Читать книгу DIE TRAURIGKEIT DER LÖWEN - Frank Solberg - Страница 6

Schlüsselszenen

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Warum sollte ich einer attraktiven Frau, auf die ich vormittags in der Vorhalle eines Supermarkts treffe, größere Beachtung entgegenbringen? Nur weil sie mir zwei Mal ein unsicheres Lächeln schenkt, während sie mich fragt, wo sich die nächste Sparkassenfiliale befindet? Warum sollte ich hyperventilieren, wenn sie mir nachmittags bei demselben Discounter noch einmal über den Weg läuft, weil sie augenscheinlich, so wie ich, beim morgendlichen Einkauf ein Teil vergessen hat? Soll ich sie um ihre Handynummer oder geradewegs um ein Date bitten, nur weil sie mir mit einem angedeuteten Kopfnicken wiederum zulächelt? Begreiflicherweise tue ich das nicht, meine Unverfrorenheit hat ihre Grenzen, auch wenn sich ein Anflug von gesundem Wohlgefallen nicht leugnen lässt. Mir ist dieser Tage nicht nach Verabredungen, bei mir läuft es nicht rund, vor allem geschäftlich stehe ich unter Druck, ein lang erwarteter Vertragsabschluss zieht sich endlos hin.

Habe ich selbige Dame kurz danach schon vergessen, kann ich annehmen, dass mir nichts entgangen ist. Wenn allerdings gegen 23 Uhr die Türglocke ertönt und ich durch den Spion erkenne, dass eben jene Frau Einlass begehrt, darf ich mich zumindest wundern. Also wunderte ich mich, ging aber einen entscheidenden Schritt weiter und öffnete ihr.

Unter einer mit Farbtupfern gespickten Baseballkappe quollen blonde Haare hervor. Über einer abgewetzten, fleckigen Cordhose trug sie ein farbbekleckstes hellgrünes Shirt und einen ehemals weißen Malerkittel, an den Füßen ein Paar löchrige Turnschuhe.

„Vergebung“, sagte sie verlegen, „tut mir leid, dass ich zu so später Stunde störe, aber es handelt sich um eine Zwangslage. Ich benötige dringend Hilfe.“

„Kommen sie erst mal rein“, antwortete ich.

„Danke.“ Sie blieb im Windfang stehen. „Ich möchte nichts dreckig machen, ich streiche gerade mein Schlafzimmer und …“, sie sah prüfend an sich herunter, „… und meine Klamotten.“

„Aber die Farbe scheint trocken zu sein. Wir gehen in die Küche, die kann Schmutz vertragen, Montag kommt meine Putzfrau, die macht wieder alles blitzeblank. Was kann ich für sie tun, und was kann ich ihnen anbieten? Sprudel, Tee, Kaffee, Milch, Bier?“

„Danke, nichts. Ich wollte mich nicht aufhalten, ich brauche lediglich ein Telefon. Ich doofe Kuh hab mich ausgesperrt, und mein Handy liegt im Haus.“

„Wem ist sowas noch nicht passiert? Selbstverständlich können sie telefonieren, aber soll ich nicht erst mal versuchen, die Wohnungstür aufzukriegen?“

„Vergessen sie’s. Das ist ein Sicherheitsschloss, und der Schlüssel steckt von innen.“

„Okay, aber die Schlüsseldienste sind teuer und jetzt kommen noch Nacht- und Wochenendzuschläge obendrauf.“

„Bleibt mir eine andere Wahl?“

„Man hat immer eine Wahl. Sie haben theoretisch zwei Optionen.“

„Und welche?“

„Haben sie einen Zweitschlüssel, und wenn ja, wo?“

„Bei meinen Eltern, aber die wohnen zu weit weg und die schlafen schon. Die kann ich nur im Ausnahmefall stören und muss mir dann noch schlaue Sprüche anhören.“

„Erste Option gestorben“, sagte ich. „Ich hätte sie sonst dahingefahren Die zweite lautet: sie übernachten hier im Haus, und in der Früh sehen wir weiter.“

Sie rieb sich die Stirn, unter ihrer Mütze musste es mächtig rattern. „Danke für das Angebot, aber das kann ich ihnen nicht zumuten, wir kennen uns doch gar nicht.“

„Seit fünf Minuten kennen wir uns, nebenbei bin ich kein Me-Too-Verbrecher und die Entscheidung darüber, was sie mir zumuten können, dürfen sie getrost mir überlassen. Aber wie sie wollen.“ Ich reichte ihr mein Smartphone. „Wer keine Wahl hat, hat die Qual.“

„Das kenne ich anders.“

„Eigene Kreation und empirisch untermauert“, sagte ich und verließ den Raum.

Einige Minuten später stand sie in der Wohnzimmertür. „Geht in Ordnung, aber es dauert ein bis zwei Stunden, die haben Hochbetrieb und knackig einen an der Waffel. Halten sie sich fest, die verlangen 250 Euro. Ist das nicht Wucher?“

„Das war vorauszusehen, aber es ist ihre Entscheidung. Jetzt setzen sie sich erst mal und trinken in Ruhe ein Wasser oder einen Schnaps. Meine Bar ist gut bestückt.“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann sie doch nicht bis in die Nacht hinein belästigen, so unhöflich bin ich nicht.“

„Was denn, wollen sie vor ihrer Haustür oder auf der nächsten Parkbank warten? Sie bleiben hier. Basta! Sorry, war nicht so gemeint, ich kann sie nicht zwingen, aber ich habe nichts vor, kann bis in die Puppen schlafen, bin ein Menschenfreund und meine Nächstenliebe ist Stadtgespräch.“

„Sie sind mein Retter. Ich muss aber noch mal anrufen und ihre Adresse angeben, sonst landet der Panzerknacker bei mir vor dem Haus.“

Sie telefonierte, dann hockten wir uns an den Küchentisch.

„Vielen herzlichen Dank, ich werd’s wiedergutmachen.“ Sie nahm ihre Kopfbedeckung ab und fuhr sich durch die zersausten Haare. „Wohnen sie alleine hier oder kommt gleich ein weibliches Wesen mit dem Nudelholz um die Ecke?“

„Niemand kommt, ich bin seit langem unbeweibt. Und nun sagen sie mir freundlicherweise mal ihren Namen.“

„Pah, welch ein Formfehler, Vergebung. Ich bin Lena Behring, katholisch getauft als Magdalena Maria, bin 38 Jahre alt, Sternzeichen Löwe, arbeite als Werbegrafikerin und wohne seit zwei Wochen hundertfünfzig Meter weiter in der Nummer 27. Das heißt, wohnen ist nicht korrekt, ich renoviere die Hütte und campiere in meinem zukünftigen Büro, mit Feldbett, elektrischer Kühlbox, Wasserkocher und zweiflammiger Kochplatte.“

Sie lachte entwaffnend und zeigte mir sehr helle, gepflegte Vorderzähne. „Obendrein habe ich ein bisschen Geschirr, Besteck, Handtücher, einen Fön und einen Flaschenöffner. Meine Möbel sind eingelagert, meine Kids ausgelagert und mein Konto ist ausgeplündert. Der Vollständigkeit halber, ich habe eine Schwester, bin geschieden, und sie können Lena zu mir sagen. Soweit meine Eckdaten, und nun zu ihnen. Wie heißen sie mit Vornamen, Herr M. Kemper, und was treiben sie so?“

„Matthias, mit Doppel-t, 42, Einzelkind, katholisch gewesen, geschieden, Betriebswirtschaftler, einige Semester Philosophie und Literaturwissenschaft vertrödelt und als Personalberater unterwegs. Was noch? Vater einer pubertierenden Tochter, die bei ihrer Mutter lebt und mich morgen besucht. Wie ist es bei ihnen, Jungen oder Mädchen?“

„Oh, ich vergaß. Es sind Zwillinge, zweieiige, Julia und Jonas, vorpubertäre 12 Jahre alt, die sind bei meinen Eltern, aber sie werden demnächst mit mir hier einziehen“, sie tat bekümmert, „falls ich je mit dieser Bude fertig werde. Es fehlen erfreulicherweise nur noch zwei Räume.“

„Warum holen sie sich keinen Maler?“

„Hatte ich doch, aber die Herren Schwarzarbeiter haben mich mehrfach draufgesetzt, und nun habe ich die Faxen dicke. Bier saufen und rauchen kann ich selber und zwei linke Hände habe ich auch. Nur Geduld habe ich nicht oder nur gezwungenermaßen.“

„Apropos Trinken. Was möchten sie haben? Das ist mir glatt durch die Lappen gegangen.“

„Macht nichts. Wenn sie haben, würde ich ein Pils nehmen, und ohne Glas bitte, ich bin ein Flaschenkind. Ich werde heute sowieso nicht mehr pinseln, und der Alkohol wird mir über den Schrecken hinweghelfen. 250 Euro! Ich fasse es nicht.“

Wir prosteten uns zu.

„Wie kommen sie auf mich“, fragte ich. „Ich wohne ja nicht direkt neben ihnen. Keine Nachbarn?“

„Ich verfüge über zwei tadellose Guckerchen und ein ordentliches Gedächtnis. Als ich am Nachmittag von Edeka zurückkam, habe ich gesehen, wie sie ins Haus gegangen sind. Darüber hinaus brennt bei ihnen noch Licht, und die Jalousien sind oben. In dieser Siedlung klappt man offensichtlich um 20 Uhr die Bürgersteige hoch. Ich kenne hier sonst keinen einzigen, ehrlich, ich weiß nicht einmal, wer in den Nummern 23 bis 29 wohnt. Deswegen standen sie ganz weit vorne auf der Nothelferliste, Matthias mit Doppel-t. Das heißt, ein Punkt ist noch zu klären: Welches Sternzeichen sind sie?“

„Löwe.“

„Oh, je, zwei impulsive, energische Alphatiere. Ob das hinhaut?“

„Ich bin kein Alphatier, außerdem müssen wir ja nicht auf der Stelle in den Stand der Ehe treten.“

„Dann bin ich beruhigt, es pressiert auch nicht.“ Sie spendierte mir ihr fünftes oder sechstes Lächeln und zwei reizende Grübchen schmückten ihre Wangen. Für einen halben Tag eine erkleckliche Ausbeute.

„Sind Sternzeichen denn so wichtig?“, fragte ich.

„Wenn man dran glaubt.“

„Und glauben sie daran?“

„Es heißt Stier und Löwe passen nicht zusammen, und es stimmt. Mein Ex-Gemahl war Stier, der hat mich oft genug auf die Hörner genommen. Sei’s drum. Aber Löwen können fliegen, wussten sie das?“

„Nein.“

„In der Augsburger Puppenkiste gab es einen Löwen der fliegen konnte. Das haben wir immer geguckt, als die Zwillinge noch klein waren, und sie haben fest daran geglaubt. Und wenn es mal Probleme gab, haben sie immer gesagt: los, Mama, du kannst doch fliegen.“

„Und, konnten sie?“

„Manchmal kam es mir so vor, manchmal habe ich mich auch verflogen oder der Fallschirm hat versagt, und ich bin hingeflogen.“

Sie hatte ihre Flasche geleert. „Darf ich noch eine? Vergebung, ich habe heute viel zu wenig getrunken.“

Ich sorgte für Nachschub.

„Sie werden mir meine Neugier nachsehen“, sagte sie, „was macht ein Personalberater? Wen beraten sie und warum?“

„Wir beraten Unternehmen bei der Auswahl von Führungskräften, coachen Manager und konzipieren, organisieren und veranstalten betriebliche Aus- und Fortbildungsmaßnahmen.“

„Wer ist wir?“

„Ich arbeite für eine Beratungsfirma. Wir haben 20 Mitarbeiter, ich bin Mitbegründer und Mitgesellschafter.“

„Und warum sind sie kein Philosoph oder Literat geworden?“

„Weil ich dann schon verhungert wäre.“

„Was genau ist eigentlich Philosophie?“

„Das lässt sich mit einem Satz nicht beschreiben.“

„Dann versuchen sie’s mit zwei Sätzen.“

„Gönnen sie mir drei Sätze“, erwiderte ich. „Der Begriff kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet Weisheitsliebe. Die Philosophie bemüht sich, die richtigen Fragen zu stellen, um die Welt und die menschliche Existenz zu ergründen und zu verstehen. Sie befasst sich mit dem, was ist, was sein soll und mit dem was sein könnte.“

„Und? Verstehen sie die Welt?“

„Nein, ich bin wohl nicht weise genug.“

„Hat ihnen das Studium trotzdem etwas gebracht?“

„Definitiv. Ich habe gelernt, dass ich alles in Zweifel ziehen darf, weil die Dinge nicht immer so sind, wie sie scheinen, und dass ich das Denken nicht anderen überlassen sollte. Aber überschätzen sie mich nicht, ich bin keine von den Lichtgestalten, ich bin ein Philosöphchen oder wie Sokrates sagte: Ich weiß, dass ich nichts weiß.

„Für mich klingt das ziemlich weise. Und ist das für ihren Job von Nutzen?“

„Es ist hilfreich. Wir versuchen, den Leuten beim Führungscoaching nicht nur Methodik beizubringen, sondern auch ethische Orientierung zu geben und sie zu kritischer Kopfarbeit anzuregen. Das kannst du nur, wenn du selber kritisch und selbstkritisch bist.“

„Sind sie selbstkritisch?“, fragte sie.

„Und wie, viel mehr als mir lieb ist.“

„Mögen sie ihre Arbeit?“

„Im Prinzip, ja, es ist hochinteressant. Du triffst viele Menschen und die unterschiedlichsten Charaktere, und du lernst mit ihnen und ihren Eigenarten umzugehen. Was mir vermehrt auf die Nerven geht, ist die Reisetätigkeit. Früher hat mir das nichts ausgemacht, aber ich habe bestimmt 30 Prozent meiner Arbeitszeit auf der Straße, in Zügen, in der Luft und in Hotels zugebracht. Da verdunstet viel Lebenszeit, ich versuche, das zu reduzieren.“

„Zum Glück muss ich nicht reisen“, sagte sie, „das würde auch wegen der Kinder nicht hinhauen. Denen steckt noch immer die Trennung in den Knochen, sie jammern oft nach ihrem Papa.“

„Und, jammern sie auch nach ihrem Ex?“

Ein verständnisloser Blick. „Gehört das hierher?“

„Nicht direkt.“

„Nicht einmal indirekt, ich befrage sie ja auch nicht zu ihren nachehelichen Gefühlen.“

„Okay, okay. Was machen sie außer Nichtreisen? Was tut eine Grafikerin.“

„Grafen ficken.“ Ihre Antwort kam postwendend, dann folgte eine Lachsalve. „Vergebung, aber auf diesen Gag bin ich abonniert, der ist bei uns ein geflügeltes Wort.“

„Und wen oder was graficken sie?“

„Mein Team befasst sich mit der Gestaltung und Aktualisierung der Webseiten und Werbeaktionen von Dauerkunden, hauptsächlich Kaufhäuser und Versandhändler.“

„Okay, und macht ihnen die Arbeit Spaß?“

„Im Prinzip, ja, aber … leider hat das mit traditioneller Grafik nichts mehr zu tun. Ich kann gut zeichnen und zwar auf Papier, Pappe oder Leinwand, diese Art von Kreativität ist jedoch kaum noch gefragt. Was ich an der Fachhochschule mal gelernt habe, interessiert keine … äh, keinen Menschen. Wir benutzen moderne Tools, das ist wie Kochen von Fertiggerichten, man muss sie nur erhitzen und eventuell nachwürzen, sehr innovativ, aber sehr monoton. Im nächsten Leben male ich Cartoons.“

„Warum machen sie’s nicht jetzt?“

„Von irgendwas muss ich ja leben. Ich würde auch verhungern, mich kennt doch keiner.“

Es wurde Eins, und wir hatten die Sonnen- und Schattenseiten unseres Berufsalltags ausgeleuchtet. Es wurde Zwei, und wir hatten unsere Hobbys durchgekaut. Um halb Drei, inzwischen waren wir beim „Du“ angelangt, klingelte es. Der Techniker vom Schlüsselservice erschien, mit hochrotem Kopf. Er sei von einer Polizeikontrolle aufgehalten worden und habe noch dazu blasen müssen.

„Blasen ist gut“, gluckste meine reichlich beschwipste Nachbarin. „Dass Polizisten im Dienst auf sowas stehen.“

Der Mann nickte begriffsstutzig. „Kommen sie, ich habe noch andere Aufträge.“

Ich begleitete die beiden zur Hausnummer 27.

Der Monteur war der geborene Einbrecher, innerhalb von nur vier Minuten war der Zugang frei. Sie bezahlte mit der Scheckkarte.

„Was jetzt?“, fragte sie. „Ich könnte dich hereinbitten, aber hier tobt das Chaos, und ich werde langsam aber sicher müde.“

„Das holen wir nach“, erwiderte ich. „Pack dein Nachthemd und die Zahnbürste ein und komm mit. Du schläfst heut Nacht bei mir.“

„Bei dir oder mit dir?“ Sie prustete los. „Vergebung, ich bin einigermaßen besoffen.“

„Das Bett im Kinderzimmer ist frisch bezogen. Du kannst ausschlafen, meine Tochter kommt erst nachmittags, und wenn du brav bist, gibt’s ein gutes Frühstück.“

„Mit Rührei?“

„Mit Rührei und Schinken und Pancakes, Smoothies und Caffè latte.“

„Ein Brunch. Da kann ich nicht widerstehen, ich werde brav sein.“

Sie folgte mir bereitwillig. Als ich ihr eine Gute Nacht wünschte, fiel sie mir spontan um den Hals. „Du bist nicht nur ein Guter, du bist ein Netter.“ Dann küsste sie mich überraschend mitten auf den Mund.

Ein artiges Dankeschön für eine Gefälligkeit? Ein höfliches Kompliment oder aus trunkener Zufriedenheit ohne Bedacht dahingeschmatzt? Es schmeckte sehr nach einem Schokoladenriegel für Zweitklässler, und trotzdem beeindruckte es mich. Wie sagte einst der deutsche Schriftsteller Jean Paul? „Zehn Küsse werden leichter vergessen als ein Kuss.“

Dass ich mich mit dem Einschlafen schwertat, hatte einen ästhetischen Grund, der zwei Türen weiter nächtigte. Lena bewegte mich und, nicht einfach, mir das einzugestehen, sie gefiel mir.

„Schlechtes Timing“, sagte ich zu mir. Denn, bei aller Empathie, eines konnte ich in meiner Lage nicht gebrauchen: mich zu verlieben.


DIE TRAURIGKEIT DER LÖWEN

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