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Die Nachbarn zur Rechten
ОглавлениеIch traf meinen Nachbarn auf dem Balkon und musste mich wieder einmal wundern, welcher Verwandlung ich Zeuge wurde. Der Mann, der eben noch lautstark mit seiner Frau geschimpft hatte, an dessen regelmäßig cholerischem Leben ich dank unserer gemeinsamen dünnen Wände regelmäßig teilhaben durfte, dieser Mann wurde genauso regelmäßig zu einem Gentleman, wenn ich auf ihn traf. Nur sein ungepflegtes Äußeres konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass ich ihm nicht im Theater oder auf einer Nobelpreisverleihung begegnete. Mimik, Haltung und Stimme jedoch nahmen aristokratische Züge an. Er nickte mit dem Kopf, grüßte freundlich, entschuldigte sich für etwaigen Zigarettenqualm, der in mein Anwesen eingedrungen sein konnte und parlierte in heiteren Worten über das herrliche Wetter. Ich grüßte zurück und erkundigte mich nach seinem Befinden.
>> Prächtig, prächtig, Herr Nachbar << , entgegnete er und schränkte gleich ein: >> Natürlich nur im Rahmen der Umstände. Danke allerdings der Nachfrage. Ihnen geht es hoffentlich auch gut? <<
>> Danke, danke << , antwortet ich, >> wie kann es einem an einem solchen Tag auch schlecht gehen, nicht? <<
Seine Frau kam hinzu und quetschte sich neben ihren Gatten. Sie versuchte, sich der Konversation anzuschließen, jedoch waren ihre Talente, das Spiel richtig zu spielen, begrenzt. Mit leicht geneigtem Kopf krächzte sie: >> Guten Tag. Wie geht es Ihnen? <<
>> Danke, gut. Das sagte ich auch gerade ihrem Gatten. Es ist ein so schöner Tag << , plapperte ich, >> und Ihnen? <<
>> Naja << , hustete sie, >> es ging schon mal besser. << Ihr Mann schaute sie böse an. Schnell verbesserte er: >> Selbstverständlich geht es ihr gut, Herr Nachbar. Sie ist noch etwas müde. Der gestrige Tag war sehr anstrengend. <<
>> Gestern? << , blaffte sie zurück und kramte sichtlich angestrengt in ihrem Gedächtnis.
>> Das interessiert unseren Nachbarn nicht << , bestimmte er hastig und stupste sie mit dem Handrücken, >> lass uns wieder hineingehen. Der Herr Nachbar will auch mal seine Ruhe haben. <<
>> Nein, nein, nicht meinetwegen << , forderte ich höflich, was nicht verhindern konnte, dass die beiden nach drinnen verschwanden.
Niemals traf ich sie allein auf dem Balkon. Mag es daran gelegen haben, dass sie einen Moment an der frischen Luft nicht als wohltuend empfand, oder aber ihr Mann das Terrain als das persönliche Refugium zur Befriedigung seiner Nikotinsucht erklärt hatte, es war in jedem Fall sonderlich, da sie nicht selten dazu stieß, kaum dass ich mich in eine kurze Unterhaltung mit dem Nachbarn eingelassen hatte. Während er für sein Gespräch mit mir offenkundig eine hohe Konzentration aufbrachte, ging sie weitaus entspannter ans Werk.
>> Sie haben aber selten Besuch << , stellte sie zum Beispiel einmal fragend fest, was ihrem Gatten an gleicher Stelle die Schamesröte ins Gesicht trieb.
>> Ja, ich bin ein Eigenbrötler << , gab ich entspannt zu.
>> Aber Damenbesuch haben sie auch nicht << , drang sie ohne den Anschein allzu großer Neugier in den intimen Bereich vor. Ihr Mann schloss die Augen und erweckte den Eindruck, Stoßgebete gen Himmel zu richten. Ein leises Grunzen verriet, dass er damit kämpfte, in den Dialog einzugreifen. Ich tat ihm und ihr den Gefallen, die Frage bereitwillig zu beantworten und nicht im Mindesten den Eindruck zu erwecken, dadurch belästigt worden zu sein.
>> Das habe ich durch << , erklärte ich fröhlich, >> da müssen schon Zeichen und Wunder geschehen. Wenn Sie dereinst Kenntnis davon erlangen, wünschen Sie mir Glück. <<
Ich war mir nicht sicher, ob ich verstanden wurde. Sie sagte: >> Ich drücke Ihnen auf jeden Fall die Daumen. <<
Er polterte fast zeitgleich hinaus: >> Lassen Sie sich dadurch nicht beirren. <<
Ich stutzte, weil ich in Erwägung zog, dass er damit die Äußerung seiner Frau gemeint haben könnte, schloss das aber sogleich aus. Er selbst hatte auch bemerkt, dass er mit seinem Rat an dieser Stelle nicht optimal reagiert hatte und fügte hinzu: >> Sie machen schon das Richtige, da bin ich überzeugt. <<
Ich selbst war überzeugt, dass er dabei insgeheim seine eigene Ehe im Auge hatte und mich einen kurzen Augenblick sogar beneidete.
Ihren Lebensunterhalt bestritten sie durch eine Teilzeitanstellung in einem Supermarkt, der sie nachging, und einer behördlichen Unterstützung, der er seine volle Aufmerksamkeit schenkte. Die Frage, wie das gemeinsame Einkommen aufgebessert werden konnte, beantworteten beide mit einer klaren Erwartungshaltung gegenüber den bisherigen Geldgebern. Eine Ausweitung ihrer diesbezüglichen Anstrengungen über diese Erwartungshaltung hinaus jedenfalls kam ganz und gar nicht infrage. Sie waren krank und es hatte ganz den Anschein, als wäre diese Krankheit ihrer aufopferungsvollen Hingabe für die Arbeit und das Land geschuldet. Anders konnte ich jenen Monolog nicht verstehen, dem ich lauschen durfte, und der wohl tatsächlich einen Telefondialog darstellte.
>> Die müssten wir rausschmeißen. Leben von unseren Steuern und sprechen nicht mal unsere Sprache. << Jedem seiner Sätze folgte eine Pause, die von ihrer Länge den Anschein erweckte, dass sein Gegenüber ganz genau die gleiche Anzahl von Wörtern in dem jeweiligen Themengebiet verwendete.
>> Die haben keine Probleme, eine Wohnung zu bekommen. Die bekommen sogar ganze Häuser. Von unserem Geld. << Ich hatte plötzlich eine ganz gute Laune und begleitete solche Behauptungen im Geiste mit allerhand zynischen Kommentaren. Sein nächster Satz wechselte nicht das Thema, aber das Ziel seiner Suche nach einem Verantwortlichen für seine unglückliche und schicksalhafte Lage: >> Die Hausverwaltung tritt meine Rechte auch mit Füßen. Die wissen genau, dass mir eine größere Wohnung zusteht. Und weiter unten. Ich komme doch gar nicht mehr so weit nach oben. Das bringt mich noch einmal um. Das ist denen wohl egal. Bis ich dann im Treppenhaus krepiere. Dann wird denen klar, was sie mit mir machen. Das ist denen aber jetzt egal. Da muss erst einer sterben. Aber den Gefallen tue ich denen nicht, das kann ich Dir sagen. <<
Die Hausverwaltung musste noch eine Weile als Täter herhalten: >> Was denken die? Dass ich alles mit mir machen lasse? Die denken wirklich, die können alles mit mir machen. Was denen einfällt. So weit kommt es noch. <<
Er redete sich ein wenig in Rage: >> Die werden mich noch erleben. Die sollen mich mal kennenlernen. Das wird denen noch leidtun. So nicht, sage ich, so nicht. Nicht mit mir! <<
Noch hatte seine Frau keine Rolle gespielt, was sich aber ändern sollte: >> Nein, der geht es auch nicht gut. Die hat aber nur diese kleine Arbeit, Du weißt ja. Da kann man nichts machen. Die verlässt sich auf mich. <<
Ich erinnerte mich an eine Situation, da sie auf der Straße mit ihrem Einkauf stand und die Klingel drückte. Ich bot ihr an, ihre Tüten nach oben zu tragen, worauf sie antwortete: >> Nein, mein Mann muss sich auch mal bewegen. Der sitzt den ganzen Tag auf dem Sofa. Sie müssen wissen: Ich bin die Einzige, die Geld verdient. Wenn er nicht abnimmt, wird sich das nie ändern. <<
Seine Sätze ließen nicht auf die Identität ihrer beider Betrachtungswinkel schließen: >> Die lässt sich ja nur verarschen. Das habe ich ihr schon tausendmal gesagt. Aber die will ja nicht auf mich hören. Ich lass sie machen. Ich hab die Schnauze voll. Die wird schon sehen, was sie davon hat. Zum Glück hat sie ja mich. Wenn sie mich nicht hätte. Nicht auszumalen. Kannst Du Dir das vorstellen? <<
Sein Gesprächspartner schien ihn daraufhin ermahnt zu haben. Ich überlegte, ob es sich um einen ihrer Verwandten handelte.
>> Das musst Du ja so sagen. Du kannst ja nicht mit ihr verheiratet sein. <<
Ich glaubte einen Ton zu vernehmen, der eine Auseinandersetzung ankündigte und wartete gespannt auf die Ausläufer. Die ließen aber noch einen kurzen Moment auf sich warten. Vorher mussten die obligatorischen körperlichen Beschwerden noch als Gesprächsstoff herhalten.
>> Du weißt, mein Asthma ist nicht mehr normal. Ich könnte jeden Tag sterben. Den Gefallen tue ich ihnen aber nicht. <<
Die Frage, wer mit „ihnen“ gemeint war, interessierte ganz offensichtlich auch den Menschen am anderen Ende der Leitung.
>> Na alle die, die nur darauf warten. Du weißt schon. <<
Er wusste anscheinend nicht.
>> Du regst mich langsam auf. Willst Du Dich mit mir anlegen? <<
Es ging los.
>> Nix „aber“. Ich rede mir den Mund fusselig und Du machst einen auf doof. Das muss ich mir nicht anhören. Dafür ist mir meine Zeit zu schade. Hast Du eine Ahnung, was ich in der Zwischenzeit alles hätte machen können? Ich muss nicht mit Dir reden. <<
Er wurde unterbrochen. Nach einer Weile schien er zu unterbrechen: >> Nix „komm wieder runter“. Ich komm wieder runter, wenn ich es für richtig halte. Das hast Du nicht zu entscheiden. Nicht Du. Du nicht. Ich frag mich gerade, warum ich überhaupt so ehrlich zu Dir bin. Schönen Tag und wie ist das Wetter könnte ich eigentlich auch machen. Dann würde ich mir sowas ersparen. <<
Eine Versöhnungsrunde bahnte sich an: >> Mein ich doch. Hab ja verstanden. Das hättest Du auch gleich sagen können. Musst mich nicht immer gleich beleidigen. <<
Sie klang aus: >> Stimmt. Ich werd mich bemühen. Pass Du aber einfach das nächste Mal auf. << brachte den Friedensschluss: >> Ja, schön mit Dir gesprochen zu haben. Bis bald mal wieder. Grüß die Familie. Lass es Dir gut gehen. <<
Endete heiter: >> Mach ich. Mach ich. Ja. <<
Und legte auf.
Meinen dicken Nachbarn begegnete ich häufiger als alle anderen im Treppenhaus. Das lag vor allem daran, dass ihr Weg hinauf und hinab unendlich lange dauerte. Ich traf sie zumeist getrennt. Einmal fragte ich ihn: >> Na, allein unterwegs? << , worauf er antwortete: >> Meine Frau ist so langsam, müssen sie wissen, da werde ich wahnsinnig. <<
Das ließ mich schmunzeln, konnte ich mir das beim besten Willen nicht vorstellen. Es musste sich um jenen Unterschied handeln, den auch Lastwagenfahrer untereinander ausmachen und der sie immer wieder verleitet, ihre langwierigen Überholvorgänge durchzuführen. Interessanterweise wurde seine Aussage durch seine Frau in gewisser Weise bestätigt. Ich stellte ihr irgendwann später einmal die gleiche Frage: >> Na, allein unterwegs? << , worauf sie antwortete:
>> Ja, mein Mann macht mich verrückt. Es kann ihm nie schnell genug gehen. Dabei ist er doch selbst in so schlechter Verfassung. << Sie konnte nicht umhin, eine ihrer wichtigsten Botschaften zum wiederholten Male einzuflechten: >> Ich bewege mich wenigstens noch. Ich hab ja eine Arbeit. <<
Im Sommer traf ich sie schwitzend und schnaubend auf den Treppenabsätzen. Im Winter traf ich sie schwitzend und schnaubend auf den Treppenabsätzen. Ab und zu keuchten sie gerade auf einer Treppenstufe. Ihr Gewicht entwickelte sich anders als ihre Leistungsfähigkeit langsam nach oben. Mich belustigte die Beobachtung im gleichen Maße, wie sie mich schmerzte. Den vorläufigen Höhepunkt erlebte das Ganze, als ein Rettungswagen vor der Tür stand und ich im Halbschlaf das Blinken des Blaulichts draußen und die Flüche der Rettungssanitäter im Flur wahrnahm. Die Ausrufe galten dem Gewicht des Notfallpatienten, der nach unten bugsiert werden musste. Mit der Frage, ob es ihn oder sie getroffen hatte, dämmerte ich vor mich hin, bis der Telefonanruf von nebenan die Antwort brachte und der Lautstärke wegen jede Hoffnung auf einen echten Schlaf zunichte machte.
>> Nun ist es soweit << , wusste er allein, was soweit war.
>> Nun haben sie endlich, was sie wollten << , wusste er allein, wer sie waren und was sie wollten.
>> Das hat sie nun davon << , war da schon vieler präziser, obwohl ich nicht einsehen wollte, dass sie allein eine Schuld an dem trug, was ich und der Gesprächspartner noch nicht wussten.
>> Sie wurde abgeholt. Vor ein paar Stunden. Mitten in der Nacht. << Dem unbedarften Zuhörer dürften dabei Bilder eines Sondereinsatzkommandos, eines ausländischen Geheimdienstes oder einer Gruppe religiöser Fanatiker durch den Kopf gehen.
>> Vom Rettungswagen. Die Lungen. Die konnte kaum noch atmen. Die wär fast weggewesen << , berichtete er scheinbar wenig liebevoll über seine Ehefrau.
>> Einfach so. Aus dem Nichts. Ich dachte, ich bin im falschen Film << , beschrieb er eine Dramaturgie, die ich nicht nachvollziehen konnte, da ich die Geschehnisse persönlich seit Jahren für überfällig hielt.
>> Mal sehen << , blaffte er, >> ich weiß ja noch gar nicht, wohin sie sie gebracht haben. Das ist für mich ja eine Tortur. Nachher behalten die mich gleich da. Auszuschließen wäre das nicht. Wenn ich es überhaupt bis dahin schaffe. Du kennst ja meinen Zustand. <<
Ich musste mit anhören, wie das Schicksal meiner armen Nachbarin in den Hintergrund trat und das Leid des zurückbleibenden Ehemanns an Raum gewann.
>> Es musste so kommen. Ich habe es ja immer gesagt << , offenbarte er sich als Prophet, >> eines Tages stehe ich allein da. Krank und hilflos. Verlassen von allen. Und wenn ich dann krepiert bin, dann jammern alle. Dann will es keiner gewesen sein. Aber dann ist es zu spät. Zu spät. Viel zu spät. <<
Er atmete so heftig, dass ich fast glaubte, seine Krankheit würde ihn wirklich einholen. Sein Gesprächspartner schien die Botschaft aber verstanden zu haben.
>> Ich wusste, dass ich auf Dich zählen kann. Dass ich mich auf Dich verlassen kann. Du bist halt noch ein echter Freund. <<
Es wurde anscheinend etwas vereinbart.
>> Ja, morgen. Aber nicht zu früh. Ich muss sicher lange schlafen nach der Aufregung. Du kannst ja Brötchen mitbringen. Ich freu mich schon. <<
Mein Nachbar wollte anscheinend auflegen, wurde aber durch die Erwähnung seiner gerade abtransportierten Frau zurückgeworfen.
>> Ja, die. Nein, die, die werde ich nicht besuchen. Die braucht doch erst mal ihre Ruhe. Und wie gesagt, für mich ist das alles andere als ein Spaziergang. Das ist für mich eine ernste Belastung. Mit geht es doch noch schlimmer. Viel schlimmer. Dagegen ist das ein Fliegenschiss. <<
Die offensichtliche Frage, warum dann der Notarzt die Frau und nicht ihn abgeholt hatte, wurde wohl auch am Telefon gestellt.
>> Ich jammer halt nicht so rum. Du weißt ja, wie Frauen sind. <<
Er lachte: >> Dafür sterben wir Männer auch früher. Ich hätte mich gleich mit einliefern lassen sollen. Aber dafür bin ich zu stolz. Du kennst mich ja. <<
Es folgten noch einige kurze Laute der Bestätigung, bevor er das Ende des Gesprächs aktiv suchte.
>> Du, ich muss jetzt Schluss machen. Ich brauche den Schlaf wirklich. Das steckt man nicht so eben weg. <<
Bevor er auflegte, sagte er noch: >> Und vergiss die Brötchen nicht. <<
Als die Abrechnung der Nebenkosten in Briefform in unseren Briefkästen lag und jedem der Mieter eine stattliche Nachzahlung abverlangen wollte, geschah im Haus etwas Merkwürdiges. Dort, wo Türen erst dann geöffnet wurden, wenn der Weg nach draußen ohne jede Begegnung stattfinden konnte, standen sie nun speerangelweit offen, um bloß jeden, der das Treppenhaus durchquerte, mit der abenteuerlichen Geschichte des größten Betrugs seit Menschengedenken zu konfrontieren. Um festzustellen, dass man nicht das einzige Opfer war. Um der eigenen Empörung eine Anhängerschar zu verschaffen.
Ich kam spät nach Hause. Nicht spät genug, als dass sich die Aufregung gelegt hätte. Im Treppenhaus herrschte reges Treiben. Selbst Hannelore und Frau Pauli bewegten sich dazwischen. Sie waren jedoch offensichtlich nicht aus eigenem Antrieb vor die Wohnung getreten, sondern selbst aufgehalten worden. Die Rechnung, die allen in gleicher Weise offenbart worden war, bot durchaus Anlass zur Beunruhigung. Ich zählte mich nicht zu jenen, die jeder Zahlungsaufforderung klaglos folgten, auch gehörte ich nicht zu den Querulanten, die im Supermarkt nach der Kasse das abendfüllende Rechnen anfingen, nur, um eine halbe Stunde später einen Streit über die Frage vom Zaun zu brechen, ob die Milch in der Vorwoche nicht günstiger gewesen war und deshalb ein unabweisbarer Anspruch bestand, den gleichen Preis auch heute zu bekommen. Die Nebenkosten hatten durchaus eine Menge Potential, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Der Spießrutenlauf zu meiner Wohnung hatte vier Stationen, an denen sich weniger der Kopf zerbrochen, als vielmehr der Wut ein Ventil geschaffen wurde. Als ich vor meiner Haustür stand, hatte ich, um schon einmal kurz vorzugreifen, von der Mehrzahl der Parteien erfahren, dass die Hausverwaltung auf ihren Forderungen sitzen bleiben würde. Wenige Wochen später, nebenbei erwähnt, bekam ich einen Brief, der mir erklärte, dass ich zu wenigen gehörte, die säumig waren und die Sache mit einem kleinen Aufschlag auf die geforderte Summe aus der Welt schaffen konnten.
Im Erdgeschoss wurde Hannelore von zwei Menschen aufgehalten, die weder sie noch ich je als Nachbarn wahrgenommen hatten. Hätten sie sich nicht einer gepflegten Sprache bedient, hätte ich angenommen, Menschen zu begegnen, die von ihren Eltern im Kindesalter im Wald ausgesetzt worden waren und denen Wölfe das Überleben beigebracht hatten. Sie sahen zottelig aus und ihre Sorge um die Nebenkosten klang nach einer existentiellen Bedrohung.
>> Das ist unser Ende << , formulierte er ruhig.
>> Damit können wir einpacken << , wusste sie.
>> Wir müssen dafür Verständnis haben. Schließlich ist es nicht die Schuld der Verwaltung << , erwiderte Hannelore gelangweilt.
>> Das können wir nicht akzeptieren. Wir müssen Widerstand organisieren, sonst ist das der Anfang vom Ende, oder wie sehen Sie das? << , wurde ich in den Kreis der Besorgten hineingezogen.
>> Noch habe ich keine Meinung. Ich werde das studieren und mich gleich damit auseinandersetzen << , rettete ich mich mit dem deutlichen Willen, nicht zu verharren und keiner Diskussion beiwohnen zu wollen. Ich stieg die Treppen hinauf und kam nicht sehr weit. Auf der nächsten Etage hatte sich das zweite Protestkomitee breitgemacht. Es bestand aus einer Frau meines Alters und einem rüstigen Mann, deren weit aufgerissene Augen in ihrer Synchronizität den Eindruck erweckten, einem zu allem entschlossenen Paar gegenüberzutreten. Ihre Entschlossenheit kann ich nicht beurteilen, die Partnerschaft jedoch konnte, so hatte es den Anschein, nicht allzu innig sein. Zwei Wohnungen standen offen. Aus der einen lugte ein verängstigtes Augenpaar heraus; es gehörte zu einem Jungen im Vorschulalter, den ich schon ein paar Mal im Treppenhaus hatte herumlungern sehen. Er versteckte sich hinter einem Schränkchen im Flur, von welchem ich annahm, dass es wohl die Schuhe der Bewohner beherbergte. Zum Fichtenfurnier an einer abgegriffenen, ehemals weißen Raufasertapete im Umfeld des Jungen stand die massive Eiche der anderen Wohnung in Kontrast. Eine gewaltige dunkelbraune Garderobe ließ absolut keine Zweifel daran, eine zentrale Funktion zu erfüllen. Ein brauner Teppich und eine dunkelgrüne Tapete taten ihr Übriges, das Domizil stilsicher in einen Ort zu verwandeln, der jeden Besucher auf eine Zeitreise mitnehmen würde.
Noch ehe ich mir weitere Gedanken über das Bündnis der beiden Parteien machen konnte, hatte ich entschieden, ihm nicht mehr als nötig Aufmerksamkeit zu schenken und mit einem kurzen Gruß den Aufstieg fortzusetzen.
„Haben Sie auch“ und „Hausverwaltung“ waren die einzigen Wortfetzen, die ich aufschnappte, die mich aber nicht veranlassten, meinerseits in eine verbale Kommunikation einzutreten. Als ich auf der nächsten Ebene verschlossene Türen vorfand, sah ich vor meinem inneren Auge den Kelch bereits an mir vorbeiziehen.
Wäre da nicht eine selbstbewusste Frau Pauli auf der nächsten Etage gestanden, ich hätte jede Menschenansammlung überlaufen. Sie hatte den Brief sogar in der Hand, während sie mit ihrem Nachbarn eine offenbar anregende Diskussion führte.
>> Wir haben wohl alle Post bekommen << , scherzte ich, ein wenig außer Atem.
>> Das ist nicht halb so lustig, wenn man es nicht bezahlen kann << , frotzelte der Mann, der sich mit Frau Pauli im Gespräch befunden hatte. Ich hatte keine Lust, mich für meine Worte zu entschuldigen oder auch sonst wie nachsichtig zu sein.
>> Ich werde mein Erspartes anbrechen << , sagte ich, >> schließlich will ich doch nicht, dass der Eigentümer meinetwegen in seine eigenen Taschen greifen muss. Dann hätte ich längst die Miete geprellt. Oder ihn nachts mit dem Kissen erstickt. <<
Der Mann, den ich nur selten traf und der den nachbarlichen Gruß niemals gelernt zu haben schien, oder ihn grundsätzlich ablehnte, verstand meine Äußerung zu Recht als Provokation, was ich an dem Aufblitzen seiner Augen erkennen konnte. Dennoch beherrschte er sich und ging eine Argumentation ein: >> Was nicht heißen darf, dass wir uns alles gefallen lassen müssen. <<
Ich mag Menschen, die Kontrolle über sich haben. Deshalb wollte ich seinem Bemühen, einem Streit aus dem Weg zu gehen, nicht allzu viel Widerstand entgegenbringen.
>> Was bedeutet, dass wir die Forderung zu allererst einmal sorgfältig prüfen müssen << , erklärte ich, sorgsam darum bemüht, jeden gehässigen Unterton zu vermeiden. Er zögerte, was mir verriet, dass er das natürlich nicht getan hatte.
>> Das habe ich << , behauptete er mit geschwellter Brust. Frau Pauli, die bisher nichts gesagt hatte, drehte ihren Kopf zu ihm und starrte ihn an, was er im Augenwinkel bemerkte.
>> Soweit es die kurze Zeit erlaubte, meine ich << , schränkte er ein, >> und überhaupt habe ich das Geld gar nicht. Die können nicht einfach Geld fordern, das ich nicht habe. Und das ich auch nicht auftreiben kann. Und nicht auftreiben will. <<
>> Sie können Ihre Möbel verkaufen << , meinte plötzlich Frau Pauli. Ich wollte laut auflachen, riss mich aber zusammen und erfreute mich an seinem dümmlichen Gesichtsausdruck. Es war nicht erkennbar, ob Frau Pauli ihren Vorschlag ernst gemeint hatte oder ob er vielleicht sogar eine Anspielung auf den besonderen Geschmack ihres Nachbarn darstellte. Dessen Kopf war rot angelaufen. Er rang nach Worten.
>> Wie weit soll das gehen? Was wäre, wenn ich gar keine Möbel hätte? << , stammelte er.
>> Keine Aufregung << , griff ich ein, >> das war ja nur so eine Idee. <<
>> Nein << , klärte Frau Pauli mich auf und sprach ihren Nachbarn erneut direkt an, >> trennen Sie sich von dem Pröddel. Dann schlagen Sie zwei Fliegen mit einer Klappe. <<
>> Das geht nicht << , versuchte er sich zu retten, >> das ist ein Stück Lebensqualität. <<
>> Sie werden sehen << , führe Frau Pauli mit ernster Miene weiter aus, >> wie viel Lebensqualität Sie erst gewinnen, wenn Sie sich von dem Ballast trennen. Sie sind dann eine neuer Mensch. Ein freier Mensch. <<
Ich war erstaunt, solche Worte aus ihrem Mund zu hören und nahm mir vor, das wenige, was ich bisher von ihr wusste, einmal vor diesem Hintergrund zu beleuchten. Vorerst aber trieb mich der Wunsch voran, eine Flasche Bier zu öffnen und meine Beine hochzulegen. Ich nahm eine Haltung an, die eindeutig signalisierte, dass ich meinen Weg fortsetzen wollte. Doch konnte ich nicht umhin, eine Bemerkung über die Farben und das Material seiner Inneneinrichtung fallen zu lassen. Gerade wollte ich dazu ansetzen, als ich ein Glänzen in seinen Augen bemerkte, das unverkennbar von Tränen herrührte, die im Begriff waren, ihre Existenz der Öffentlichkeit preiszugeben. Ich biss mir auf die Zunge und bewegte mich ruckartig weiter.
>> Ich muss jetzt aber wirklich << , sagte ich so, als handelte es sich dabei um eine unumstößliche Tatsache. Weder Frau Pauli noch ihr Nachbar kommentierten dies. Mit großen Schritten sprang ich die Treppenstufen hinauf. Meine Hoffnung, das Thema der Abrechnung und der damit einhergehenden spontanen Mieterversammlung damit wenigstens für einen Tag zu entgehen, erfüllte sich nicht. Auf meiner Etage erwartete mich alles, was mir an Nachbarschaft lieb und teuer war. Ein beleibtes älteres und ein schlankes junges Paar.
Ich sah meinem Balkonnachbarn an, dass ihm eine Begegnung mit mir nicht gelegen kam. Was auch immer für Reden bis eben geführt worden waren, sein Ton würde sich meiner Anwesenheit wegen ändern, was die anderen eventuell bemerken und negativ kommentieren konnten. Mir selbst lag ebenfalls nichts daran, ihm diese Blöße zu geben. Leider aber nahm uns unser junger Nachbar jeden Hauch von Illusion.
>> Er sagt, dass das nicht sein kann << , blaffte er und zeigte mit dem Daumen auf den bald schon Blamierten. Der musste schnell zur Korrektur ansetzen: >> Nein, so habe ich das nicht formuliert. <<
Seine Frau schaute ihn verwundert an. Ob es daran lag, dass es nicht stimmte oder er den Begriff „formuliert“ verwendete, konnte ich nicht entschlüsseln.
>> Wie auch immer << , zeigte der Junge kein Interesse an Spitzfindigkeiten, >> was sagen Sie? Müssen wir zahlen? <<
>> Ich kenne die Forderung an Sie nicht << , antwortete ich.
>> Wir haben doch alle fast den gleichen Krams gekriegt << , wandte er ein und reichte mir seinen Brief. Ich nahm ihn höflichkeitshalber entgegen, tat so, als würde ich diesen studieren und reichte ihn wieder zurück.
>> Ich kann keinen Fehler entdecken << , erklärte ich müde, >> ich bin aber auch kein Experte. <<
>> Er aber << , wusste der Junge und bemühte abermals seinen Daumen, um deutlich zu machen, wen er meinte. Und jener sah sich abermals gezwungen, eine Richtigstellung einzuleiten.
>> Das habe ich nie behauptet. Es sind jedoch einige Punkte diskussionswürdig. << Wieder erntete er dafür verwunderte Blicke seiner Frau. Dieses Mal sagte sie etwas: >> Das mit dem Licht im Hausflur << , deutete sie einen Sachverhalt an und fügte gleich abwehrend hinzu: >> Das hast Du vorhin gesagt. Wirklich! <<
>> Ja, das mit dem Licht << , sprang der Junge auf das Thema an, >> das kann doch nicht sein. Das läuft doch nicht Tag und Nacht. <<
>> Heute schon << , konnte ich mir eine Bemerkung nicht verkneifen.
>> Die Rechnung wird also immer höher, je länger wir uns darüber ärgern << , merkte die junge Frau heiter an.
>> Ja << , bestätigte ich, wollte die Sache aber nicht mit einem Scherz stehen lassen: >> Die Rechnung von den Elektrizitätswerken wird es ja geben. Ich glaube nicht, dass unsere Hausverwaltung uns deswegen belügt. << Ich schaute in die Runde, ob ich mich verständlich ausgedrückt hatte.
>> Wenn das so ist, muss der Strom verbraucht worden sein << , folgerte mein dicker Nachbar zutreffend.
>> Oder der Stromzähler kaputt << , warf der Junge ein.
>> Der Stromzähler kaputt << , nahm ich den Einwurf auf, >> oder der Strom verbraucht. Aber nicht unbedingt im Treppenhaus oder Keller. << Ich zog meine Augenbrauen hoch. Mein Nachbar vom Balkon hatte als erster verstanden: >> Da klaut jemand Strom! <<
Er war mit seiner schnell dahingeworfenen Ausdrucksweise nicht zufrieden und wiederholte mit anderen Worten: >> Irgendjemand im Haus zwackt den Strom ab, so dass er über den Stromzähler für das Hauslicht führt. <<
Die Mienen meiner Nachbarn verdunkelten sich. Ich hatte fast den Verdacht, sie verdächtigten sich sofort gegenseitig und scherzte deshalb erneut: >> Oder der Stromzähler ist kaputt. <<
>> Nix. Da klaut einer. Dem haue ich aufs Maul << , legte sich der ungestüme jüngere Nachbar auf Erklärung und Bestrafung fest.
>> Erst mal ausfindig machen. Und dann eben nicht aufs Maul hauen << , wusste ich, >> sonst gibt‘s garantiert eine noch höhere Rechnung. <<
>> Mich bescheißt keiner ohne Strafe << , ließ sich die Gewaltbereitschaft nicht so einfach in den Hintergrund drängen, >> dem lauer ich notfalls im Dunkeln auf. <<
>> Am besten im dunklen Hausflur >> , lachte ich, >> dann kostet uns die Bestrafung keinen Strom. <<
>> Aber wer klaut den Strom denn nun? << , stellte die dicke Nachbarin eine wichtige Frage.
>> Bestimmt der in der zweiten Etage << , riet ihr Gatte, ohne dass ich wusste, von wem er sprach.
>> Ich würde das Elektrizitätswerk benachrichtigen << , sagte ich schnell, weil ich befürchtete, dass dem erwähnten Bewohner schon heute im Dunkeln aufgelauert wurde.
>> Damit der Täter seine Spuren beseitigen kann, was << , sagte der Junge im scharfen Ton. Ich stutzte darüber, musste aber nicht lange nachdenken, bevor er seinen eigenen Verdacht konkret und mutig äußerte: >> Wenn Sie es mal nicht sind. Sie, mit Ihren Kenntnissen. <<
>> Sie? << , schienen zwei andere Stimmen gleichzeitig erstaunt in meine Richtung zu rufen.
>> Das hätte ich nicht von Ihnen gedacht << , krächzte die Lungenkranke plötzlich. Die Frau des Jungen hatte sich zurückgehalten und wiegelte ab: >> Das ist doch jetzt Quatsch! <<
>> Richtig << , sagte ich. >> Ich wäre ja schön blöd, Sie mit der Nase auf eines meiner Verbrechen zu stoßen. <<
>> Das Unwahrscheinliche ist oft das Wahrscheinlichste << , kramte mein Balkonnachbar nach einem Sinnspruch. Ich ärgerte mich unglaublich, in die Diskussion überhaupt eingestiegen zu sein, schloss meine Tür auf und warf sie hinter mir zu. Ich öffnete sie kurz wieder und rief hinaus: >> Rufen Sie am besten die Polizei. <<
>> Das tun wir vielleicht << , sagte die dicke Nachbarin mit ernster, aber brüchiger Stimme.
Ich schrieb Henrik die kleine Geschichte und war mir sicher: >> Ich werde damit noch einmal konfrontiert. Und das nicht im Spaß. <<
Er hielt dagegen: >> Ich wette dagegen. Da betreibt jemand im Keller einen Kühlschrank. Und den wird er schleunigst verschwinden lassen, wenn sich jetzt ein Gerücht verbreiten sollte. Und dann wird auch erst einmal jeder jeden verdächtigen. Aber alle werden ihre Rechnung bezahlen. Sofern sie auch ihre Miete bezahlen. <<
Er erzählte mir bei gleicher Gelegenheit, dass die von ihm vertriebenen Produkte in das Visier einer staatlichen Stelle geraten waren, und er sich Sorgen machen musste, gegen Auflagen zu verstoßen.
>> Du und Sorgen machen ist doch das Gleiche wie ich und glücklich sein << , beschwichtigte ich.
>> Dafür allein würde es sich lohnen, richtig große Sorgen zu haben << , bewies er erneut seine ausgeprägten empathischen Qualitäten.