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1 Mica

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„Nein!“. Mit endgültiger Schärfe und als glatter Schnitt, durchtrennt das Wort, Micas Traum. Sein Blick versucht das Fenster zu schließen. Unter der Decke hält ihn wohlige Wärme zurück, die Lider noch beschwert vom Schlaf, vom Bistro unter den Platanen und vom gleichmäßigen Fluss selbstverständlicher Freiheit. Könnte er Träume kontrollieren, würde er ihnen verbieten in die südfranzösische Stadt zu reisen, hin zu Leben, zu Essen, in die mit unerschütterlicher Verliebtheit gesättigte Luft, durchdrungen vom kräftigen Knoblauchgeruch der moules marinières, leichtsinnig treibend, gedankenlos in schattig heißem Schweben. Er kann sie riechen, ihren Körper, die verwehenden Aromen der warmen Nacht. Im Regal versteckt sich sein abgeschriebenes Rezept, zerfleddert, in die Jahre gekommenes Relikt. Liebe traf Nahrung, besteckloser, sorgenfreier Geschmack, das kommende Treiben der Lebemenschen erahnend, Skizze in eine tiefstehende Sonne gemalt. Die Gegenwart fröstelt, Gleichgültigkeit stellt sich den Kragen. Es genügt nicht, einfach nur zu sein. Verharrende Momente sind keine Momente, werden Körper. Eingenistet als ewiges Vermächtnis, erreichen kleinste Gesten ihre Bestimmung. Der warme Fluss gelebter Empfindung brennt irreversibel Erinnerungen in ihn, schlägt Kerben in Stahl und verewigt sich als Algorithmus. Vergeblich sucht er nach der Delete-Taste, wühlt unmotiviert und schläfrig in den Ratschlägen seiner Vernunft. Nach-vorn-denken bleibt ihm versagt. Tief vergraben ruht der Schlüssel zur Sorglosigkeit im verblassten Leben seiner Vergangenheit. Selbstschutz und Überlebenstrieb befehlen ihm ein Einmauern seiner gelebten Träume, dazu verurteilt, die Höhepunkte der Vergangenheit zu vergessen. Ihre Schönheit zerfetzt seine Seele, vergiftet sein Blut. Täglich. Sekündlich. Die Nässe eines dunkelkalten Schwefelnebels durchdringt Organe und zerfrisst seine Gefäße. Der Blick zurück ist reiner Schmerz. Er will vergessen, vernichten. Restlos. Zerrissenheit quält und spaltet ihn. Konstant kreisende Gedanken zersetzen Klarheit im Ansatz. Hoch und kantig türmt sich der Berg aus Scherben, kleinteilig, rasiermesserscharf und unwiderruflich zerbrochen. Mica springt hinein, umarmt, drückt sie, liebkost, hält sich fest, wühlt nach darin vergrabenen Jahren und fühlt dumpf die neuen Schnitte. Sein frisches Blut lackiert die Scherben, übermalt Zerstörung, zerläuft, tief glänzend, hellt auf, tropft. Eiterfarbenes Plasma übermattet brechende Spiegelungen. Er wendet sich ab, sein Verstand setzt sich zur Wehr. Hoch über dem Horizont leuchtet Vergessen. Eine letzte Chance verfestigt sich zur Pflicht.

Das Erbe

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