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5. Kapitel
ОглавлениеAuf wackligen Beinen steigt Claire aus dem Bus, als dieser nach zwei Stunden vor ihrer Wohnanlage am Sunset Cliffs Boulevard hält. Sie nimmt ihr Gepäck und schlurft nach Eingabe des Codes durch das stählerne Tor zu den Treppen. Es ist eine kühle Nacht, eigentlich zu kalt für August. Vor der Tür zu ihrem Appartement angelangt, sucht sie fluchend eine volle Minute in den Tiefen ihrer Reisetasche nach dem Schlüssel. Nachdem sie endlich in die Wohnung gelangt ist, lässt sie ihr Gepäck noch im Flur fallen und geht in den angrenzenden Wohnraum, um das Licht einzuschalten. Sie blickt sich um. Alles steht genau so aufgeräumt und leer da, wie sie es zwei Wochen zuvor verlassen hat. Sie fühlt sich wie die erste Besucherin eines für lange Zeit unbewohnten fremden Hauses. Gedankenverloren streicht sie über das beigefarbene Sofa und betrachtet missmutig den dünnen Staubfilm, der sich auf ihre Finger gelegt hat. Und dazu diese abgestandene Luft. Sie öffnet die Fenster, um das Appartement von dem muffigen Geruch zu befreien. Sofort dringt das vertraute Geräusch surrender Klimaanlagen vermischt mit dem heraufklingenden Straßenlärm von draußen an ihr Ohr. Etwas, das sie die Wohnung gleich ein wenig wohler, vertrauter empfinden lässt.
Claire geht ins Bad, duscht und cremt sich ein. Nur noch Zähneputzen, ein Nachthemd über und fertig für die Nacht. Ihre Vorfreude trübt sich, als sie im Schlafzimmer Matratze und Decke unbezogen vor sich liegen sieht. Leise fluchend wühlt sie in einer Kommode nach frischen Laken.
Als sie mit dem Beziehen fertig ist, lässt sie sich auf das gemachte Bett fallen, schaltet das Licht aus und schließt die Augen.
Aber obwohl sie müde und erschöpft ist, lässt sie der ersehnte Schlaf im Stich. Ihre Gedanken wandern zur Beerdigung ihres Vaters in Südafrika. Da ihre Mutter sich standhaft geweigert hatte, ihrem untreuen Ex-Ehemann die letzte Ehre zu erweisen, flog Claire allein ans Kap. Die Veranstaltung fand in großem Rahmen statt, locker achtzig Trauergäste. Ganz und gar nicht nach Claires Geschmack. Statt sich auf eine der vier vorderen, für die Familie reservierten Bänke zu setzen, nahm sie in einer der hinteren Reihen Platz. Von dort aus sah sie zum ersten Mal in ihrem Leben die zweite Frau ihres Vaters, Nele. Klein, von Trauer gebeugt und rundlich saß sie in der ersten Reihe. So ein ganz anderer Typ, verglichen mit ihrer Mutter. Eingerahmt wurde sie von zwei Männern in den Zwanzigern. Offensichtlich Peter und Greg, Claires Halbbrüder. Ansonsten erkannte Claire niemanden.
Nach der Hälfte des Gottesdienstes ertrug sie die Litanei nicht mehr, stand auf und ging nach draußen. Dort schnorrte sie von einem der wartenden Sargträger eine Zigarette und rauchte seit sehr langer Zeit wieder ein paar Züge.
Als die Zeremonie zu Ende war, kondolierte Claire am Ausgang unbeholfen Nele und ihren Söhnen. Am Begräbnis nahm sie nicht mehr teil, ging dafür am nächsten Tag auf den Friedhof zum Grab ihres Vaters. Aber auch da, wie schon am Tag zuvor, spürte sie statt Trauer nur eine tiefe Leere in sich. Hätte sie nicht bis zur Testamentseröffnung in Kimberley bleiben müssen, am liebsten wäre sie gleich wieder abgereist.
Dort wurde der ihr drei Tage später eröffnet, dass ihr Vater jedem seiner drei Kinder ein Anlagenpaket im Wert von einer Million Rand hinterließ. Überrascht, weniger von dem Geldsegen, als von der Tatsache, dass ihr Vater überhaupt an sie gedacht hatte, schüttelte sie Nele und ihren Halbbrüdern zum zweiten und wohl auch letzten Mal in ihrem Leben die Hand und reiste unverzüglich ab.
Für ein paar Tage fuhr sie nach Kapstadt zu den Orten ihrer Kindheit und Jugend. Immer auf der Suche nach etwas Fühlbarem. Aber ob in Constantia, vor dem Haus, in dem sie so viele Jahre gelebt hatten, oder in Camps Bay und Clifton: Sie fand es nicht. Sogar ihrer alten Highschool und den Plätzen, an den sie mit der Gang surfen gewesen war, stattete sie einen Besuch ab. Nichts. Nur als sie durch Simons Town fuhr, empfand sie so etwas wie Freude. Das aber lag an den nostalgischen Erinnerungen an die mit Dave dort verbrachten Stunden. So sehr sie die Schönheit der Kap-Region liebte, Claire war froh, als sie drei Tage später abreisen konnte.
* * *
Gerädert von unruhigem und jetlagbedingt viel zu früh geendetem Schlaf klettert Claire gegen halb sechs verkatert aus dem Bett. Unschlüssig geht sie in die Küche, trinkt ein paar Schluck Wasser aus dem Hahn. Dabei fallen ihr die in der Ecke stehenden Laufschuhe auf.
Während der ganzen Reise war sie vielleicht dreimal am Strand joggen, viel zu wenig für eine, die sonst bei Wind und Wetter draußen ist. Also schnappt sie die Schuhe, schlüpft in ihre Sportsachen und geht runter zu ihrem alten Chrysler Voyager. Ab zum Mission Beach.
Dort läuft sie im Schein der hinter den Bergen San Diegos aufgehenden Sonne ihre übliche Vier-Kilometer-Tour den verwaisten Strand hinauf und hinab, um dann in der Sandbar beim Ocean Walk ein ausgiebiges Frühstück zu bestellen.
Sie hat ihren Kindle dabei, doch statt den Roman weiterzulesen, schaut sie zerstreut Ben bei seiner Arbeit zu. Es ist noch nicht viel los, deshalb setzt sich der Kellner zwischen zwei Bestellungen kurz an ihren Tisch.
„Hey, länger nicht gesehen.“
„Ja, war verreist.“
„Wo denn?“
„Kapstadt.“
„Scharf.“ Jetzt ist sein Interesse geweckt.
„Und, warst du draußen?“
Draußen ist für Ben gleichbedeutend mit surfen. Außer dem Job und Schlaf scheint es für ihn nichts anderes zu geben. Und beides gehört auch irgendwie zum Surfen dazu. Der Job, um zu reisen und Boards zu finanzieren, und der Schlaf, um fit für die nächste Session zu sein.
Claire muss lachen, denn sie ahnt, was kommt. Seit sie ihn kennt, seit ein paar Jahren also, versucht er immer wieder, sie zu ein paar Wellen zu überreden. Und das bloß, weil sie ihm in einem schwachen Moment von ihrer kurzen Karriere auf dem Board erzählt hat.
„Ben, das Wasser ist viel zu kalt da unten!“
„Ach“, abwehrend hebt er die Hand, um grinsend fortzufahren.
„Schlechte Ausrede, Madame. Außerdem, wenn’s dir da zu kalt ist, probier’s doch mal hier.“ Zur Verdeutlichung zeigt Ben mit dem Daumen auf den Strand in seinem Rücken.
Sie schüttelt lächelnd den Kopf, nimmt einen Schluck Kaffee und zeigt auf ein Pärchen, das den Laden betreten und sich an einen freien Tisch unter der Markise gesetzt hat.
Ben dreht sich um. „Ups, Kundschaft.“ Er hebt entschuldigend die Arme, setzt seine Hi-how-you’re-doing-Miene auf und geht mit zwei Karten in der Hand zu den neuen Gästen.
Er lässt Claire allein mit ihren Gedanken über Dave zurück.
Was bitte hat ihn in ein derart teures Hotel nach La Jolla verschlagen? Dave, der mit seinem Unternehmen knapp über die Runden kommt. Dessen Einnahmen gerade mal für einen kleinen gemieteten Bungalow jenseits von Mira Mesa reichen und der die Leasingraten für das kleine Schiff mühsam abstottert. Claire ist sich sicher, er wird es ihr sicher nachher verraten.
* * *
„Wie, weg?“
„Verschwunden halt. Seit gestern ist er nicht mehr im Büro, und als ich ihn vorhin am Telefon hatte, klang er so merkwürdig“, plärrt Pablos Stimme aus der Freisprechanlage.
„Wie meinst du das?“ Ungeduldig trommelt Diego mit seinen Fingern eine Mariachi-Melodie auf das Lenkrad, während er den Escalade durch den stockenden Morgenverkehr in Richtung Balboa Park lenkt.
„Na, nervös. Dabei wollte ich ihm bloß die restlichen Zehntausend vorbeibringen. Wollte er aber nicht.“
Diegos Argwohn ist schlagartig geweckt. „Dave wollte das Geld nicht?“
„Richtig. Also, er meinte, wir könnten das genauso gut nächste Woche regeln.“
„Der Dave?“
„Genau. Bin dann zu ihm ins Büro. Er war aber nicht da. Ist auch nicht ans Handy gegangen. Dachte dann, ich fahr mal zu seiner Wohnung.“
„Und?“
„Niemand zu Hause. Da bin ich halt rein. Und das solltest du dir ansehen.“
„Was?“
„Schau es dir selbst an. Bad News, das kann ich dir sagen.“
„Ich bin in einer Viertelstunde da.“ An der nächsten Kreuzung wendet Diego den SUV und rast mit einem mulmigen Gefühl in Richtung Mira Mesa.
* * *
Kaum ist Claire zurück in der Wohnung, nimmt sie Lappen und Eimer und macht sich daran, den Staub aus der Wohnung zu putzen. Nicht gerade eine Tätigkeit, die für sie zu mein perfekter freier Tag gehört.
Einige Stunden und eine gelieferte Pizza später ist jedoch aller Schmutz verjagt und Claire steht rätselnd vor ihrem geöffneten Kleiderschrank. Die ewig wiederkehrende Frage: Was soll sie anziehen? Logisch, dass angesichts der noblen Adresse Flip Flops und abgeschnittene Jeans ausfallen. Dann das blaurot gemusterte Jerseykleidchen? Zu sehr erstes Date.
Also die konservative Variante: schmal geschnittene, dunkelblaue Jeans und eine anliegende, aber nicht zu enge sandfarbene Bluse. Dazu graue Ledermokassins.
Gut gelaunt hüpft sie unter die Dusche, frisiert die Haare und legt ein dezentes Make-up auf. Beim Blick auf die Uhr zuckt sie zusammen. Noch nicht mal halb sechs. Sie versucht, Dave zu erreichen. Vielleicht hat er schon früher Zeit? Erfolglos, sein Handy ist aus.
Fertig zurechtgemacht legt sie sich auf die Couch, schaltet den Fernseher ein und zappt sich gelangweilt durch die Sender. Doch anstatt sich auf das Programm zu konzentrieren, schweifen ihre Gedanken immer wieder zu Dave und ihrem bevorstehenden Date. Was sie wohl empfinden wird, wenn sie ihn nachher trifft?
* * *
Pablo führt Diego in die Küche und zeigt mit grimmiger Miene auf eine auf den Fliesen liegende Palette der Firma Coca-Cola.
Sie ist leer, doch um sie herum liegen zahllose Dosen verstreut. Mit dem Fuß tritt Pablo in den Haufen. Hohl scheppernd rutschen die Blechbüchsen über den glatten Bodenbelag. Leise fluchend bückt sich Diego nach der Verpackung. Der Karton ist aufgequollen und an den Ecken ausgefranst.
Fast so, als wenn er eine ganze Weile im Wasser gelegen hätte.
Diego ballt frustriert die Faust. Dave, diese kleine Ratte!
„Immerhin wissen wir, dass er die Ladung hat.“
Pablo nickt grimmig und verschwindet dann in die hinteren Räume, während Diego die Verpackung zu Boden fallen lässt und sich umschaut. Am Kühlschrank klebt eine Reihe von Fotos, mit Magneten an die Tür gepinnt. Dave auf seinem Boot, mit anderen Männern lachend in einer Kneipe, ein älteres Motiv mit ihm und einer Frau am Strand. Dann Dave mit einer Frau am Pier in Ocean Beach. Dieselbe Frau, eine Uniform der Küstenwache tragend, lachend an Steuer eines Zodiacs. Diego schaut genauer hin. Auf allen drei Bildern dieselbe Frau. Ist Dave also doch nicht der Single, für der er sich ausgegeben hat? Diego könnte es gut verstehen. Hübsch ist sie jedenfalls.
Neben den Fotos kleben einige Post-its mit Notizen zu Einkäufen, Verabredungen und Handytarifen. Mit prüfendem Blick überfliegt Diego die Liste, bis sein Blick an einem Eintrag haften bleibt.
Claire, Mon. 19.30
La Valencia
Diego zieht den Zettel mit einem Ruck vom Kühlschrank.
„Sonst noch was?“
Der in die Küche zurückgekehrte Pablo stemmt kopfschüttelnd die Hände in die Hüften. „Seine Sachen aus dem Bad sind verschwunden. Rasierer, Zahnbürste, Deo und so. Scheint abgehauen zu sein.“
„Laptop, Telefon?“
„Nein, nur das da.“ Mit einem Kopfnicken zeigt Pablo in das Wohnzimmer, wo ein Computer neben dem am Fenster positionierten Schreibtisch steht. „Hab ihn eben angemacht. Seine Mail-Accounts und Dokumentenordner sind passwortgeschützt.“
„Kommst du denn in die Kontakte?“
Pablo geht zum Tisch und greift nach der Mouse. Diego folgt ihm und schaut ihm über die Schulter, als er das ungeschützte Adressbuch öffnet. „Such nach einer Claire.“
Neugierig schaut er auf den Bildschirm, während Pablo den Namen eintippt. Es erscheinen zwei Einträge, einer davon mit einer Auslandsvorwahl. Die andere Nummer notiert Diego auf dem Post-it.
„Gibt’s auch eine Adresse?“
„Nope. Sind bloß Telefoneinträge gespeichert.“
„Okay.“
Er greift nach seinem Handy und tippt die Nummer ein.
* * *
Ihr Telefon klingelt. Sicher Dave.
„Hallo?“
Stille. Als niemand antwortet, versucht sie es erneut.
„Hallo? Dave?“
Noch immer Schweigen. Die Leitung ist aber nicht tot, denn sie hört deutlich die Atemgeräusche des Anrufers.
Verunsichert blickt sie auf das Display. Anonymer Anruf.
Sie drückt ihn weg.
* * *
Nachdenklich betrachtet Diego das Display seines Handys, schaut noch einmal auf den Zettel. Dann geht er zum Kühlschrank, nimmt das Foto der Frau in Uniform von der Tür und steckt es ein.