Читать книгу Der Nekromant und das Mädchen - Frank Hinz - Страница 9

Augenweiden

Оглавление

»Ein tiefer Fall führt oft zu hohem Glück.«

Brandon »Bran« Stark

Wenn man so jung wie Heidi war, dann war das Leben eine einzige Entdeckungsreise und jeder Tag der Beginn ei­nes neuen spannenden Abenteuers. Das Problem mit Abenteuern ist allerdings, dass man nie im Voraus weiß, welchen Verlauf sie nehmen werden …

Recht früh kam Heidi zu der Erkenntnis, dass es keine besonders kluge Entscheidung war, den Schlaf­platz im Beschwörungsraum zu platzieren. Immer, wenn sie nachts aufwachte, weil es blitzte und don­nerte, wusste sie zunächst nicht, ob sich das Unwetter inner- oder außerhalb des Magierturms befand. Aber nach einiger Zeit gewöhnte sie sich auch daran.

Die meiste Zeit befand sich das Kind ohnehin außerhalb des Turmes, zumindest immer dann, wenn es das Wetter oder ihr Großvater erlaubte.

Obwohl man annehmen sollte, dass ein düsterer Wald voller Gefahren kein idealer Spielplatz für ein Kind sei, fand Heidi erstaunlich viele Beschäftigungsmöglichkeiten. Sie freundete sich mit Ho­gro, einem jungen, geistig zurückge­bliebenen Halbling an, dessen Aufgabe es war, Botengänge 3 zwischen seiner Großmutter (einer Kräuterhexe, die in ihrer Hütte am anderen Ende des Mittwaldes wohnte), dem alten Weeno und den Dorfbewohnern, zu erledigen 4 . Der gutmütige Hogro war zwar drei Jahre älter als Heidi, aber er reichte ihr dennoch nur bis zum Kinn.

Als die beiden Kinder eines Tages auf dem Weg ins Dorf waren, um dort einen Käfig mit einem bestell­ten Beleidigungs-Homunkulus abzuliefern, bemerkte Heidi in einer Lichtung zwei merkwürdig ge­formte Felsen.

»Die beiden großen Steine da sehen aus wie Trolle!«, stellte das Mädchen fest, »Aber das kann nicht sein. Großvater hat gesagt, hier in der Gegend wurden alle Trolle von einer bösen Hexe 5 vertrieben.«

»Übernatürliche Wesen wie Trolle gibt es nicht, du blöde Dumpfbacke!«, erwiderte der übernatürlich erzeugte Beleidungs-Homunkulus.

»Hogro«, erwiderte Hogro. 6

Um die etwa drei Meter großen Felsen näher zu untersuchen, kletterte Heidi auf den kleineren der bei­den.

»Dich werde ich ›Schwänli‹ nennen, denn du bist etwas heller als dein Freund, den ich ›Bärli‹ tau­fen werde, denn sein Bauch ist so rund wie der eines niedlichen Waschbären.«

Die Oberseite von Schwänli, ihres neuen mineralischen Freundes, war schön flach, sodass Heidi auf dem Rücken liegend einige Zeit gen Himmel schaute. Hogro saß derweil auf einem Holzstumpf und zerquetschte Käfer mit einem Stein. Der Käfig mitsamt seinem Bewohner befand sich direkt ne­ben ihm.

Zur gleichen Zeit flog ein Greif über den Mitternachts­forst und bemerkte unter sich einen dunklen Fleck auf einer sonderbaren hellen Fläche, der sich bewegte und wie Nah­rung aussah.

»Dich werde ich gleich ›Sumpfralle‹ nennen, wenn wir nicht umgehend weitergehen!«, meckerte der Beleidigungs-Hom­unkulus nach einer Weile.

»Hogro!«, rief Hogro zustimmend.

»Na schön«, grummelte Heidi widerwillig. Sie hätte gerne mehr Zeit auf dem Felsen verbracht, um den großen, sehr sonderbaren Vogel mit dem Löwenkörper, der maje­stätisch über ihr kreiste, zu beobachten. Je­doch sah sie ein, dass den beiden/dreien noch ein langer Weg bevorstand, die Sonne stand schon recht niedrig am Horizont. Natürlich musste sie dem Felsen noch einen selbst geflochtenen Blumenkranz, den sie aus der Tasche ihres Kleidchens zog, auf seinen »Kopf« legen und den Teil des Felsens, der wie eine Stirn aussah, küssen, aber dann begann sie, vorsichtig hin­unterzuklettern.

Der Greif setzte zum Sturzflug an. Diesen Leckerbissen konnte er sich nicht entgehen lassen. Ein saftiges Men­schenkind! Geifer tropfte aus seinem Schnabel. Die Krallen seiner Vorderläufe fuhr er aus.

»Ich bin aufm’ Weg! Huuuiiiiiiii!«, rief das Mädchen, während sie auf einem Felsvorsprung, der wie ein Arm aussah, hinunterrutschte. »Ich hab’ dich lieb’, Schwänli! Tschüss, Bärli!«

»Hogro«, sagte Hogro, um die Situation allgemeinver­ständlich zusammenzufassen.

Der Greif fixierte sich gänzlich auf den kleinen Menschen auf der hellen Fläche. Pfeilschnell flog er auf ihn zu. War die helle Fläche eine Erhebung? Ein Fels etwa? Nein, das kann nicht sein, es wachsen ja Blumen in einem kleinen Kreis auf diesem hellen … Fleck. Er war kurz irritiert, seine Augen tränten leicht, und er passte seine Geschwindigkeit und den Eintrittswinkel an.

Nun kletterte Heidi langsam den Felsvorsprung hinunter.

»Wird auch Zeit, du abartige Pestratte! Troll dich!«, meinte der meckernde Käfigbewohner.

Mit einem lauten Knall, der von einem kurzen, ohrenbe­täubenden Schrei begleitet wurde, zerschellte der Greif auf dem Felsen.

Heidi war noch nie in ihrem kurzen Leben so erschrocken gewesen. Sie konnte nicht begreifen, was gerade hinter ihrem Rücken geschah. Um sie herum lagen die Fleisch­fetzen, Fellreste, zersplitterte Knochen und das Gefieder einer ihr unbekannten Kreatur. Voller Panik lief sie davon. Sie wäre jetzt gerne wieder bei ihrem Großvater in Sicher­heit gewesen, aber ihr Pflichtbewusstsein war stärker als ihre Angst, sodass sie schnell Richtung Dorf lief, gemeinsam mit ihrem Freund, der die ganze Zeit nur »Hogro! Hogro! Hogro!« stammelte und natürlich dem Beleidigungs-Homunkulus, der in seinem Käfig kräftig durchgeschüttelt wurde und – so wie es seine Bestimmung war – unflätig schimpfte.

(Bei den beiden Felsen, die Heidi so sehr faszinierten, handelte es sich tatsächlich um Trolle. Die bei­den Jungtrolle »Gnarf der Zerfetzer« und »Bloto der Bärenschänder« wetteten einst auf dem Heimweg nach einem Rockkonzert, wer von ihnen länger in der Morgensonne verweilen könne – ohne sich gänz­lich in massives Gestein zu verwandeln. Sie warteten gemeinsam auf die ersten Sonnenstrahlen und … Nun ja, die Wette endete mit einem Unentschieden.)

3Der jahrelange Transport von magischen Schriftrollen mit Pestflüchen, Unglückszaubern und (Zer-)Störungs­sprüchen sowie mit Krankheitserregern gefüllte Hexenbeutel, hatte ebenfalls seine Spuren bei ihm hinterlas­sen.

4Seine Hauptaufgabe bestand allerdings im Sammeln von Wiedkraut, eines sehr beliebten Rauschmittels, dass sowohl Weeno als auch seine Großmutter genüsslich in ihren Pfeifen rauchten.

5Hogros Großmutter

6Seit eines tragischen, magischen Unfalles in seiner früheren Kindheit konnte er nur dieses eine Wort sagen.

Der Nekromant und das Mädchen

Подняться наверх