Familie befördert. Zumindest, was seine Vorstellung und sein Verhalten mir gegenüber anging. Dass er eine solche Rechnung nicht mit mir machen durfte, hätte ihm allerdings klar sein müssen. Ich vermied nun meinerseits den Kontakt zu ihm und ihr und engagierte mich stärker in der Schule, was zum Wohlgefallen meiner Eltern zu einer Verbesserung meiner Noten führte. Einer vorübergehenden Verbesserung.

Unvermittelt und unerwartet stand er einige Monate später in meinem Zimmer. Meine Eltern hätten es sich zweimal überlegt, ihn in die Wohnung zu lassen, hätten sie den Zusammenhang mit meinen schulischen Leistungen erkannt. Mit hängenden Schultern und fragenden Augen schaute er mich an.

>> Arschloch << , sagte ich, seine gewohnt gewöhnliche Ausdrucksweise imitierend. Ich hoffte, er würde nichts entgegnen. Tatsächlich blieb er still. Er setzte sich hin und senkte seinen Kopf. Sekunden vergingen und fühlten sich wie Stunden an.

>> Doppelarschloch! << , durchbrach ich die Stille. Er bemerkte an meinem Ton, dass ich ihm längst vergeben hatte, nutzte das aber nicht aus, um etwa sofort die Normalität zurückzufordern. Er sagte nichts.

>> Hast Du Schluss gemacht? <<

>> Ja << , antwortete er leise.

>> Na, wenigstens das << , raunzte ich erleichtert. Er war an diesem Abend und auch Tage später noch mundfaul, was ich ihm hoch anrechnete.

Henrik war alles andere als gut in der Schule, was weder ihn noch seine Eltern zu stören schien. Ganz im Gegenteil. Jede Diskussion rund um dieses Thema erweckte den Eindruck einer besonderen Motivation. In seinem Elternhause wurden Späße darüber gemacht und skurrile Vorsätze gemeinsam verabschiedet.

>> Im nächsten Zeugnis muss die Summe aller Noten gerade sein << , forderte sein Vater, selbst Lehrer für Mathematik.

>> In Religion musst Du Dich aber verschlechtern, Henry, das musst Du mir versprechen << , forderte seine Mutter mit Blick auf seine beste Note und ihren stets aggressiv vorgetragenen Atheismus.

>> Ich werde mein Bestes tun, den Namen der Familie mit Schande zu belegen << , erklärte Henrik mit ernster Miene und schwor feierlich, mindestens noch zweimal sitzen zu bleiben oder ansonsten die Schule zu schmeißen. Wie ehrlich dieser Jux war, und welche Sorgen im Verborgenen schlummerten, kann ich nicht sagen. Eine ganz besondere Lebensfreude jedoch überstrahlte ihn und seine ganze Familie. Nicht ein einziges Mal in all den Jahren unserer Bekanntschaft machte ich mir Sorgen darum, dass ihn das Leben überforderte. Und das, obwohl mir immer bewusst war, dass Schein und Sein manchmal sehr weit auseinander liegen, und Henrik durchaus nicht vor Schicksals- und Rückschlägen gefeit war, bei genauerem Hinsehen sogar ein ganz und gar nicht einfaches Leben hatte. Trotz erheblicher Schwächen in den Zeugnissen war er der erste, der sich der Verantwortung des Erwachsenenlebens stellte. Schon gut ein Jahr vor dem Ende unserer Schulzeit hatte er sich eine Anstellung organisiert, die er, während alle anderen überschwänglich kundtaten, ihre neue Freiheit ausleben und intensivst genießen zu wollen, ohne Umschweife antrat. Er wurde Kaufmann und war darin sehr erfolgreich. Dies lag mit Sicherheit nicht an seinen mathematischen Fähigkeiten oder einem besonderen Hang zu Krämerei. Es war sein Talent, die Dinge, mit denen er umging, mühelos positiv darzustellen. War es die Ware, war es der Preis, war es die Lieferzeit - bei Henrik klang alles so, als kaufe man einen Platz im Paradies. Und es klang magischerweise keinen Deut schlechter, wenn dann die Ware Mängel aufwies, sich der Preis erhöhte oder die Lieferzeit verzögerte. Henrik brauchte das Kaufmannshandwerk nicht lernen, es lag ihm im Blut. Und so verwunderte es nicht, dass sich ziemlich früh die Nachteile einer Anstellung herausstellten. Die Forderungen seiner Vorgesetzten paarten sich mit dem Neid der Kollegen und sollten die Freude, die er zu empfinden und zu teilen bereit war, im Keim ersticken. Er versuchte es noch bei einer anderen Unternehmung und entschied, als es sich dort nicht grundsätzlich anders darstellte, es auf eigene Faust zu versuchen. Da die ein oder andere Selbstverständlichkeit der Akten- und Buchführung nicht zu seinen Vorlieben zählte und seine Lernfähigkeit in solchen Dingen von jeher begrenzt war, sollte er den möglichen Erfolg seines Verkaufstalents auch selbstständig nicht vollständig ausreizen. Auch brachte er es nicht fertig, ein stetes Leben zu führen. Seine Freundinnen wechselten wie seine Fahrzeuge und Wohnungen in einem atemberaubenden Tempo und ohne deutliche Tendenz einer konstanten Verbesserung. Was unverändert blieb, war das Verhältnis zu seinen Freunden, in erster Linie zu mir. Und die Tatsache, dass er, der sein eigenes Leben nicht fixieren wollte, mir der vorderste Spender von Lebensweisheiten war.

Als Henrik sich entschloss, der Heimat den Rücken zu kehren, war er Anfang dreißig. Die Wahl des Exils entsprang keiner Träumerei. Auch nicht der Liebhaberei, sie folgte einfach einem spontanen Gedanken. Henrik vertrieb zu jener Zeit Bekleidung und Ausrüstungsgegenstände für Freiluftaktivitäten: Jacken, Hosen, Spirituskocher fürs Wandern, Zelten, Angeln und andere Aktivitäten fern jeder Zentralheizung und Waschmaschine. Er hatte damit mäßigen Erfolg, war unsere Stadt nicht eben der Ursprung der Naturliebhaberei. Mein Freund war jedoch von der Qualität der Waren, zu denen er sich Zugang verschafft hatte, so überzeugt, dass es ihm keine Ruhe ließ, den Markt dafür zu öffnen. Die Verkaufszahlen nach Beschickung heimischer Messen enttäuschten ihn ebenso, wie jene nach Schaltung ansprechender Werbung in den gängigen Fachmagazinen. Schließlich meinte er: >> Ich muss dahin, wo das Draußen ist. <<

>> Nach draußen << , griff ich seinen Gedanken auf.

>> Richtig << , bestätigte er, >> das ist aber nicht der nächste Angelsee. Und nicht der Campingplatz vor der Stadt. <<

>> Das ist mir schon klar << , folgte ich ihm scheinbar, hatte seinen Punkt aber nicht wirklich begriffen und riet: >> Du suchst nach einem Ort weit draußen, wo sich alle Verrückten treffen? <<

>> Den, wo sie ihre Mitbringsel aus der Heimat wegschmeißen, um solide Qualität zu bekommen. Überlebens-Qualität << , flammten seine Augen auf.

>> Dort willst Du sie dann dazu bringen, ihren teuren Kram gegen Deinen teuren Kram einzutauschen? << , fragte ich kritisch.

>> Ich will ihnen das Leben retten! << , antwortete er enthusiastisch und ohne zu zögern, >> und dass sie später davon ihren Freunden und Kollegen berichten. Allen, die sich dafür interessieren. Und dies es ihnen gleich tun wollen. <<

>> Das Leben retten, klingt nach einem Ort, an dem Urlauber krepieren << , wandte ich ein, >> so etwas gibt es doch gar nicht. Oder willst Du in Kriegsgebiete? <<

>> Mmmmh << , schmunzelte er als wäre er auf den Geschmack gekommen, >> Nein, das Leben kann man auch retten, ohne dass es wirklich auf dem Spiel steht. <<

Ich runzelte die Stirn, worauf er konkreter wurde.

>> Lass sie frieren, Wasser schlucken, ihre Arme jucken, erschöpft sein, genervt sein! Dann will ich mit Komfort parat stehen. Aber ich will das nicht so nennen. Das will nämlich keiner hören, der auf Abenteuertour ist. Immer wenn Komfort meine, sage ich Überleben. Das ist der einfache Trick. Das klappt nur hier nicht. Hier ist ein verspäteter Bus oder ein Mückenstich aber auch kein großes Drama. Drüben schon. Dort gibt es Schlangen und Raubkatzen. Eine fremde Sprache. Da fährt der Bus nur einmal am Tag. Da sieht die Welt schon viel gefährlicher aus. << Er lachte. >> Da muss man als Tourist ums Überleben kämpfen. Gefühltermaßen. <<

>> Wenn Du meinst << , sagte ich und wusste nur zu gut, dass er recht hatte. Gerade bei mir, der ich schon bei einer Busverspätung und beim Mückenstich in Panik geriet. Für die Sicherheit, einem Schlangenbiss oder einer Raubkatzenattacke zu entgehen, würde ich meine Ersparnisse sicher opfern. Wenn es mich in die Ferne ziehen würde. Die fremde Sprache stellte seit jeher ein Gefährdungspotential für mich dar. Ich dachte darüber nach, ihn von seinem Vorhaben abzuhalten, begriff aber sofort, dass es sich nicht lohnte. Nicht nur, weil es aussichtslos war, weil er Dinge, die er sich in den Kopf setzte, auch tat. Nein, auch weil ich wusste, dass Dinge, die er sich in den Kopf setzte, auch richtig für ihn waren. Dass sie ihn weiterbringen würden. Dass er sie nicht bereuen würde. Es dauerte nach der Idee kaum einen Monat, da kannte er Zielort und Datum seines Reiseplans.

Der Abschied fiel uns beiden nicht leicht. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich ihn mit den Tränen kämpfen. Verstohlen und mit Scherzen überspielend. Ich selbst ging mit solchen Gefühlen offen um. Mir rann das Wasser nur so von den Wangen, als ich ihn am Flughafen umarmte. Und obwohl er sich oft einen Spaß daraus machte, meinen emotionalen Zustand mit zum größten Teil waghalsigen und auf den ersten Blick unsensiblen Bemerkungen zu begleiten, kannte er stets die Grenze, die zu überschreiten echte Kränkung bedeutet hätte. Und er fand dann, wenn er überhaupt sprach, stets die richtigen Worte.

>> Ich verspreche, es ist nicht für immer, Mindy << , sagte er und ich wusste, wir würden bis zum Ende unseres Lebens Freunde bleiben. Echte Freunde, die regelmäßigen Austausch haben.

Die Jahre vergingen, und ich schaffte es nicht, ihn in seiner neuen Heimat zu besuchen. Wenn wir uns trafen, dann hier in unserer beider Heimatstadt. Wozu er selbst die lange Reise antreten musste. Zu seinen Eltern. Später zu seinen kranken Eltern. Und schließlich zu ihren Beisetzungen. Ich nahm wahr, dass die Leichtigkeit unserer Treffen mit der Entfernung und der Dauer unserer Trennung verflog. Zu viel Zeit nahm die Erkundung des Neuen, des Veränderten in Anspruch. Die Gewöhnung an das inzwischen Ungewohnte. Die Vorsicht, eine fremde Welt nicht zu verletzen. Respektvoll zu sein. All das täuschte jedoch nicht darüber hinweg, dass wir uns unsere Freundschaft nicht hinterfragen mussten, sie nicht bestätigen und uns ihrer nicht versichern mussten.

>> Warum besuchst Du mich eigentlich nicht? << , fragte er nach einigen Jahren eher beiläufig.

>> Ich kann es Dir nicht sagen << , versuchte ich einmal auf die Frage, warum ich ihn nicht besuchte, meine Motive zu ergründen. >> Du weißt, ich bin nicht gerne auf Achse. << Ich wusste auch, dass er mich niemals mit Vorwürfen überschütten würde, deshalb nahm ich mir Zeit und ergänzte nach einer Weile: >> Ich glaube, es ist eine Mischung. Ich reise nicht gern und ich habe Angst, mir dumme Fragen zu stellen, warum Du dort bist und nicht hier. <<

>> Der erste Grund überwiegt, oder? << , stellte er zielsicher fest.

>> Ja << , gab ich zu, >> es würde mich aber trotzdem belasten, zu Dir zu reisen, mit all den Unannehmlichkeiten, nur um festzustellen, dass Du dort ein Leben führst, das Du hier viel besser führen könntest. <<

>> Kannst Du Dir das wirklich vorstellen? << , belastete er noch einmal meine Argumentation.

>> Ja << , wollte ich mich nicht ganz in die Ecke der Sonderlings drängen lassen, >> in der Abwägung, wo es besser ist, müssten dort schon Grillhähnchen an Bäumen wachsen und Bier zu jeder Tages- und Nachtzeit umsonst sein. <<

Er entgegnete nichts. Dafür liebte ich ihn. Er fuhr ab und kam wieder. Was mich neben der Unfähigkeit, die Strapazen einer langen Reise auf mich zu nehmen, wirklich an mir selbst ärgerte, war die Tatsache, dass ich seine neue Familie nicht kennenlernte. Rücksicht nehmend auf meine eigene Situation würde er nie mit seinem Glück prahlen. Ein Leid damit würde er jedoch auch nicht verbergen. Deshalb ging ich davon aus, dass es ihm nicht ganz schlecht erging. Ich war mir aber nicht wirklich sicher, ob sein Familienleben eine harmlose Zufälligkeit darstellte, eine dem Alter geschuldete und längst überfällige Selbstverständlichkeit, das große Glück oder eine reife Entscheidung nach langer Prüfung. Das große Glück wollte ich ausschließen, weil er mir sicher davon berichtet hätte, und ich im Zweifel schon lange eingefordert hätte, davon zu erfahren. Auch unter Berücksichtigung meiner eigenen Lebensweise, der Henrik sicher ein gehöriges Maß an Rücksichtnahme entgegenbrachte. Ich hätte es gemerkt, wie sehr er es auch zu verstecken versucht hätte. Genauso hätte ich gemerkt, wenn ihm seine Familie nichts bedeutet hätte oder er der Resignation anheimgefallen wäre. Also entschied ich nicht zum ersten Mal, dass es ihm gut ging, weil es einfach richtig war.

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