Читать книгу Das Erbe - Frank Merck - Страница 8

4

Оглавление

Ausgehbereit angezogen, drückt Mica, gewohnheitsgemäß dreimal zu viel, auf den Zerstäuber des Flacons und stellt es auf die beige geflieste Ablage zurück. Der Glaskörper vermittelt ihm Ehrlichkeit, transparente Ästhetik von bleibendem Wert. Endgültig, ewig gleich, Gegensatz des Lebens. Sein Beruf gestattet ihm den Umgang mit Formen. Er versank gerne in gestalttheoretischen Gedanken, mit Adorno könnte er sich aber nicht einigen. Beachtenswerte Zeit hatte er in willkürlich ausgewählte Passagen der Ästhetik-Theorie investiert. Gerade so viel, dass er verstehen und widersprechen konnte. Gestalterisch verfolgt er eigene Ziele. Sein Anliegen sind Träume. Er fühlt er sich berufen, Phantasien zu bauen. Fremde Phantasien. Meist jedoch, muss kreative Entfaltung sachlichem Abarbeiten weichen. Oberflächlicher Zeitgeist der Kunden, auf Effizienz gepulste Schnelllebigkeit und bürokratische Engstirnigkeit, halten ihn am Boden zurück. Berufliche Beweispflichten liegen hinter ihm. Prioritäten setzt er sich selbst. Selbstherrlich präsentieren sich Architekturen und Innenräume, als Teil des feudalen Systems. Gepriesen von Kritikern, angebetet von Studenten und Jungberuflern erheben sie sich in die Himmel der Architekturgötter. Mica langweilen sie mit Phantasielosigkeit und Tristesse. Teilnahmslos blickt er auf die, um Applaus bettelnden Bauwerke ihre explosionsartige Vermehrung. Finanzstarke Unruhegeister fordern in kürzer werdenden Abständen, Prestigebauten und Erlebnisatmosphären. Konsum vertilgt eine unabhängige Kultur als Vorspeise. Angewidert blickt er auf die Stars der Architektengemeinde, auf die Sklaven der Ökonomie. Zunehmende Forderungen der Freizeitindustrie nach neuen Spielwiesen und Investitionsmöglichkeiten verformen die Welt zu einer Fratze. Hinter urbanen Gärten und begrünten Fassaden halten Planer mit pseudo-ökologischem Anspruch den Kapitalismus in Gang. Wo bleibt ihre Auflehnung, ihre Freiheit, ihr Selbstbewusstsein. Wo verstecken sich Einfachheit, Visionen und Respekt. Millionen pilgern in Gaudis Barcelona, weil es anders ist. Frei, selbstbewusst, geträumt. Immergleiche Städte, identische Gebäude, CI-geprägte Stadtbilder, geklonte Menschen. Die Einfallslosigkeit präsentiert sich global. Unabhängige Geister mit Mut, Rückgrat und Risikobereitschaft erhalten statt Unterstützung, Anerkennung und Achtung, eine niederschmetternde Klatsche von Presse, Politik und Wirtschaft. Mutige Ideen, progressives Denken und intelligente Lösungsansätze werden im Keim erstickt, Zusammenarbeit und gemeinsame Ziele einem rechthaberischen Egoismus geopfert. Zerredet. Ausschüsse, Unterausschüsse und Gremien zerreiben Zukunft zu Staub. Die Alternativen heißen Systemkonformität oder Totalverweigerung. Die Intelligenz wählte die Flucht. Sie versteckt sich vor der Dummheit und schämt sich ihres Stolzes. Zur Salzsäule erstarrt, blickt sie ängstlich und zurückgezogen auf die zunehmende Destruktion. Die eindimensionale Feudalgesellschaft nistet in allen Bereichen. Hell überstrahlt ihre nicht mehr beherrschbare Struktur aus diktatorischen, machthungrigen und unersättlichen Monopolunternehmen die Gegenwart. Einzelne Hilferufe der Ausgebeuteten verhallen ungehört im euphorischen Gelächter. Mit Blindheit bestraft, akzeptiert die Gesellschaft Gefangene und Heimatlose. Unsere Es-ging-uns-noch-nie-besser-Welt basiert auf Ausbeutung. Mica nimmt Parallelen zum Mittelalter wahr, kann wenig Unterschiede zwischen Feudalherr und Aufsichtsrat, Bauer und Leiharbeiter erkennen. Viele arbeiten, um ein paar wenigen das Herrschen, Kontrollieren und Bereichern zu ermöglichen. Eine, für das 21. Jahrhundert, unangemessene Lebensform. Eine Zeit in der uns Hilfen, wie künstliche Intelligenz, Roboter und globale Information zur Verfügung stehen, sollte sich ausgeglichener und entspannter gestalten. Die eindimensionale Konferenzkultur liegt ausgebreitet über dem Globus. Zu richtungsweisenden Lösungen unfähig, feiern wir das Fest der beratenden Millionäre. Unfähig, schüchtern, feige, kleinlaut und spießig, treibt eine realistische Selbsteinschätzung Mica in trostlose Resignation, wie die meisten. Erkenntnis, Kritik und Gemotze hat er mit unzähligen Stammtischgenossen gemeinsam. Aufstehen. Handeln. Es ist möglich.

Die Wolken durchbrechende Abendsonne zieht seinen Blick durchs schmucklose Fenster. Er unterbricht das Schreiben und wählt zielstrebig seine grauen Schuhe. Die knarrende Treppe hinter sich, tritt er zwischen golden beleuchtete Fachwerk-Fassaden. Frauke hat zurückgeschrieben, er würde nicht nerven. Wärme fehlt. Ihm, Europa, der Welt. Um den Alltag wieder lebbar zu machen, läuft er die paar Schritte zur Bank. Knete kommt von kneten, formen. Die Gestaltungsfähigkeit des Geldes übertrifft jeden Designer, prägt das Aussehen von Gesellschaft, Städten, Kontinenten, von Menschen und Charaktern. Das meiste wird Mica für unnützen Ballast ausgeben, für gesellschaftliche Zwänge. Der Versuch, damit sein verhärtetes Gesicht zu glätten, endet meist kläglich. Er sucht Veränderung, einen weiterführenden Handlungsstrang. Nicht bereit zu langweilen, beschließt er einen Ausbruch.

Wie sieht's mit eurer Küche aus. Bestellt ist sie. Wir haben uns aber nicht für Hochglanz entschieden. Gestern waren wir bei Frieda. War ziemlich voll. Ist aber immer ganz nett. Habt ihr was von Mica gehört. Schon länger nicht mehr, der macht sich ziemlich rar. Ich habe keine Ahnung was der so treibt. An den Wochenenden ist er, glaube ich, oft weg. Den Sohn oder seine Eltern besuchen. Ich finde ihn eigentlich ganz nett, obwohl er manchmal ziemlich bescheuerte Sprüche loslässt, aber auch irgendwie komisch. Männer halt. Eine Frau würde Wunder wirken. Was ist denn mit Heike. Die sucht doch schon länger. Unansehnlich ist er nicht. Willst du ´nen Kaffee oder einen Wein. Nee danke. Ich muss noch Ralf von seinem Arzttermin abholen. Wir sehen uns Samstagabend, oder. Ja klar. Kann sein, dass wir später kommen. Bruno muss bis sieben spielen. OK. Bis dann. Mach’s gut. Du auch. Tschüüs. Tschüss.

Fortgeschrittene Seitenzahlen beflügeln. Mica ergibt sich den herausdrängenden Buchstaben und verliert sich in der Freiheit beginnender Sätze. Idealerweise entwickeln sie sich zu einem klaren, bodenlosen Gletschersee. Verkommen sie zur Allgemeinheit, bedarf es quälender Korrekturen. Er sucht in den Tiefen des Tablets nach den ehrlichen Buchstaben. Der Prozessor strichelt die fragmentarische Replik seines Lebens auf den Bildschirm. Er schreibt sich.

Nach dem Bankbesuch taucht er in uniforme TV- Kanäle ab. Verschenkte Stunden, nach denen er sich nur mühsam wieder aufrichten kann. Sein Blick fällt auf einen Stuhl. Achtlos beugt sich ein Shirt über die Lehne, getränkt vom kalten Schweiß der letzten Nacht. Auf dem Weg zur Waschmaschine lässt es ihn seine Ausdünstung riechen, wenig ansprechend. Vor ein paar Jahren noch, roch er besser. Gerne würde er erfahren, ob ihn jemand riechen kann. Er weiß es nicht, nicht mehr. Ehrliche Antworten erwartet er keine.

Seine größte Schwäche bilden anerzogene Selbstzweifel. Niemals würde er seinen Eltern einen Vorwurf daraus machen. Sie hatten ihm die beste aller Kindheiten ermöglicht. Frei, ungebunden und unterstützend versorgten sie ihn mit Liebe, mit Geborgenheit und spannten ein unsichtbare Rettungsnetz. Könnte er einen Bruchteil für seinen Sohn leisten, wäre er zufrieden. Die Messlatte seines Selbstbildes liegt hoch.

Das Erbe

Подняться наверх