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Theoretische Ergänzung 6

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Yontefs kritische Anmerkung wendet sich u. a. gegen ein individualistisches Missverständnis von Emotionalität, das in jener Zeit weit verbreitet war und kaum infrage gestellt wurde. »In der gestalttherapeutischen Literatur haben die Gefühle zunächst eine weit geringere Betonung erfahren, als es ihrer großen Bedeutung in der gestalttherapeutischen Praxis entsprochen hätte,« wie Hans Peter Dreitzel (1995, 494) schon vor einiger Zeit richtig feststellte, ohne dass sich seither an dem beschriebenen Sachverhalt Wesentliches geändert hätte – abgesehen vielleicht von den wertvollen Beiträgen Leslie Greenbergs (vgl. Greenberg 2002; 2011; Greenberg, Rice & Elliott 1993; Greenberg & Safran 1987; vgl. auch Gegenfurtner & Fresser-Kuby 200722), der sich allerdings nicht eindeutig als Gestalttherapeut identifiziert.

Zu Zeiten der ›boom-boom-boom‹ therapy – und bisweilen heute noch – konnte man als Beobachter leicht den Eindruck gewinnen, die Therapeuten verhielten sich wie Animateure, die sich auf jedes Gefühl ihrer Klientinnen in der Absicht stürzten, ihm zu möglichst großer Intensität und Ausdrucksstärke zu verhelfen, dabei möglichst beeindruckende kathartische Effekte zu erzielen und selbst als möglichst geniale Regisseure eines die Zuschauer bewegenden Schauspiels in Erscheinung zu treten.

Die Wirkungen eines solchen Vorgehens gingen oft nicht über die der unmittelbaren Show hinaus, und wenn doch, dann brachten sie häufig eine Reihe von Nebenwirkungen mit sich, die kaum reflektiert wurden. Worum es mir an dieser Stelle aber hauptsächlich geht, ist das implizite Verständnis menschlicher Emotionalität, das sich in diesen Situationen zeigte und ausgeprägte Züge einer Eine-Person-Psychologie trug: Gefühle galten hier als Prozesse ›im‹ Klienten, die dieser so deutlich wie möglich ›in sich‹ spüren sollte – bis sie eine Heftigkeit erreicht hatten, die den Wunsch entstehen ließen, sie nunmehr wieder ›loszuwerden‹.

Dieses kathartische Modell, das im Umgang mit Aggressionen besonders drastisch praktiziert wurde (zur Kritik vgl. Staemmler & Staemmler 2008), hatte Perls von Wilhelm Reich und anderen frühen Analytikern übernommen.23 Es bestand in der Vorstellung einer Abfolge von Aufladung mit Triebenergie und deren Entladung, die ihren sprachlichen Tiefpunkt in der Vokabel von der ›Abfuhr‹ ›gestauter‹ Affekte fand, so als seien Emotionen zu entsorgendes Material oder Obstipationen von Verdauungsprodukten, die ›abzuführen‹ seien. – Wie meine tendenziell polemischen Formulierungen schon andeuten sollen, halte ich dieses Denkmodell nicht für überzeugend.

Gefühle sind weder Abfall noch Luxus. »Wir brauchen sie, wenn wir anderen Menschen Bedeutungen mitteilen wollen, und vielleicht sind sie auch … zur Orientierung unserer kognitiven Prozesse erforderlich« (Damasio 1997, 181 f.). Perls et al. definierten Emotionen ursprünglich als »die integrierte Bewußtheit einer Beziehung zwischen Organismus und Umwelt« (1951/2006, 257 – H.d.V.), womit die Relationalität von Gefühlen angesprochen war. Während Perls’ Esalen-Stil den kathartischen Ausdruck von Emotionen in den Vordergrund rückte, ging der oben erwähnte Leslie Greenberg deutlich darüber hinaus, als er die Notwendigkeit betonte, dass es in der therapeutischen Praxis darum gehe,

– Emotionen zuzulassen und zu akzeptieren, um der Informationen willen, die sie liefern, und nicht so sehr zum Zweck der kathartischen Wiederholung von emotionalem Ausdruck mit dem Ziel, Emotionen loszuwerden,

– einen Fokus auf Prozesse der Selbstunterbrechung, die die Bemühungen des Klienten behindern, Zugang zu seinen Emotionen zu bekommen,

– Zugang zu neuen Emotionen, um alte Emotionen zu verändern, und

– das Symbolisieren von und Nachdenken über Emotionen, um neue Narrative entstehen zu lassen. (2011, 12 f.)

Aus relationaler Perspektive könnte man noch etwas weitergehen und Emotionen präziser als verdichtete, dem Bewusstsein schnell zugängliche und Energie mobilisierende Erlebnisse von Bedeutungen verstehen, die ein Mensch einer aktuellen Beziehungssituation zuweist und mit deren Ausdruck er den anderen an der Situation Beteiligten diese Bedeutungen mitteilt. Damit sind Emotionen interaktive Ereignisse, die der zwischenmenschlichen Kommunikation, Verständigung, Handlung und Koregulation dienen. Menschen zielen mit ihren Gefühlen (und auch mit deren Intensität) auf Resonanz bei ihrem Gegenüber ab, d. h. sie wollen, dass ihre Emotionen wahrgenommen, verstanden und emotional beantwortet24 (nicht einfach nur ›abgeführt‹) werden.

Selbstverständlich ist all das im Kontext eines individualistischen Zeitgeists zu verstehen, der nicht nur in gestalttherapeutischen Kreisen wirksam war. Dieser Zeitgeist – wie es ja oft im Verlauf der Geschichte der Fall ist – schwang wie ein Pendel auf die individualistische Seite, nachdem über viele schreckliche Jahre hinweg faschistische Massenhysterie und stalinistischer Kollektivismus die Würde und die Rechte des Einzelnen ignoriert und unvorstellbares Leid über Millionen von Menschen auf der ganzen Welt gebracht hatten.

Parallel zur Version der Gestalttherapie von Fritz Perls praktizierte seine Frau Lore einen anderen Stil. »Es lag ihr im Blut, ›dialogischer‹ zu sein als Fritz, was vielleicht eine Folge ihrer Begegnung mit Buber war, vielleicht aber auch das, was sie anfänglich zu Buber hingezogen hatte,« meint Lynne Jacobs (persönliche Mitteilung, 13.1.2016).25 In zahlreichen autobiografischen Bemerkungen betonte Lore Perls, dass Martin Buber und Paul Tillich »influenced me more than any psychologist« (1989, 178 – H.i.O., englisch im Original). Dabei scheint mir bemerkenswert, dass sie den Einfluss, den Buber und Tillich auf sie ausgeübt hatten, den persönlichen Eindrücken zuschrieb, die sie von diesen Philosophen in Frankfurt am Main vor dem Zweiten Weltkrieg gewonnen hatte. Sie bezog sich nicht primär auf deren Schriften:

Ich muss sagen, dass mein therapeutischer Stil eher von Paul Tillich und Martin Buber geprägt ist. Diese beiden haben mich stärker beeinflusst als sämtliche Analytiker und Psychologen. … Was bei Tillich und Buber so wichtig war, das war die Unmittelbarkeit ihrer Art zu kommunizieren. Sie hielten dir keine Vorträge, sondern sprachen direkt zu dir – aus einer Quelle in ihrem Inneren. … Ihre respektvolle Haltung gegenüber anderen Menschen machte einen tiefen Eindruck auf mich. (in Perls & Rosenblatt 2005, 157, 168 – H.d.V.)

In ähnlicher Weise hatte Lore Perls’ dialogischerer Stil seinerseits wiederum mehr Einfluss auf folgende Generationen von Gestalttherapeutinnen durch die persönlichen Eindrücke, die diese aus der Arbeit mit ihr gewannen, und nicht primär durch Lores Schriften. Das hängt natürlich mit der Tatsache zusammen, dass Lores Beitrag zu Gestalt Therapy kaum zu identifizieren ist und sie in ihren eigenen Publikationen in späteren Jahren weder eine Theorie des Dialogs noch der therapeutischen Beziehung formulierte. Aber die Art des Kontakts, den sie ihren Patienten und Schülerinnen anbot, hinterließ einen dauerhaften Eindruck bei denen, die sich ihrer Präsenz ausgesetzt hatten.

So ist alles in allem festzustellen: Trotz Lore Perls’ Einfluss als tendenziell dialogisches Vorbild und trotz gelegentlicher Nennungen der Formel »Ich-Du« (vgl. z. B. Perls & Levitsky 1980, 194 f.; Simkin 1994, 68 f.) sowie seltener Buber-Zitationen (vgl. z. B. Polster & Polster 1975, 101) fand innerhalb der gestalttherapeutischen Szene vor dem Ende der 1970er Jahre kein bekannt gewordener Versuch statt, ein substanzielles theoretisches Verständnis der Qualität und der Bedeutung der therapeutischen Beziehung oder eine relational orientierte therapeutische Praxis zu entwickeln, die von einem entsprechenden theoretischen Verständnis getragen gewesen wäre.

Relationalität in der Gestalttherapie

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