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3. Kapitel

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In Utah hatten sie Willem Vandenbroucke immer nur den Buren genannt. Dorthin war er Anfang der Siebziger aus Kapstadt versetzt worden. Genauer gesagt, in die Kupfermine von Kennecott, einem verschlafenen Nest bei Salt Lake City, in dem er als leitender Ingenieur ein Joint Venture beaufsichtigen sollte.

Mit seinen hundertzehn Kilo, die sich auf einsachtundneunzig verteilten, entsprach er exakt dem Klischee, das den Amerikanern zu den Buren einfiel. Dazu strohblondes Haar, ein imposanter Schnauzbart und sein harter Akzent inklusive rollendem R. Es störte sich auch niemand aus seinem ausschließlich hellhäutigen Kollegenkreis daran, dass Willem nicht nur vom Äußeren her dem weißen Vorzeige-Südafrikaner entsprach. Rassismus war hier kein Makel, den man verbergen musste.

Cynthia, eine fünfundzwanzigjährige Sekretärin, die es von San Diego in die Wüste Utahs verschlagen hatte, lernte er in der Kantine kennen. Dank ihrer großen, dabei grazilen Statur, dem hellen, beinahe durchsichtig erscheinenden Teint und den wallenden ebenholzschwarzen Haaren war sie rein körperlich der vollkommene Gegensatz zu dem schwergewichtigen Südafrikaner. Trotzdem entwickelte sich recht bald eine stürmische Romanze zwischen den beiden, die nach Cynthias Schwangerschaft in einer Ehe mündete. Als es ein gutes Jahr später um die Erziehung der kleinen Claire ging, fanden beide wenig Gefallen an der Aussicht, ihre Tochter in der Einöde Utahs aufwachsen zu sehen. Auf Willems Wunsch hin sollte es zurück ans Kap gehen. Die Sanktionen gegen das Apartheid-Regime hatten zu einem erheblichen Mangel an Fachkräften geführt. Daher war es für ihn ein Leichtes, für sich eine hoch dotierte Position und für Cynthia eine Halbtagsstelle in Kapstadt zu bekommen.

So zog die kleine Familie im November 1976 in das frühsommerliche Constantia. Dort, am Fuße des Tafelbergs, bewohnten sie ein großzügiges Anwesen, das sie vom Konzern, für den Willem arbeitete, gestellt bekamen. In dieser begüterten Umgebung wuchs Claire auf, unbeeinflusst von den sich abzeichnenden Umwälzungen in ihrem Land. Sie war ein stilles Kind, das sich aber, wenn es einmal die Stimme erhob, schon früh mit einer Entschlossenheit äußerte, die ihren Altersgenossen gänzlich abging. Dies und die Tatsache, dass sie in jungen Jahren mit ihrer plumpen Statur eher nach dem Vater zu geraten schien, verschafften ihr in Kindergarten und Schule ein hohes Maß an Spott und Häme.

Claire war auf sich allein gestellt, denn von ihren Eltern war keine Hilfe zu erwarten. Willem, der pausenlos zwischen den im ganzen Land verstreuten Minen pendelte, sah sie lediglich an den Wochenenden. Und Cynthia? Die schien froh, allmorgendlich zur Arbeit in Richtung Kapstadt aufbrechen zu können. Außer einem Kuss blieb nicht viel an Aufmerksamkeit. Claire gewöhnte sich bald an die wechselnden Haus- und Kindermädchen, und anstatt mit anderen Kindern draußen herumzutoben, verkroch sie sich lieber in der riesigen Villa. Besonders hatte es ihr die maritime Bibliothek angetan, in der sie Bildband um Bildband verschlang. In ihren Träumen reiste sie mit den Fotografen und Autoren über die Ozeane dieser Welt. Früh schon stand für sie fest: Sie würde Meeresbiologin oder Fischerin werden - Hauptsache ein Beruf, der sich auf dem Meer abspielte. Das waren natürlich keine Jobs, mit denen sie bei den Mitschülern punkten konnte. Aber nicht nur mit den Gleichaltrigen gab es Ärger, denn mit dem Einsetzen der Pubertät verstärkte sich ihre direkte Art, die von den meisten Lehrern eher als patzig und vorlaut wahrgenommen wurde. So wurde ihre Mutter Cynthia in immer kürzeren Abständen vor das Kollegium zitiert, bis ihr schließlich eindringlich geraten wurde, Claire von der Schule zu nehmen. Bei der schwierigen Suche nach einem Ersatz musste Cynthia sich allein auf ihren Charme verlassen. Von Willem, der sich nur noch sporadisch zu Hause blicken ließ, war nichts zu erwarten. Es kriselte zwischen den Eltern, was auch der jungen Claire nicht verborgen blieb.

Trotzdem gelang es Cynthia schließlich mit viel Überredungskunst und Charme, den Direktor einer Highschool in Tokai davon zu überzeugen, Claire mitten im Semester an seiner Schule aufzunehmen. Und so kam es, dass die Vierzehnjährige sich eines Montagmorgens im Oktober in der hintersten Reihe ihres neuen Klassenraums wiederfand, um dort ihre beschwerliche Schullaufbahn fortzusetzen.

Jedoch fiel ihr die Eingewöhnung hier leicht, da sich mit zunehmendem Alter etwas veränderte, was ihre Akzeptanz besonders unter dem männlichen Teil ihrer Mitschüler begünstigte: Ihr Körper hatte begonnen, sich von dem plumpen Vorbild des Vaters zu lösen. Claire hatte einen ordentlichen Schub gemacht, der sowohl ihre Beine als auch ihren Oberkörper in eine Figur streckte, die den Jungs den Atem stocken ließ. Zusammen mit den langen schwarzen Haaren, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte, und dem goldbraunen Teint machte sie das rasch zur ernsten Anwärterin auf den Platz des Sweethearts ihres Jahrgangs. Claire war sich ihrer Wirkung durchaus bewusst und lernte, diese für ihre Zwecke einzusetzen.

Nur einer schien sich von der allgemeinen Begeisterung nicht anstecken zu lassen: Ken. Groß, blond, langhaarig, Surfer. Dazu vermögendes Elternhaus, ein rebellisches Wesen und eine aus beidem entstandene Fuck You-Mentalität, besonders gegenüber Lehrern und anderen Autoritäten. Wie gemacht, um Probleme anzuziehen. Aber auch perfekt, um Mädchen um den Verstand zu bringen. Was permanent geschah, und auch bei Claire dauerte es nur kurze Zeit, bis es sie erwischte.

Doch ihr erging es genau wie all den anderen Schönheiten der Highschool; sie schien Ken gänzlich egal zu sein. Für ihn gab es bloß Surfen, seine Gang und die Steigerung davon: Surfen mit der Gang. Dabei handelte es sich um vier seiner ehemaligen Klassenkameraden und ein dünnes, unscheinbares Mädchen, bei der niemand verstand, wieso ausgerechnet sie es in den erlauchten Kreis geschafft hatte.

Die sozialen Kontakte von Claires Schwarm spielten sich zu achtundneunzig Prozent innerhalb der Clique ab. Die Welt außerhalb war Luft. Sie surften, wann immer es der Stundenplan zuließ. Im Sommer oder überhaupt immer bei gutem Wetter, gern auch mal während der Schule. Stets lagen in der Kabine von Kens altem Land Cruiser diverse Boards und Wet-Suits, um bei Bedarf ein paar Wellen in der nur wenige Kilometer entfernten False Bay zu nehmen.

Anders als ihre Konkurrentinnen zog sich Claire nach Kens Abfuhr allerdings nicht schmollend zurück, sondern wählte eine andere, langfristig angelegte Strategie: Sie lernte Wellenreiten. Von nun anstürzte sie sich voller Eifer in das Vorhaben und die Wellen, die bei Muizenberg an den Strand donnerten. So oft es ging, zog es sie in Gary’s Surf-Camp. Ob nach der Schule oder am Wochenende - stets belud sie in diesem Sommer ihren City Golf und fuhr die kurze Strecke hinunter ans Meer. Es kostete sie unzählige Stunden, Schürfwunden an Rücken und Knien und Gallonen an geschlucktem Salzwasser, bis sie das Brett soweit beherrschte, dass sie sich aus der Obhut von Garys Team traute. Kens kritischem Blick wollte sie sich noch nicht aussetzen und trainierte deswegen weiter an den Surf-Spots der Kap-Region. Zu Beginn erntete sie von den Locals meist nur abfällige Blicke oder wurde bei ihren Bemühungen sogar von der einen oder anderen Welle vertrieben. Als sie aber sahen, wie verbissen Claire nach jedem Sturz mit ihrem Brett zurück in die Brandung paddelte, legte sich die Arroganz allmählich.

Claire registrierte dies mit Genugtuung, und bald darauf stand für sie fest, dass es an der Zeit war, sich bei Ken und seinen Freunden zu beweisen. So nahm sie eines Nachmittags ihren ganzen Mut zusammen und steuerte ihren bepackten VW die schmale Stichstraße hinunter nach Llandudno, den Ort, zu dem die Gang nach der Schule aufgebrochen war. Nachdem sie hinter dem Strand geparkt hatte, lehnte sie sich für einen Moment in ihrem Sitz zurück und schloss die Augen. Sie spürte, wie ihr das Herz bis zum Hals klopfte. Warum bloß? Die paar Wellen, dachte sie, stieg aus und schlüpfte in ihren kurzärmligen Neoprenanzug. Dann griff sie nach dem Brett und ging entschlossen die wenigen Schritte zum Wasser hinunter.

An diesem Tag blies der berüchtigte Cape Doctor den feinen Sand kräftig über den Strand, sodass sich die wenigen Sonnenanbeter hinter die Steine verzogen hatten. Rechter Hand, bei einigen ins Wasser laufenden Felsen, machte Claire eine bunte Ansammlung von Kleidungsstücken aus. Die dazugehörige Clique schwebte in etwa hundert Metern Entfernung im Rhythmus der leichten Dünung auf dem Wasser. Strömung und ablandiger Wind führten zu einer sich am Eingang der Bucht steil aufstellenden Welle, die kurz danach sauber brach und sprudelnd am Strand auslief. Perfekte Bedingungen für einen Anfänger wie Claire. Dachte sie.

Sich ein wenig links von der Gruppe haltend, marschierte sie schnurstracks ins eiskalte Wasser, warf sich auf ihr Brett und paddelte mit kräftigen Zügen in Richtung Ozean hinaus. Doch je weiter raus sie kam, desto ungemütlicher wurde die Lage für sie. Die ersten beiden Wellen verfehlte Claire schon beim Reinschwimmen. Nummer drei ging sie zu steil an und tauchte die Spitze ihres Boards in das Wellental, was es zum Überschlagen brachte und sie in hohem Bogen aufs Wasser warf. Verbissen und bemüht, das rechts von ihr treibende Grüppchen zu ignorieren (die doch sicher jeden ihrer Fehltritte bemerkten!) paddelte sie zurück in den Break. Sie zitterte. Vor der Kälte des Atlantiks, aber auch vor Wut über sich selbst.

Was war nur los mit ihr? Sie konnte es doch!

Tief durchatmend, visierte sie kurz die nächste Welle an, die sie ohne großes Nachdenken anschwamm. Wenn sie sich die herankommende Woge nur etwas genauer angeschaut hätte, wäre ihr nicht entgangen, dass diese kurz davor war, sich zu einem kapitalen Brecher zu entwickeln. Was Claire jedoch erst bemerkte, als sie sich gerade kraftvoll von ihren Knien in den Stand gestemmt hatte. Da war ihr das laute Brausen des Wassers bereits gefährlich nahe, und aus dem Augenwinkel sah sie nichts außer der sich direkt hinter ihr aufbäumenden Welle, die nur einen Augenblick später schäumend über Claire zusammenbrach.

Mein erster Tunnel, registrierte sie angsterfüllt. Da aber hatte die Wasserwand sie bereits unter sich begraben, war über ihren Körper hinweggerollt und hatte sie tief in die eisigen Fluten hinabgedrückt. Sie spürte, wie sie über den steinigen Untergrund gezogen wurde, während sie mit zappelnden Armen und Beinen verzweifelt versuchte, wieder an die Oberfläche zu gelangen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kam sie hustend und spuckend nach oben, griff nach dem an der Leine hinter ihr treibenden Brett und schwamm benommen zurück zum Strand. Dort kauerte sie sich in den von der Sonne aufgewärmten Sand, stützte den Kopf in die Hände und ließ ihren Tränen freien Lauf. Sturzbäche der Wut und Verzweiflung flossen ihre Wangen hinab. Was hatte sie sich blamiert!

Vollkommen mit sich selbst beschäftigt, bemerkte sie nicht, wie sich eine Hand auf ihre Schulter legte. Sie zuckte erschrocken zusammen.

„Mutig, mutig!“

Claire blickte nach oben, kniff die Augen zum Schutz gegen die Sonne zusammen. „Bitte?“

„Respekt, dass du dich an dieses verschissene Monster rangetraut hast!“

Jetzt erst erkannte sie Ken, der mit einem anerkennenden Lächeln im Gesicht über ihr stand. Sie wollte etwas erwidern, doch da war er schon einen Schritt zurückgetreten. Mit einem Wink lud er sie ein, ihr zu folgen. „Komm zu uns rüber. Wir haben Coke. Oder Windhoek. Vielleicht herrscht ja Bedarf?“

Damit drehte er sich um und ging die paar Meter zu seinen inzwischen am Strand lagernden Leuten.

Claire nickte stumm. Sie war viel zu erschöpft, um sich über die Einladung zu freuen. Dann erhob sich und folgte dem Surfer. Und so wurde sie zum zweiten weiblichen Mitglied der Clique.

Von da an war sie kaum noch aus dem Wasser zu bekommen. Unter der Woche ging es nach der Highschool direkt an den Strand.

An den Wochenenden fuhren sie raus aus der Stadt. Kens Vater gehörten Immobilien in der gesamten Kap-Region, darunter Sommerhäuser in Camps Bay und Elands Bay - sie hatten die freie Auswahl.

Seit ihrem Llandudno Wipe Out war Claire nur noch mit der Gang unterwegs, was ihrer Mutter überhaupt nicht gefiel. Seit klar war, dass Willem sich inklusive neuer Freundin eine Zweit-Existenz am anderen Ende des Landes aufgebaut hatte, hatte sich ihre Ehe aus dem Zustand des friedlichen Desinteresses in eine kriegerische Auseinandersetzung verwandelt. Allein gelassen von ihrem Mann, versank Cynthia zusehends in Depressionen. Und jetzt fehlte auch noch Claire, sodass es nun an der Mutter lag, sich mit ihren Gedanken und Ängsten in der großen Villa zu verschanzen. In dieser trostlosen Lage fand sie mehr und mehr Gefallen an einer Rückkehr in die Staaten.

Zunächst bemerkte Claire nichts von dem Wandel, der in ihrer Mutter vorging. Wie auch, sie war ja ständig unterwegs. Ihre jugendliche Leidenschaft für Ken hatte sich zu einer ausgewachsenen Verliebtheit gesteigert. Sie wunderte sich über sich selbst, denn sie war eigentlich nicht der Typ, der sich einfach so verknallte. Doch je häufiger sie zusammen waren, desto schlimmer wurde es.

Nur: Es tat sich nichts. Sie kam nicht voran bei ihm. Dabei versuchte sie es pausenlos mit vorsichtigen Flirtversuchen. Kens Reaktion darauf? Ernüchternd, denn es gab keine. Zuerst hatte Claire Gaby, das schmächtigste Mitglied der Clique, im Verdacht. Aber obwohl auch sie offensichtlich viel für Ken übrig hatte, stand sie auf einem ähnlichen Abstellgleis wie Claire. Immer ging es nur ums Surfen.

Erst mit der Zeit verstand Claire die Hierarchie innerhalb der Gruppe. Ganz oben stand Ken, natürlich. Gleich darunter sein ältester Kumpel Frederick „Frat“ Fred. Auf gleicher Ebene danach kamen Colin und Marten, etwas ältere muskelbepackte Hardcore-Surfer, die beide nicht viel redeten. Zusammen formten die vier Jungs den Kern der Gang, den die beiden Mädels wie zwei Satelliten umkreisten.

Es war nicht so, dass sie ausgegrenzt, überheblich behandelt oder bei den Wellen benachteiligt wurden. Aber richtig drin waren sie eben nicht. Gaby schien sich nicht daran zu stören, aber Claire machte die unmerkliche Trennung zu schaffen. Besonders aus Marten wurde Claire nicht schlau. Oft hielt er sich abseits der Gruppe, um sich dann mit aller Vehemenz als Erster in die Wellen zu stürzen. Bis auf die Möglichkeiten, die ihm Ken hinsichtlich Transport und Unterkunft bot, schien er kein weiteres Interesse an der Clique zu haben. Manchmal war Claire allerdings, als ob zwischen Marten und Ken eine ganz eigene Verbindung bestand. Sie sollte bald sehen, wie richtig sie mit ihrer Vermutung lag.

Sie waren gemeinsam für ein Wochenende nach Elands Bay gefahren. Die Bedingungen am Samstag waren nicht berauschend gewesen, und so hatten sie beschlossen, den Tag grillend auf ihrer Terrasse ausklingen zulassen. Vielleicht lag es daran, dass Claire den ersten und einzigen Joint ihres Lebens rauchte, vielleicht auch an der einen Rum-Cola zu viel. Jedenfalls lief sie später in der Nacht giggelnd über den Flur zu Kens Zimmer - das keiner von ihnen ohne direkte Einladung des Gastgebers jemals betrat. Berauscht setzte sie sich über das unausgesprochene Gesetz hinweg und schlich sich leise in den spärlich beleuchteten Raum. Der Anblick Martens, der mit gespreizten Beinen nackt vor dem ebenso unbekleideten Ken lag und sich mit geschlossenen Augen von ihm einen blasen ließ, ernüchterte Claire auf der Stelle. Eine lahme Entschuldigung stotternd, trat sie augenblicklich den Rückzug an, rannte in ihr Zimmer und raffte ihre Sachen zusammen. Dann verließ sie das Haus, bevor Ken sich etwas anziehen und ihr folgen konnte. Den Rest der Nacht verbrachte sie am kalten Strand, ehe sie am nächsten Tag einen Surfer fand, der sie mit zurück nach Kapstadt nahm. Ken sah sie nie wieder.

Die folgenden Tage heuchelte Claire ihrer Mutter eine Grippe vor, ließ sich krankschreiben und schloss sich in ihrem Zimmer ein. Sie war nicht wütend auf Ken, auch nicht moralisch entsetzt oder angeekelt. Vielleicht war sie sogar erleichtert zu wissen, dass Kens Ablehnung nicht mit ihr persönlich zusammenhing, sondern einzig mit der Tatsache, dass sie eine Frau war.

Dennoch fühlte sie sich traurig und leer. Ihr war bewusst, dass es für sie keinen Weg zurück in die Gang gab. Auch die Schule, insgesamt alles, was mit Ken zu tun hatte, war tabu. Da passte es gut, dass Cynthias Rückwanderungspläne in der Zwischenzeit weit gediehen waren. Für Claire stand fest: Sie würde mit ihrer Mutter fahren. Es kostete sie nicht viel Überredungskunst, und neun Wochen später reisten sie nach San Diego, zurück in Cynthias Heimat.

San Diego klang gut für Claire. Trotz der Wellen.

* * *

Bei dem Gedanken an die Wellen sinkt Claire versonnen zurück in ihren Flugzeugsitz. Sie kann es kaum erwarten, dem brausenden Schlag der Wogen am Mission Beach von morgen an wieder zuhören können.

Als die Räder auf der Rollbahn aufsetzen, reibt sich müde die juckenden Augen und ist froh, die beengte Kabine endlich verlassen zu können. Während sie über das riesige Flughafengelände zum Gate rollen, schaltet Claire ihr Mobiltelefon ein. Um sie herum ertönt ein eifriges Gepiepe und Gebrumme, mit dem all die Nachrichten auf den Telefonen ihrer Mitreisenden angekündigt werden. Auch ihr Gerät signalisiert mit einem leisen Klingeln, dass jemand eine Nachricht für sie hinterlassen hat. Eine SMS von Dave, der ihr für Montag geplantes Dinner auf morgen vorverlegen möchte.

Umso besser. Morgen ist ihr letzter Urlaubstag.

Mit einem Ruck stoppt die Maschine an ihrem Gate. In dem sofort entstehenden Gewusel und den sich klappernd öffnenden Gepäckfächern lehnt Claire den Kopf an die Lehne und gönnt sich einen letzten Moment der Ruhe.

Schon kurios, dass Dave sich ausgerechnet gemeldet hat, als sie in Kapstadt war. Da, wo es vor Jahren zwischen ihnen zu knistern begonnen hat. Sie betrachtet für eine Weile das Display ihres Mobiltelefons, dann bestätigt sie Dave den Termin per SMS, ohne jedoch etwas von ihrem Aufenthalt am Kap zu verraten. Dafür wird beim Essen noch genug Zeit bleiben.

Claires Gedanken schweifen ab in die Vergangenheit. Es war Ende 2005, als sie für zwei Monate in Simons Town bei einem Schulungsprojekt für die südafrikanische Küstenwache eingesetzt wurde, das ihr Arbeitgeber, die US Coast Guard, unterstützte. Natürlich bewarb sich Claire. Schließlich hatte sie in der Region die ersten fünfzehn Jahre ihres Lebens verbracht. Nach einigem Genörgel stellte sie Doug, ihr Boss, für das Projekt frei.

Beruflich wurde es eine entspannte Zeit. Es ging um die Einweisung in neue Sonar- und Radaranlagen, die die südafrikanische Küstenwache zur Aufrüstung ihrer Flotte von den Amerikanern gekauft hatte. Eine Technik, die auf den Booten der Coast Guard seit Jahren problemlos lief. Sie installierten das neue Equipment auf einem Marineschnellboot. Mit diesem fuhr Claire mehrmals die Woche in die False Bay, wo sie die Crews in der Handhabung des Geräts unterwies. Die Teams bestanden zum Großteil aus Marineoffizieren und Ausbildern, die im Anschluss die Schiffsbesatzungen der Küstenwache einarbeiten sollten. Alles Männer und Frauen also, die etwas von der Materie verstanden und Claire nicht durch pausenlose Fragerei nervten. Ein definitiver Pluspunkt. Ein weiterer war, dass sie ihr Programm meist bereits am frühen Nachmittag beenden konnten. Oft machte der Kapitän auf der Rückfahrt noch einen kleinen Abstecher in Richtung Gordons Bay. Claire stand dann meist an der Reling, ließ sich das Haar vom frischen Wind zerzausen und schaute auf die so vertraute Küstenlandschaft. Manchmal gesellten sich einige der Ausbilder auf eine Zigarette dazu und fragten sie über ihr zweites Leben in den Staaten aus. Es fiel ihnen schwer zu verstehen, warum sie ihr naturgewaltiges Heimatland verlassen hatte. Wobei sie zugeben mussten, dass Südkalifornien eine akzeptable zweite Wahl darstellte.

Anders als in der konzentrierten Arbeitsatmosphäre während der Schulungen war die Stimmung während dieses Teils der Tour stets gelöst. Es hätte nur gefehlt, dass sie Boote zum Wasserskifahren ausgesetzt hätten. So weit ging die Freizügigkeit allerdings nicht. Außerdem lag Claire nicht unbedingt daran, in Gewässern mit hungrigen Weißen Haien baden zu gehen.

Nach ihrer Rückkehr in den Hafen trank Claire meist noch einen Kaffee am Pier. Danach ging sie in ihr auf dem Stützpunkt gelegenes Appartement, wusch sich das Salz aus den Haaren und machte sich fertig zum Abendessen. Obwohl sie Zugang zu dem Offizierskasino hatte, ging sie immer in eine der an der Hauptstraße am Hafen gelegenen Pizzerien oder Fisch-Buden. Nach dem täglichen Überfluss an beruflichen Kontakten und Kommunikation sehnte sie sich abends vor allem nach einem: Ruhe. Noch mehr Gespräche über Funknetze und Schiffskennungen waren das Letzte, was sie beim Essen brauchen konnte. Wenn ihr danach war, fuhr sie auf ein abschließendes Bier nach Fish Hoek. Und dort, in Papa Jo’s Pub, traf sie eines Abends Dave.

Es war Mitte Dezember und Claire seit vier Wochen am Kap. Überall herrschte eine vorweihnachtliche Stimmung, und selbst Piet, der wortkarge Barmann bei Papa Jo, trug seine Weihnachtsmannmütze mit einem leicht verschmitzten Gesichtsausdruck.

Das ganze Gewese um Weihnachten war Claire reichlich egal. Es brachte ihr nichts, störte aber auch nicht. Vielmehr missfiel ihr, dass sie seit über vier Monaten solo war, und seit mindestens vier Wochen keinen Sex mehr gehabt hatte.

Etwas, dass sie ändern wollte. Die Kollegen waren für sie tabu. Unter keinen Umständen wollte sie sich dem Gerede aussetzen, wenn sie sich mit einem der Offiziere oder Ausbilder einließ. Und wie sie die in der Einheit gepflegte Kameradschaft einschätzte, würde genau dies sofort geschehen.

Also strich Claire an jenem Freitagabend ihren nachmittäglichen Kaffee und ging direkt in ihr Appartement. Dort nahm sie ein ausgiebiges Bad, rasierte sich einen Landing Strip in die Bikinizone, wo inzwischen ein ansehnlicher Busch gewachsen war, und machte sich dann auf die Suche nach halbwegs ansehnlicher Unterwäsche. Nicht, dass sie Rasur und Dessous übermäßige Bedeutung beimaß, aber Männer machte es an und verleitete sie so zu mehr als prüdem Blümchensex, selbst bei einem One-Night-Stand. Und das war ein Detail, dem Claire dann doch Beachtung schenkte.

Als Claire beim Pub eintraf, sah sie diesen umlagert von einer Horde Männer um die zwanzig - Studenten und die Besatzung einer am Nachmittag eingelaufenen Fregatte. Beide Gruppen, die leicht durch die stark divergierenden Haarschnitte zu unterscheiden waren, einte offensichtlich die Absicht, den Beginn des Wochenendes mit einem Höchstmaß an Alkohol zu feiern. Viel zu junges Publikum für Claires Geschmack. In jederlei Hinsicht. Immerhin schien der Betreiber des Pubs den Ansturm geahnt zu haben, denn neben der Tür war ein provisorischer Tresen errichtet worden, hinter dem zwei Angestellte kaum mit den Bierbestellungen nachkamen. Aus den über ihren Köpfen angebrachten Boxen schepperte eine Mischung aus Rock und Rap.

Vorsichtig schlängelte sich Claire durch die Menge und warf einen Blick in den Wirtsraum. Zu ihrer Erleichterung stellte sie fest, dass von dem draußen herrschenden Andrang noch nichts nach drinnen geschwappt war. Sie schaute sich um, sah drei Pärchen an zwei Tischen sitzen, dazu vier einzelne Typen mit jeweils gehörigem Abstand an der Bar verteilt. Der eine, wohl um die dreißig, muskulös und etwa einsachtzig groß, sah eindeutig am besten aus. Dieser eine war Dave.

Claire setzte sich neben ihn und bestellte ein Bier, welches sie in wenigen Zügen leerte. Mit einem knappen Wink in Richtung Barkeeper orderte sie daraufhin ein weiteres. Eine für Außenstehende eigenartig erscheinende Taktik, um das Interesse von Männern auf sich zu ziehen. Besonders, wenn man Claires vorhandene äußere Reize betrachtete. Nach ihrer Erfahrung ging es so allerdings schneller. Denn von sich aus angesprochen hätte sie Dave nicht, wenigstens nicht gleich.

Und das Ansprechen sollten schön die Männer übernehmen. Da war sie altmodisch.

Dave hatte die Szene stumm beobachtet. Daraufhin trank er seinen noch halb voll vor ihm stehenden Longdrink in ähnlicher Manier wie Claire aus, bestellte bei Piet einen Gin and Tonic und tat das, was Claire von ihm erwartete.

Der Abend verlief wie geplant. Er war ein charmanter, redegewandter Typ, und der Anblick seiner muskulösen, von dem eng anliegenden Poloshirt kaum verhüllten Oberarme verursachte ein vorfreudiges Kribbeln in Claires Unterleib. Nur als sie die Bar verließen, schien Dave kurz irritiert. Dabei hatte sie ihn bloß gefragt, ob er gern Sex mit ihr haben würde. Er fing sich jedoch schnell, und sie fuhren zusammen in seine Wohnung im benachbarten Kalk Bay.

Dort zeigte sich kurze Zeit später auf dem Esstisch, dass ihre kosmetischen Vorkehrungen zum erhofften hemmungslosen Ergebnis führen sollten. Und zu mehr: Im Laufe der Nacht liebten sie sich auf der Couch und schließlich bei einem schweißtreibenden, heftigen Ritt in seinem Bett.

Kaum hatte der erschöpfte Dave sich zur Seite gedreht, war er auch schon eingeschlafen. Behutsam stand Claire auf, sammelte ihre in der Wohnung verstreute Kleidung zusammen und zog sich an. Dann rief sie sich mit ihrem Handy ein Taxi.

Später, in ihrem eigenen Bett, nahm sie sich vor, Dave wieder anzurufen. Und so kam es, dass sich Claires fordernder Körper für den Rest ihres Aufenthalts nicht mehr über unbefriedigte Bedürfnisse beklagen musste.

* * *

Während Claire müde vor dem Flughafengebäude auf den Shuttle-Bus nach San Diego wartet, beschließt sie, ihn anzurufen, kramt ihr Telefon aus der Tasche und wählt seine Nummer. Nach dem zweiten Klingeln nimmt er ab.

„Madame! Schön, von dir zu hören.“

„Hey Dave. Alles gut?“

„Alles bestens, danke.“ Daves Bariton dröhnt in Claires Ohren einen Tick zu laut. Zu aufgedreht.

„Gibt’s doch ein Problem mit morgen?“

„Nein, ist sogar besser, weil…“

„Super. Muss übermorgen früh weg“, unterbricht er sie. „Halb acht? Komm einfach ins La Valencia.“

„La Valencia?“

„Mein Hotel in La Jolla. Ich warte an der Bar auf dich. Wir können dort was essen gehen. Ich lade dich ein.“

„Du wohnst in einem Hotel? Ich meine, bist du umgezogen?“

Dave zögert einen Moment. „Bloß temporär. Ich erklär’s dir morgen, okay? Muss jetzt los. Ich freu mich auf dich, Kleines.“

„Ich mich auch.“ Doch Dave hat bereits aufgelegt.

Nachdenklich verstaut Claire das Telefon wieder in der Tasche.

Seit wann wohnt Dave in einem Hotel? Und dann gleich das Valencia. Gibt es da überhaupt Zimmer unter fünfhundert Dollar?

Und seine Stimme. So überdreht.

Borderline

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