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5 - Eine zweifelhafte Vorstellung

Da war es also wieder soweit. Das Leid eines jeden Arbeitslosen. Das Vorstellungsgespräch. Es war Montagnachmittag, es regnete und nach einem weitestgehend ereignislosen Tag saß ich gut gesättigt in meinem Auto auf dem Weg zum monatlichen und leidvollen Vorstellungsgespräch. Monatlich deswegen, weil ich aktuell ungefähr einmal pro Monat ein Vorstellungsgespräch hatte, was bei der schieren Anzahl meiner versendeten Bewerbungen schon eine Farce war. Und leidvoll? Nun ja, leidvoll aus dem Grund, weil ich es letzthin als sehr qualvoll empfand, mich jedes mal aufs Neue für mein Leben rechtfertigen zu müssen. Auch wenn ich versuchte, dies vehement zu umgehen, lief es in den meisten Gesprächen fast immer darauf hinaus. Kurz danach folgte dann in aller Regel das Ende des Gesprächs. Ich war einfach nicht gut darin, mich selbst zu erklären.

Wahrscheinlich war für die meisten Arbeitslosen in diesem Land ein Vorstellungsgespräch etwas schönes, oder wenigstens etwas hoffnungsvolles. Schließlich musste es ja irgendwann mal mit dem neuen Job klappen. Glaubte man den Medienberichten, ging es Deutschland immerhin so fantastisch, dass bei aktuellen Straßenbauprojekten unter jeder Schicht Asphalt fünf Zentimeter reines Gold vergossen wurden. Nur, um endlich den Scheißreichtum dieses Landes loszuwerden. Auf die Idee, mit dem Geld Putz für die Wände maroder Schulen zu kaufen, kam niemand. Auch, mit dem Geld vielleicht neue Lehrer einzustellen, oder Pflegekräfte, kam niemand. Stattdessen nahm man die arbeitslosen Lehrer und Pflegekräfte und schickte sie zum Straßenbau. Gold vergießen. Wie entwürdigend.

Ich hatte mich nach meinem letzten Besuch bei meinem zuständigen Arbeitsamt nicht dazu hinreißen lassen, mich der Entwürdigung preiszugeben. Die mir dargebotenen Stellen an Fleisch- bzw. Brottheke ernsthaft für eine Bewerbung in Erwägung zu ziehen, kam nicht in Frage. Nicht, dass ich nicht dazu bereit wäre, Arbeit zu verrichten, die nicht einen Diplom-Ingenieur erfordert. Aber mal ehrlich, als Dipl.-Ing. hinter einer der beiden Theken? Weder vor, noch dahinter würde mich jemals wieder einer ernstnehmen. Da lasse ich es besser gleich sein. Ob das Arbeitsamt das letztlich überprüfen würde, wusste ich nicht. Das würde sich zeigen.

Ich hatte stattdessen meine Bewerbungen sehr weit gefächert, war aber bei Stellen mit einem technischen Hintergrund geblieben. Und wenn man täglich eine Handvoll Bewerbungen verschickte – und wenn man beinah alle Register zog, war das möglich – so kam schnell eine Bewerbungsanzahl im dreistelligen Bereich zusammen. Eine dieser Bewerbungen hatte für heute tatsächlich eines dieser monatlichen Vorstellungsgespräche hervorgebracht. Wie schon gesagt, eines dieser leidvollen Vorstellungsgespräche. Denn wie man es auch dreht und wendet, im Laufe der Zeit sind immer wieder Bewerbungen im Portfolio, zu denen man sich hinreißen lässt, wo man, wenn man ehrlich ist, gar nicht arbeiten möchte. Wenn man tief in sein Herz und seinen Verstand blickt, sind sich beide einig. Nein, das möchten wir im Grunde nicht. Aber in der Not frisst der Teufel zwar Fliegen – aber nicht Wurst oder Brot.

Eine absolute und unumstößliche Gesetzmäßigkeit der Arbeitslosigkeit ist es aber auch stets, dass genau diese Stellenangebote, diese Firmen, bei denen man sich in schwachen Momenten zu einer Bewerbung hat hinreißen lassen, immer die sind, die sich melden. Jene Firmen sind immer die, die einen kennenlernen möchten. Es sind nicht die anderen Bewerbungen, bei denen man sich denkt: »Hey, da passe ich zu tausend Prozent drauf. Boah, wäre das geil, da zu arbeiten.« Nein, es sind die, bei denen man denkt: »Naja, Lesen und Schreiben kannste ja, der Rest geht auch irgendwie, und bevor du Scheiße schaufelst ... was solls.«

Und genau Letzterem entsprach das anstehende Vorstellungsgespräch. Zugegeben, zwischen dem genannten »was solls« und dem »Scheiße schaufeln«, gab es immer noch eine gewisse Bandbreite an Ertragbarem. Allerdings war die Thrane-Brem GmbH ziemlich dicht an der Grenze. Verflucht dicht sogar. Dazu muss ich sagen, dass ich in der Vergangenheit schon mit der Thrane-Brem zu tun gehabt hatte. Allerdings auf der Seite als potenzieller Kunde, wo einem naturgemäß mehr geschmeichelt wird, als als potenziell neuer Mitarbeiter. Und dennoch war schon damals der Umgang recht schwierig gewesen.

In meiner vergangenen Tätigkeit in Aachen – bevor mich mein Weg nach Bremen zur Klabautermann GmbH führte – versuchte ich mich als Projektleiter. Projektleiter eines Projektes, für das man zu einem erheblichen Anteil Öfen benötigte. Nicht die Öfen oder Heizungen, die man gemeinhin aus Haus und Eigenheim kennt. Auch nicht ganz die Größenordnung, die man hin und wieder in Reportagen über große Stahlwerke oder Stahlhersteller sieht. Nein, sondern Öfen, die irgendwo dazwischen liegen. In etwa so groß wie die Therme einer Etagenheizung und in etwa so heiß, wie die Dinger aus den Reportagen. Fern der tausend Grad. Und an dieser Stelle kommt Thrane-Brem ins Spiel. Denn das sind genau die Öfen, die Thrane-Brem baut. Hochtemperaturöfen. Tolle Sache und heiß wie die Hölle. Zumindest beinah. Denn jetzt kommt der Haken an Thrane-Brem.

Man stelle sich vor, man benötigt einen solchen tollen Ofen. Sagen wir, abgesehen von einigen technischen, an dieser Stelle unwichtigen Gimmicks, der Ofen muss im Betrieb 1800 Grad Celsius erreichen. Jetzt wird es ein wenig kniffelig, denn für herkömmliche Hochtemperaturöfen wird hier eine Grenze überschritten. Nämlich eine Grenze des Machbaren. Ohne größeren Aufwand und Mehrkosten, ist diese Grenze nicht ohne Weiteres erweiterbar. Unterhält man sich mit anderen Ofenbauern, so wird einem Fachmann dieses Problem recht schnell bewusst. Ja, dieses Problem wird offen diskutiert und ja, auch bei der Thrane-Brem GmbH. Nur das die Thrane-Brem nicht aktiv an einer Lösung interessiert ist. Die Thrane-Brem bietet einfach einen ihrer 08/15-Öfen an, korrigiert in der Zeile ›maximale Temperatur‹ den Wert von 1200 Grad auf 1800 Grad und ›Aus die Maus‹. Im Kleingedruckten wird dann noch ein wenig die Gewährleistung angepasst, damit bei Schäden am Ofen bloß nicht die Thrane-Brem zur Rechenschaft gezogen wird. Und schon hat man ein Superangebot über einen Haufen Schrott.

Man kann das vergleichen mit einem T-Shirt, das man gerne kaufen möchte, welches aber nur in M verfügbar ist, obwohl man XL benötigt. Thrane-Brem ist wie der Verkäufer, der daherkommt und das M durchstreicht und durch ein XL ersetzt. Leider gibt es genug Dumme auf dieser Welt, die das Shirt dann tatsächlich kaufen. So wie Öfen bei der Thrane-Brem. Jetzt stellt sich hier natürlich die Frage: »Was war zuerst, die Henne oder das Ei?« Oder bezogen auf die genannten Ofenbauer: »Ist in einem solchen Fall der Kunde besonders dumm, oder der Verkäufer besonders geschickt?«

Und genau bei dieser besonderen Spezies ›Wahlberechtigter‹ – ja, das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen – hatte ich heute ein Vorstellungsgespräch. Natürlich strahlten schon im Eingangsbereich des florierenden und wirtschaftlich bestens gestellten Unternehmens die Ausstellungsstücke blendend glänzender Öfen. Auch, wenn aufgrund des etwas verhangenen Wetters kaum ein Sonnenstrahl durch die gigantische Fensterfront des Eingangsbereiches fallen wollte, so hatten die Ofenpolierer doch ihr bestes getan, damit man beim Betreten des Gebäudes erblindet. Wer bis jetzt nicht weiß, wie sehr Edelstahl glänzen kann, dem empfehle ich dringend einen Ausflug zur Thrane-Brem. Überraschenderweise war das Sitzungszimmer, wo ich zwecks meines Vorstellungsgesprächs hingeleitet wurde, ganz und gar nicht glänzend. Nicht mal ein wenig schimmernd. Die für diesen Raum genutzten, getönten Fenster waren ein absoluter Kontrast zu dem blendend hellen Empfangsbereich. Es dauerte einen Augenblick, bevor sich meine Augen wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Eine junge Dame hatte mich in den Sitzungsraum gewiesen. Geschäftsführer und Vertriebsleiter waren auf dem Weg. Und diese Aussage traf vollends zu, denn die junge Frau hatten den Satz kaum zu Ende gesprochen, als besagte Herren bereits hinter ihr in den Raum traten.

Schon an dieser Stelle nahm das nahende Vorstellungsgespräch eine für mich unerfreuliche Wendung. Die beiden mir gegenüber Platz nehmenden Herren waren tatsächlich genau so, wie ich es befürchtet hatte, nur runder. Darüber hinaus erinnerten mich die beiden Herren irgendwie an zwei andere Herren. Nur wusste ich im ersten Moment nicht genau, an wen. Es wollte mir einfach nicht einfallen. Die Nervosität vor dem Gespräch ließ mich einfach nicht darauf kommen, so sehr ich mich auch bemühte.

Herr Gym, der Vertriebsleiter, war ein korpulenter Mann mit dunkelbraunen Haaren, die er nach hinten gegelt hatte. Die Augen wirkten stechend und unangenehm durchdringend. Der für seine Gewichtsklasse nicht ausgelegte Stuhl schien im deutlich unbequem. Der Stuhl selbst kommentierte die Last mit protestierendem Quietschen. Der Geschäftsführer, Herr Hecke, war demgegenüber eher von hagerer Statur. Die mittellangen, ebenfalls braunen Haare hatte er, wie ich fand, nicht mehr ganz zeitgemäß zu einem Seitenscheitel gekämmt. Auch die Augen von Herrn Hecke schienen ausgesprochen stechend, ja, schon ab dem ersten Moment der Vorstellung, abweisend. Die kleine Brille mit runden Gläsern betonte die Fokussierung seines Blickes. Was der Oberlippenbart betonen sollte, wusste ich nicht. Zumindest fand Herr Hecke wesentlich leichter Platz in einem der Sitzungsstühle. Streng entsprechend einer geschäftlichen Etikette, eröffnete selbstverständlich der Geschäftsführer das Gespräch.

»Guten Tag, Herr Renneisen. Schön, dass Sie sich endlich einmal die Zeit genommen haben, uns für ein Bewerbungsgespräch zu besuchen.«

Vielleich sollte ich an dieser Stelle kurz erwähnen, dass ich den ersten Terminvorschlag abgelehnt hatte. Genau zum gleichen Zeitpunkt hatte ich einen Arzttermin. Einen dieser Arzttermine auf die man in Durchschnitt sechs Monate wartet. Ja, da hatte ich die Frage nach einer Terminverlegung bei der Thrane-Brem gestellt. Offenkundig waren die Herren ein solches Verhalten nicht gewohnt.

»Ja. Guten Tag. Ich freue mich, dass ich heute hier sein darf«, erwiderte ich höflich.

»Schön«, war Heckes knappe Antwort. Gyms schmale Augen wurden nur schmaler. Offenbar waren die Herren es auch nicht gewohnt, dass man ihre Spitzen ignorierte.

Was nun in den nächsten ungefähr 15 Minuten folgte, war im großen und ganzen nichts Besonderes. Im Grunde wurde ich nur ein wenig über meine Herkunft, einige Punkte in meinem Lebenlauf und meinen aktuellen beruflichen und auch familiären Stand gefragt. Nichts Außergewöhnliches. Wäre das Vorstellungsgespräch so weiter gegangen, hätte es einigermaßen entspannt ausgehen können. Dummerweise kommen in solchen Gesprächen ja meistens noch ein paar andere Fragen. So auch hier. Fragen, die das Ganze, sagen wir, ein wenig kontrolliert eskalieren ließen. Und dabei hatte Petra mir noch auf den Weg gegeben: »Bitte, Tobi, Schatz, denk nach, bevor du den Mund aufmachst.«

Wieso sagte mir meine Frau dieses nur immer wieder? Gerade vor solchen Terminen?

»Nun, Herr Renneisen, wenn Sie eine Blick über die von uns ausgeschriebene Vakanz werfen. Wie stellen Sie sich die dahinterliegende Tätigkeit denn so vor?«, fragte der Vertriebsleiter, Herr Gym, mit fast zugekniffenen Augen. Oder waren die Augen immer so?

Mein erster Gedanke auf die Frage war es, diese als Gegenfrage zu erwidern, denn schließlich sah ich darin Gyms Job, mir das zu erklären. Doch noch sprach mein Mund nicht zu früh.

»Nun, da Sie eine Stelle im Vertrieb ausgeschrieben haben, gehe ich davon aus, dass dies nicht nur Innendienst, sondern auch Außendienst beinhaltet. Kundenbesuche zum Beispiel. Wahrscheinlich dann auch die Auftragsbearbeitung hier im Haus. Die Abwicklung des Projektes mit dem Kunden, also quasi die Schnittstelle zwischen Kunde und Betrieb.« Es war eine Standardzusammenfassung von mir. Was hätte ich sonst antworten sollen?

»Ja, da liegen Sie schon richtig. Es ist uns jedoch sehr wichtig, die bei uns im Haus vorgegebene Firmenstrategie in allen Bereichen umgesetzt zu sehen«, erläuterte Herr Gym.

»Okay?«, gab ich fragend zurück, denn Thrane-Brems hausinterne Firmenstrategie war mir bis dato fremd.

»Unsere Strategie«, setzte Herr Hecke ein, »ist einem Kredo nicht ganz unähnlich.«

Ich dachte kurz darüber nach, ob mir die gegenübersitzenden Herren erklären würden, was ihre Firmenstrategie mit einem Glaubensbekenntnis gemein hatte. Doch sah ich von dieser Frage ab, da ich zugegebener Maßen die Antwort fürchtete.

»Die tief im Erfolg unseres Unternehmens verwurzelte Strategie, fordert explizit Proaktivität in allen Belangen unternehmerischen Handels unserer Mitarbeiter. In allen Belangen, wo unsere Mitarbeiter für das Unternehmen handeln. Das schließt natürlich den Vertrieb ganz besonders mit ein. Proaktiv auf den Kunden zugehen. Proaktiv auf unsere Produkte zugehen. Proaktiv auf die Kollegen zugehen. Proaktiv sein!« Geschäftsführer Hecke schien sichtlich begeistert und überzeugt. Selbst Herr Gym konnte tatsächlich die schmalen Schlitze seiner Augen zwecks begeisterter Ausstrahlung ein klein wenig öffnen. Auch die Mundwinkel der beiden Herren schienen sich voller Begeisterung nach oben zu bewegen.

Meine Mundwinkel hingegen stürzten kurzfristig ab. Mir kam während der kurzen Ansprache proaktiv mein Nachtisch von heute Mittag hoch. Und was passiert, wenn die menschliche Physiologie gerade mit einem Brechreiz ringt? Richtig, der Mund beginnt schneller zu sein, als das Gehirn. Erst nachdenken und dann sprechen, funktionierte dann nicht mehr. Meine Magensäure gärte. Plötzlich, aber seit dem Beginn des Gesprächs und dem Kennenlernen dieser beiden unerträglichen Gesellen, nicht ganz unerwartet.

»Was ist denn pro-aktiv?«, fragte ich den Geschäftsführer durch seine kleine Brille hindurch. »Kann ich dann auch contra-passiv sein?«

Die beiden Herren mir gegenüber verloren die Begeisterung in ihren Gesichtern. Offenkundig waren sie es nicht gewohnt, dass man das ›Kredo‹ in Frage stellte. Mit einer intelligenten Antwort auf meine Frage schienen die beiden ebenso völlig überfordert.

»Also entweder bin ich aktiv oder passiv. Aktiver als aktiv kann ich nicht sein. Was ist also proaktiv?«, wiederholte ich meine Frage, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. Der Brechreiz in mir keimte weiter auf. Das zarte Pflänzchen des guten Ratschlags meiner Frau welkte unterdessen dahin. »Wissen Sie, was Proaktivität ist? Das ist einer dieser neumodischen Begriffe, die heutzutage speziell in der Arbeitswelt Nutzen gefunden haben. In der heutigen Arbeitswelt. Neumodisch«, betonte ich. »Da gibt es einen Fachbegriff für, den Sie wahrscheinlich nicht kennen. Neologismus. Neo, von neu. Haben Sie vielleicht schonmal gehört.« Ich fixierte die beiden Herren und muss gestehen, ein wenig verwundert gewesen zu sein, dass nicht beide Herren sofort aufstanden. »Einfach ausgedrückt, sind das Wörter, die es eigentlich schon gibt, aber weil die gerade so viel Anklang finden, werden Sie offiziell in den Sprachgebrauch übernommen. Also quasi in den Duden. Da kann dann wenigstens jeder Fritz und jeder Knut nachlesen, dass es sie gibt. Toll.« Die Augen von Hecke und Gym wurden wieder schmaler. »Ich gebe als Arbeitgeber jetzt vor, dass ich von meinen Arbeitnehmern Proaktivität fordere. Das heißt, meine Arbeitnehmer suchen sich Ihre Arbeit selbst, oder was? Eine Form der schönen Proaktivität ist der Ansatz unbezahlter Überstunden. Das erleichtert mir als Arbeitgeber meinen Job ungemein, denn wenn ich meinem Arbeitnehmer nichts zu tun gebe und mir fällt auf, dass er nichts tut, dann ist er eben nicht proaktiv genug. So kann ich mich auf meiner kleinen Insel zurücklehnen und wenn der Laden nicht läuft, sind es natürlich die nicht proaktiven Arbeitnehmer Schuld. Logisch, oder? Nein, neo-logisch!« Ich hatte den Rat meiner lieben Ehefrau längst vergessen. Das Gespräch war ohnehin zu Ende. Seit Beginn. Aber deshalb war ich noch lange nicht fertig. »Das Traurige an der Proaktivität ist die fehlende intellektuelle Kapazität der Nutzer solcher Begriffe.« Den Zusatz, dass ich damit die beiden Volldeppen Hecke und Gym meinte, unterdrückte ich im letzten Moment. »Das können Sie auch schön nachlesen im Standardwerk, dem Duden, wo Sie die Definition finden. Ist natürlich manchmal auch nicht schlecht, wenn man den Kram auch versucht zu verstehen.« Ich holte kurz Luft. »Da steht, dass proaktiv ist, wer durch differenzierte Vorausplanung und zielgerichtetes Handeln die Entwicklung eines Geschehens selbst bestimmt und eine Situation herbeiführt. Wissen Sie, warum ich so einen Scheiß weiß? Weil ich ›proaktiv‹ mittlerweile an jeder Straßenkreuzung höre und mich einfach mal interessiert hat, was das eigentlich bedeutet.« Wieder holte ich kurz Luft. »Sie haben mir zugehört? Durch differenzierte Vorausplanung und zielgerichtetes Handeln die Entwicklung eines Geschehens selbst bestimmt und eine Situation herbeiführt. Und das ganze am besten mit einer positiven Erwartungshaltung. Also, Herr Hecke, Herr Gym, wenn man sich das einmal genau betrachtet, wäre nach der Definition Hitler heutzutage kein menschenverachtender Massenmörder mehr, nein, er wäre proaktiv.« Meine Augen, die aufgrund meiner Erläuterungen zuvor schmaler geworden waren, öffneten sich nun leicht. Jetzt wusste ich, an wen mich die beiden Flitzpiepen erinnerten. Aber natürlich: Himmler und Göring. Fehlten nur die Uniformen.

»Was steckt aber hinter dieser Definition? Also, ganz kurz, keine Angst, dann bin ich fertig. Das differenzierte Vorausplanen ist in etwa so sinnvoll wie die Contrapassivität. Differenziert heißt im Grunde ja nichts anderes, als strukturiert, weil nach verschiedenen Randbedingungen nach Wichtigkeit geordnet und abgewägt. Nun ja, im Grunde sollte das aber jede Planung sein, denn sonst ist es keine Planung, sondern nur eine Idee.« Ich hob zwei Finger in die Luft. »Zweitens, das zielgerichtete Handeln. Ich meine, mich zu entsinnen, dass mal jemand behauptet hat, jedes Handeln sei zielgerichtet, denn mit jedem Handeln verfolge ich ein Ziel. Und wenn ich nur nach dem Glas Wasser greife, verfolge ich das Ziel des Trinkens. Ergo, nicht zielgerichtetes Handeln gibt es nicht. Jedes Handeln hat ein Ziel. Nur weil es nicht direkt jeder sieht oder versteht, heißt das nicht, dass kein Ziel dahinter steckt.« Ich musste noch einmal kurz nach Luft schnappen. »Und zu guter Letzt«, ich gestikulierte mit drei Fingern. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. »Ein Geschehen selbst bestimmen und eine Situation herbeiführen. Nette Formulierung für etwas, was man gemeinhin als Motiv bezeichnet. Das Motiv ist so hübsch verklausuliert wie das Ziel, damit es nicht gleich jeder versteht. So klingt es viel besser, intellektueller und enorm wichtig. Fast wie ein Geschäftsführer.« Ich fixierte Hecke-Himmler. »Denkt man mal kurz darüber nach, wird man wahrscheinlich zu dem Schluss kommen, dass jedem Handeln ein Motiv zu Grunde liegt. Es ist nur nicht immer so leicht zu erkennen. Bei dem Griff zu dem Glas Wasser ist es einfach. Ich habe Durst, deshalb will ich trinken und nehme mir ein Glas Wasser.« Mein Blick schweifte zu Gym-Göring. »Liest man die Definition für proaktiv jetzt neu, steht dort auf einmal, dass proaktiv ist, wer auf der Grundlage eines Motivs sein Handeln plant. Klingt logisch, aber halt nicht hübsch, nicht modern, nicht arbeitsweltkonform. Nicht wie Geschäftsführerdeutsch, enorm wichtig. Proaktiv klingt viel besser. Da kann man dem kleinen Arbeitnehmer auch mal ein Glas Wasser für ein Glas Dom Perignon verkaufen.« Ich sah dem Ende meines Monologs entgegen, wohl wissend, dass die beiden Stechschrittler es sowieso nicht begriffen. »Und was ist jetzt das Aktivsein. Nun ja, wenn ich aktiv bin, dann handel ich in aller Regel, oder? Da aber jedes Handeln einem Ziel und einem Motiv unterliegt, was wir eben gelernt haben, wo liegt der Unterschied zum Proaktiv? Es gibt keinen. Proaktivität ist eben so sinnvoll wie die Contrapassivität. Contrapassiv klingt nur irgendwie destruktiv, irgendwie unhübsch und antifalsch, nicht zu verwechseln mit antifaschistisch ...«

»Vielen Dank«, unterbrach mich der Reichsführer SS, der sichtlich genervt war und sich von seinem Stuhl erhoben hatte. »Ich denke, Herr Renneisen, wir sind hier fertig. Ihre Unterlagen«, er blickte auf seinen Reichsmarschall, »können Sie gleich wieder mitnehmen.«

Das nette Händeschütteln entfiel. Ich nahm meine Bewerbungsmappe entgegen und befand mich schon wenige Minuten später auf dem Weg nach Hause. Das Wetter hatte ein wenig aufgeklart und Petra arbeitete im Garten, als ich zwanzig Minuten später die Auffahrt hochfuhr. Mit einem herzerweichenden Lächeln begrüßte mich meine Ehefrau.

»Und, wie war es?«

»Och ja«, erwiderte ich herzlich und gab meiner Frau dabei einen dicken Kuss. »Ziemlich gut. War ein nettes Gespräch.«

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