Читать книгу Mein Name ist Mindaugas - Frank Buddrus - Страница 8
Die Nachbarn zur Linken
ОглавлениеIch saß an der dünnen Wand zu meinen neuen Nachbarn und erlebte, wie ein Leben in Zeitraffer geschah. Erst vor einigen Wochen war die junge Frau still und heimlich eingezogen. Ihr Namenschild war plötzlich an der Tür, und ich freute mich auf ein ruhiges Zusammenleben. Kaum drei Wochen später kam dann ein weiterer Name hinzu. Und kurz darauf bemerkte ich, dass mit den Namen auch Menschen verbunden waren. Durch die bedeutsamste aller menschlichen Verrichtungen. Der Verrichtung, welche als die erste und angenehmste Pflicht der Fortpflanzung erfunden worden war. Die beiden gingen dieser Verrichtung recht ungezwungen nach. Sie achteten nicht auf eine Zeit und nicht auf die Frage, wer alles im Haus dabei unfreiwillig Zeuge sein musste. Das Gestöhne ging von beiden Seiten aus und hatte mal diese, mal jene Leitstimme. Der Ablauf der vereinten Leibesertüchtigung war einfach zu deuten. Er war auch nicht selten von klaren Kommandos begleitet, welche die Interpretation der klatschenden, schlürfenden, schmatzenden oder von Möbelstücken herrührenden Rhythmen erleichterten. Mit der Zeit gewann ich Routine darin, zeitig schon vorherzusehen, wessen Abschlussgrunzen oder –stöhnen das Ende des Spiels einläuten sollte. War er es, der sich dem Finale zuerst genähert hatte, fiel jede weitere Geräuschkulisse aus. Sollte sie aber den krönenden Abschluss zuerst gefunden haben, dauerte es für gewöhnlich noch eine ganze Weile intensiver Anweisungen und diverser Rhythmik, bis ein markerschütternder Schrei den tosenden Ausklang bildete. Ich überlegte, ob ich Tonaufzeichnungen davon anfertigen sollte. Es gab dafür sicher eine interessierte Käufergruppe. Der Gedanke brachte mich soweit, mit Henrik darüber zu sprechen, dessen Verkaufstalent ich ja das Unmöglichste zutraute. Er bestätigte meine Bewertung, einen Markt dafür finden zu können, riet mir aber dennoch, die Finger davon zu lassen. Es würde mich mit einer Welt konfrontieren, der ich seiner Meinung nach nicht gewachsen war. Ich ließ natürlich die Finger davon und wollte mich gerade um einen Weg kümmern, dem regelmäßigen Lärm zu entgehen, da entwickelte dieser eine rückläufige Regelmäßigkeit. Was eben noch mehrfach am Tag stattgefunden hatte, spielte sich nun nicht einmal mehr mehrfach in der Woche ab. Ich wusste nicht, ob ich mich freuen oder mir um die beiden Sorgen machen sollte. Ich entschied mich für Ersteres, kannte ich das Phänomen abflachender Begeisterung nur zu gut. So gut, dass ich es eigentlich nicht mehr als Phänomen zu klassifizieren gedachte, sondern der Normalität zumaß. Die immer seltener werdenden lautstarken Vereinigungen brachten zudem eine qualitative Veränderung im Ablauf mit sich. Den ein oder anderen Laut konnte ich gut hören, die wenigen rhythmische Geräusche waren nur noch einem einzigen, dem für diese Art der Beschäftigung klassischen, Möbelstück zuzuordnen. Befehle gab es gar nicht mehr, Abschlusskundgebungen reduzierten sich auf kurze Seufzer. Es dauerte nicht allzu lang, da brach eine Ruhe aus, die mich an die Anfangszeit des Einzugs erinnerte. Ich wähnte meine neuen Nachbarn fort oder tot. Lediglich sporadische Geräusche überzeugten mich, dass es noch Leben in der benachbarten Wohnung gab. Wenn ich es richtig betrachte, war mir der Zustand ganz recht, sollte er mich doch in der Gestaltung meines Tagesablaufs behindern. Dachte ich. Fälschlicherweise. Ich wurde schnell eines Besseren belehrt, als mich früh am Morgen, noch weit vor Arbeitsbeginn, jedenfalls vor meinem Arbeitsbeginn, Radau im Treppenhaus weckte. Bald schon entwickelte der Radau Tendenzen, gegen meine Tür zu klopfen. Ich öffnete in der Bekleidung meiner Nachtruhe, was ich bewusst als Überraschungsmoment einsetzen wollte. Leider war der erste Mensch, der mich in Unterwäsche erblickte, meine dicke Nachbarin, die just im gleichen Moment den gleichen Gedanken wie ich verfolgt hatte und der Ursache des Lärms nachzuspüren beabsichtigte. Sie trug zu unser beider Glück anständige Wäsche, was die Konzentration auf mich erlaubte. Ich zog die Tür so an mich heran, dass nur noch mein Kopf hinaus schielen konnte. Mehrere Männer versuchten sich auf zwei Leitern an der Montage einiger Kabel über meiner Tür und über der Tür meiner jungen Nachbarn. Sie trugen einheitliche Arbeitskleidung, weshalb ich meine Neugier befriedigt sah, die Angelegenheit für mich mit einem >> Morgen! << abhakte und die Tür schloss. Meine Nachbarin glaubte hingegen, die bereits entstandene Situation zu verbessern, indem sie die Männer auf die Uhrzeit hinwies und die Frage nach dem Grund des Lärmens und Montierens stellte. Die Männer antworteten nicht und erreichten so, dass meine Nachbarin wie ich und möglicherweise noch andere im Haus noch einige Minuten unwissend abwarten mussten, bis Leitern und Leute verschwunden waren.
Am Nachmittag des folgenden Samstags noch erfuhr ich den Zweck des morgendlichen Fleißes. In der Nachbarwohnung entwickelte sich reger Verkehr. Es klingelte, die Türsprechanlage wurde bedient, ein >> Komm hoch << erschallte, schwere Schritte stampften hinauf, die Klingel ging erneut, die Tür wurde geöffnet, ein >> Komm rein << erschallte, die Tür wurde zugeworfen. Das wiederholte sich vier oder fünf Mal innerhalb einer halben Stunde. Ich sah auf die Uhr und wunderte mich über eine solch frühe Feier. Keine halbe Stunde später wusste ich, dass es sich nicht um eine Feier handelte. Stadionlärm machte sich in meiner Wohnung breit, Kommentatorenstimmen begleiteten die Geschehnisse, Fangesänge wurden angestimmt. Gut zwei Stunden vergingen, in denen ich jeden der Gäste nebenan kennenlernen durfte. Seine Lieblingsspieler, seine bevorzugten Schimpfwörter, seine Einstellung zum Alkohol und seine soziale Stellung in der Gruppe. Als das Spiel zu Ungunsten der Interessengemeinschaft ausging, entwickelte sich ein Inferno, in dem beinahe eine Grenze überschritten wurde, der ich mit Frohlocken entgegenfieberte: Man gab dem neu eingerichteten Bezahlfernsehen lautstark die Schuld an die Niederlage und versprach, nie wieder Gebrauch davon zu machen. Natürlich kam es nicht so, und ich hatte keinerlei Anlass zum Frohlocken. Schon am nächsten Tag ging es weiter, anderen Mannschaften wurde beim Spiel zugesehen, etwas weniger lebhaft, aber ausreichend lebhaft genug, um in meiner Wohnung eine Form von lebhafter Atmosphäre zu schaffen, die ich nicht selbst bestimmen durfte. Es ging aber alles noch viel schlimmer. Wenn nämlich die favorisierte Mannschaft gewann. Das löste mit Abpfiff nicht nur einen ohrenbetäubenden Jubel aus, nein, es trug die euphorische Stimmung bis zu einer späteren Wiederholung der Spielübertragung. Das Stimmenmeer aus Geschrei, Gestöhne und Gegrunze wurde dabei regelmäßig und unbarmherzig um das Wort „gleich“ angereichert.
>> Gleich, gleich, gleich kommt`s << , rief der eine.
>> Achtung, gleich. Pass auf, gleich << , der andere.
>> Gleich, da!. Da! Da flankt er, gleich, das müsst ihr sehen, gleich, gleich << , ein dritter.
Ich fragte mich, wie die anderen im Haus mit dem Lärm umgingen und entschied, da mir der Gedanke nicht gefiel, als einziger ohne Gleichmut dazustehen, dass die Wände nur in meine Richtung so dünn waren. Dass das Material für richtige, für dicke Wände gerade auf dieser Etage beim Bau ausgegangen war. Dass die Reparatur eines Bombenschadens nur behelfsmäßig ausgeführt worden war. Nach einer Gasexplosion. Dass die ganze Etage einmal eine große Wohnung gewesen war, die man in separate Einheiten aufgeteilt hatte. Durch Leichtbauwände.
In die Zeiten des Fußballvergnügens mischte sich Unmut der beiden Bewohner über ihr Zusammenleben. Waren die Kumpane des Sportkonsums nicht zugegen, mehrten sich Streitgespräche, deren Inhalt wohl wenig mit der Ursache des Streits zu tun hatte.
>> Du könntest auch mal mehr machen << , warf sie ihm vor.
>> Ich mach schon genug << , war er sich sicher.
>> Was machst Du schon? << , wollte sie es genauer wissen.
>> Was willst Du von mir? << , hatte er den Braten gerochen.
>> Ich will wissen, was Du so Tolles machst << , ließ sie nicht locker.
>> Willst Du Ärger anfangen? << , gab er ihr zu verstehen, dass er nicht reden wollte.
>> Du weißt ganz genau, dass ich recht habe << , verstand sie ihn nicht und steuerte auf das zu, was unweigerlich passiert, wenn etwas nicht nach vereinbarten Spielregeln verläuft.
>> Ja, ja, Du hast recht und ich meine Ruhe << , bot er ein letztes Mal den Burgfrieden an. Er hätte wissen müssen, dass ein solches Angebot schlechterdings wegen des damit verbundenen Untertons nicht akzeptabel ist.
>> Deine Ruhe hast Du nicht << , konterte sie, >> die hast Du erst, wenn Du auch mal was machst. <<
Leider blieb sie unspezifisch mit ihrer Forderung, was ihm nicht viel Argumentationsspielraum ließ: >> Jetzt reicht’s mir. Lass mich mit der Scheiße in Ruhe! Ich mach genug, und damit Basta! <<
>> Mir reicht’s auch. Du sitzt immer auf Deinem faulen Arsch, besäufst Dich mit Deinen Freunden und ich darf den Dreck wegmachen << , wurde ihre Stimme schneller, lauter und schriller.
>> Ich sitz auf meinem faulen Arsch? << , fragte er gereizt und brachte damit wohl implizit zum Ausdruck, dass der Vorwurf der Sauferei und der einseitigen Beseitigung von Unrat berechtigt war. Da er gereizt war, sollte diese Feinheit aber im Weiteren keine Rolle mehr spielen.
>> Ja, Du sitzt auf Deinem faulen Arsch. Den ganzen Tag. Von morgens bis abends << , konkretisierte sie den Aspekt.
>> Halt’s Maul und mach Dich schön! << , beendete er die Auseinandersetzung und verließ das Haus, um erst spät in der Nacht wieder heimzukehren. Betrunken, wie man den hilflosen Versuchen, die Tür zu öffnen, entnehmen konnte. Das eine oder andere Mal schloss sich anfangs noch ein lautstarker Versöhnungsakt an. Nach der soundsovielten gescheiterten Versöhnung aber endete das Theater nach einiger Zeit mit einem Aufzug um das Betreten der Wohnung: Er schaffte es mühsam, das Schloss zu öffnen und scheiterte beim Eintreten an der vorgelegten Kette.
>> Mach die Tür auf << , forderte er zunächst etwas unpräzise. Sie antwortete nicht.
>> Mach die Scheiß-Tür auf << , ging es ein paar Mal.
>> Mach die Kette weg << , rüttelte er mit der Tür scheppernd gegen die Sicherung.
>> Mach die Kette weg, oder ich trete die Tür ein << , drohte er, bis sie sich einmischte.
>> Hau ab, ich will Dich hier nicht mehr sehen. <<
Die Auseinandersetzung dauerte einige Minuten, sie wurde mal lauter, mal leiser. Manchmal ließ er ab und wartete einige Augenblicke, um seine Ansprüche danach umso heftiger zu formulieren und mit körperlichen Attacken gegen Holz und Metall zu bekräftigen. In solchen Momenten kündigte sie an, die Polizei, seine Eltern oder seinen Chef anzurufen.
>> Das ist mir scheißegal, mach die verdammte Tür auf << , waren in der Regel die letzten Worte, bevor sie die Kette wegnahm und das Spektakel beendete. Die Stille, die dann augenblicklich einsetzte, war für einen unfreiwilligen Zeugen erleichternd, stellte aber auch immer wieder die gleiche Frage nach dem Sinn und Zweck des Rituals.
Eines Tages hörte ich ein Hundekläffen aus der Nachbarwohnung. Zu einer Zeit, in der gewöhnlich keine Fußballspiele liefen und ich keine Gäste nebenan vermutete. Die Stimmen, die sich der tierischen Gesellschaft widmeten, gehörten dem Paar, dessen Beziehungsverlauf ich seit ihrem Einzug vor ein paar Monaten aus nächster Nähe verfolgte. Die Rufe, die sie ausstießen, ließen darauf schließen, dass es sich um einen jungen Hund handelte. Ich ahnte Böses und krallte mich an der Hoffnung, sie mögen die Pflegevertretung für einen ihrer Freunde übernommen haben. Die Vertretung für ein paar Stunden. Während eines Arzttermins oder eines Autokaufs. Ich wusste, dass sich die Hoffnung nicht erfüllen würde, genauso wenig wie die eines Anglers, eine Meerforelle in einer Regenpfütze zu fangen.
>> Sitz, Rocky, mach Sitz << , rief sie.
>> Fein hast Du das gemacht, fein << , rief er.
Meine nächste Sorge galt währenddessen der Frage, welche Größe und Bisskraft ein Hund namens Rocky hatte und welche Größe und Bisskraft er noch entwickeln würde. Zu meinem Glück begegnete ich Rocky wenig später und konnte mich davon überzeugen, dass keine Gefahr von ihm ausgehen würde. Er sollte am Ende seines Wachstums Kniehöhe nicht überschreiten und selbst mit den besten Zähnen seiner Rasse keinen allzu großen Schaden anrichten können.
Rocky schien weder das Sitzmachen noch das sonstige Gehorchen lernen zu wollen. Anders kann ich mir die Vielzahl und Intensität der Befehle der folgenden Monate nicht erklären. Ohne mich in Fragen der Erziehung gut auszukennen oder gar einmischen zu wollen, so glaube ich doch, dass es grundsätzliche Prinzipien dabei gibt, deren Missachtung ich mir gut ausmalen konnte. Ausmalen durfte.
>> Lass den armen Hund doch mal in Ruhe << , musste sie nämlich ihren Partner regelmäßig zurechtweisen, der die Frage der Erziehung zu einer Ehrenfrage zu machen schien. Mit dem Aufkommen der Differenzen in dieser Frage schien auch die Freude über ihren neuen Mitbewohner seine Grenzen erreicht zu haben. Die Dialoge der folgenden Zeit erinnerten stark an bereits Durchlebtes.
>> Du könntest den Hund ruhig auch mal Gassi führen! << , schlug sie vor.
>> Mach ich doch! << , wandte er ein.
>> Wann denn? << , wollte sie wissen. Ihr Ton klang etwas schnippisch.
>> Soll ich für Dich darüber Buch führen? << , änderte auch sein Tonfall sich ein wenig in eine unfreundliche Richtung.
>> Sei doch ehrlich, Du machst fast nie etwas << , generalisierte sie ihren Vorwurf.
>> Und was machst Du? << , rettete er sich nur für Sekundenbruchteile. Die Entgegnung konnte aber auch beim besten Willen nicht zu einer Entspannung der Lage führen.
>> Das sagst gerade Du. Du sitzt den ganzen Tag auf Deinem faulen Arsch << , bediente sie sich abermals ihres Lieblingsbilds, >> lässt Dich volllaufen und hast Spaß mit Deinen Freunden. <<
>> Ich habe wenigstens Freunde << , zeigte er auch hier wenig Fingerspitzengefühl. Ich biss mir auf die Lippe. Seine Lebensgefährtin geriet in Rage.
>> Ja, solche Freunde wollte ich nicht mal geschenkt. Ich suche mir meine Freunde nicht danach aus, wer am meisten stinkt und wer am meisten saufen kann. <<
Ich sah auf das Bier in meiner Hand und fragte mich, ob ich deswegen jemals Freundschaftsangebote bekommen hatte.
>> Selbsthilfegruppe von Nichtsnutzen << , nahm sie mir das Wort aus dem Mund, >> die graben mich an, sobald Du auf dem Klo bist. <<
>> Dich würden die nicht mal angraben, wenn ich auf dem Mond wäre << , kehrte er ihren Angriff um, >> die haben nämlich Geschmack. <<
>> Das glaubst Du << , schrie sie und man hörte, dass sich Tränen in das Geschehen einmischten, >> eins ist aber sicher, sowas würden die sicher nicht zu ihrer Freundin sagen. Das sagt niemand zu seiner Freundin. <<
Die Tränen zeigten keine Wirkung. Die Lage war meiner Bewertung nach aussichtslos. Mehrfach am Tag wurde die Frage nach der Versorgung des Hundes neu verhandelt, ohne dass sich eine Vereinbarung abzeichnete. Insbesondere seine Freude an dem unausweichlichen Zeitvertreib mit Rocky konnte man an der Lautstärke, mit der er die Haustür zuwarf, ablesen.