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Farbenlehre

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Als am Samstag um 8:30 Uhr der Wecker läutete, war ich nicht ausgeruht und fand überhaupt, ich sei kein ausgeschlafener Typ. Ich stieg ins Erdgeschoss hinunter, um Kaffee zu kochen. In der Küche herrschte längst Betrieb. Lena stand suchend vor der geöffneten Kühlschranktür, barfuß und ganz und gar unbefangen. Die Haare zu einem neckischen Pferdeschwanz gebunden, in einem hellen, weit ausgeschnittenen Top und einem knappen dunkelroten Slip. Ein Outfit, das mehr offenbarte, als es verhüllte.

„Schinken“, sagte sie zu sich selbst, „wo ist der Schinken?“ Dann dreht sie sich um. „Ich habe schon mal Kaffee aufgesetzt und die Eier geschlagen. Ist dir doch recht oder? Ich wollte alles vorbereiten, damit du nicht so viel Arbeit hast. Vergebung, dass ich noch nicht geduscht bin.“

„Guten Morgen“, entgegnete ich, „so viel Zeit muss sein.“

„Oh, ja, guten Morgen“, sie umarmte mich. „Ich hoffe, du hast so gut geschlafen wie ich.“ Mich traf ein Blick aus einem ausdrucksvollen Augenpaar, dessen grün-bläulich schimmernde Iris erst jetzt bei Tageslicht zur Geltung kam.

„Ging so, war eine kurze Nacht. Ich brauche sieben Stunden Schlaf, fünf reichen mir nicht.“

„Ich bin Frühaufsteherin, wenn ich muss oder wenn ich mal wieder nicht durchschlafen kann.“ Ihre Grübchen signalisierten gute Laune. „Es gibt massig zu tun, der Pinsel erwartet mich, bis morgen muss das erledigt sein.“

„Soll ich dir helfen?“

„Kannst du anstreichen? Heute ist der Wohnraum dran, mit Decke, das wird anstrengend.“

„Streichen muss nicht sein, aber vier linke Hände schaffen mehr als zwei, im Minimum kann ich die Farbe anrühren, die Leiter halten oder dir etwas vorsingen.“

„Singen wäre schön. Und was ist mit deiner Tochter?“

„Die kommt erst gegen 16 Uhr“, antwortete ich, „wenn sie ausnahmsweise mal pünktlich ist. Ein paar Stunden kannst du von mir haben.“

„Dankend angenommen. Du bist ein Schatz. Und jetzt gehe ich unter die Dusche, ich glaube, ich rieche ein bisschen streng.“

„Du riechst nicht streng, du duftest nach Frau.“

„Schmeichler. Kein Wunder, du bist abgelenkt, du starrst mir doch die ganze Zeit auf den Ausschnitt. Männer sind nicht multifunktionsfähig, sie können nicht gleichzeitig gucken und schnüffeln.“

„Ich habe nicht auf deinen Ausschnitt geschaut.“

„Stimmt, du hast bereits reingeschaut und die Glocken besichtigt. Aber jetzt ist Schluss mit der Peepshow. Bis gleich.“ Sie umarmte mich abermals. „Du riechst auch gut.“

„Das ist mein natürliches Aroma von Freiheit und Männlichkeit“, erwiderte ich.

„Dann denk an den Schinken, du Naturbursche. Oder war das nur ein Köder?“


Es wurde ein mäßig amüsanter Vormittag mit recht übersichtlichem Arbeitsfortschritt. Lena war eine versierte Amateurin, ich nur eine Hilfskraft, ohne deren tatkräftiges Unvermögen sie schneller vorangekommen wäre, aber das störte sie nicht. Sie stand auf einer Trittleiter und schwang die an einer Teleskopstange befestigte Rolle, die ich in gleichmäßigen Abständen in den Farbeimer tauchen durfte. Dabei plapperte sie ohne Unterlass, lästerte über Promis und Politiker, witzelte über Arbeitskollegen und Kunden und trank mein Bier.

„Ich muss mal unterbrechen“, sagte sie zwischendurch. „Über Kopf arbeiten ist nicht so meins, da werden die Arme lahm.“

„Soll ich dich ablösen?“

„Ne, bitte nicht, das verhunze ich lieber selber, dann weiß ich hinterher wenigstens, wer schuld ist.“

Wir hockten uns auf die Stufen der Terrasse, im Schatten einer Eibe, und schauten in den ungepflegten Garten.

„Die reinste Wildnis.“ Sie zündete sich eine Zigarette an. „Das wird die nächste Herausforderung, aber ein bisschen Gebüsch muss schon sein.“

„Wenn du einen Gärtner benötigst, sprich mich an, da kenne ich mich aus, und an Gartengeräten mangelt es mir auch nicht. Im Bäumefällen, Büschebeschneiden und Umgraben bin ich das große Los.“

„Ich werde auf dich zurückgreifen.“

„Du wirst es nicht bereuen.“

Ein nerviger Heavy-Metal-Klingelton zerschnitt die friedliche Idylle.

„Vergebung“, sagte sie ungehalten, „da muss ich leider dran. Mein geschiedener Vollhonk geifert nach mir.“ Sie ging ins Haus.

Als sie zurückkehrte, mit blassem Gesicht, war ihre lässig fröhliche Leichtigkeit dahin.

„Dieser Kotzbrocken“, zürnte sie, „er hat mal wieder einen seiner überragenden Einfälle.“

Sie griff erneut nach der Zigarettenschachtel. „Er will in den Ferien mit den Kindern zwei Wochen nach Norderney fahren, obwohl wir das anders vereinbart hatten. Die Zwillinge und ich wollten auf einen Pferdehof in der Holsteinischen Schweiz, und das ist auch bereits festgemacht.“

„Und?“

„Und? Ich hab gesagt, er soll mich mal, und er hat mich dafür angeschrien, Business as usual.“

„Warum nimmst du das Gespräch an, wenn du doch vorher weißt, dass es Zoff gibt?“

„Ja, warum tue ich mir das an? Wenn er mich anruft, geht es stets um die Kinder, da kann ich ihm nicht ausweichen, sonst macht er, was er will. Kennst du das auch?“

„Nein, meine Ex hat zwar ihre Macken, aber sie benimmt sich vergleichsweise zivilisiert.“

Aus eigenem Antrieb begann sie unvermittelt, mir ihre Leidensgeschichte zu erzählen. Eine 14-jährige Ehe, die am heillos narzisstischen Wesen und am wahnhaften Misstrauen eines Mannes zerbrach, der sie am Ende nur noch schikanierte, demütigte und verachtete.

„Er hat eine passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung“, sagte sie. „Der Betroffene selber hält sich für gesund, obwohl er sich nicht gut fühlt, aber daran sind die Menschen um ihn herum schuld. Er ist ständig unzufrieden, sieht sich ungerecht behandelt und meint, alle anderen sind bescheuert und wollen ihm nur Schlechtes, Kollegen, Bekannte und Verwandte und auch seine Partnerin. Ich wusste manchmal nicht, ob ich ihn am Kopf oder am Hintern habe. Komischerweise hat er die Kinder verschont, aber er hat sie gegen mich aufgehetzt. Dieses destruktive Verhalten kann man irgendwann nicht mehr ertragen. Hätte ich ihn nicht rausgeschmissen, wäre ich vor die Hunde gegangen.“

Ich unterbrach sie nicht, und ich fragte nichts, aber ich nahm ihre Hände und streichelte sie, und sie ließ es zu.

„Dann wollte ich die Scheidung einreichen, aber er versprach, sich einer Therapie zu unterziehen. Ich doofe Kuh hab mich breitschlagen lassen, aber es ging nicht. Nach kurzer Zeit machte er da weiter, wo er aufgehört hatte: Rechthaberisch, geringschätzig und verletzend. Auf Dauer raubt dir das sämtliche Energie.“

„Ist er gewalttätig geworden?“

„Nur mündlich. Er hat mir viele Tiefschläge verpasst und Gemeinheiten an den Kopf gebrüllt, und er hat mich diffamiert, wo er konnte. Er ist rhetorisch beschlagen, und er besitzt die Dreistigkeit, den Leuten darzulegen, die Ursachen für das Scheitern unserer Ehe lägen allein in meinem Fehlverhalten. Er hat unseren Freundeskreis aufgemischt und jedem, auch denen, die es nicht hören wollten, einzureden versucht, ich hätte ihn vergewaltigt. Zieh dir das rein. Vergewaltigt! Ich ihn! Widerlich!“ Eine abfällige Handbewegung demonstrierte Abscheu und Abneigung. „Anscheinend glaubt er selber an diesen Schwachsinn. Das Vertrackte ist, der bringt dich so weit, dass du dich laufend hinterfragst, und das untergräbt dir jegliches Selbstvertrauen. Als ich an diesem Punkt war, wusste ich, jetzt musst du den Stecker ziehen.“

Lena hatte einen dornigen Pfad hinter sich und eine beschwerliche Wegstrecke vor sich. Robert, ihr Ex, hatte einen erbarmungslosen Rosenkrieg angezettelt, sie drangsaliert und genötigt, ihr eigenmächtig den Unterhalt gekürzt und, als Zugabe, acht Monate nach der Scheidung eine Sorgerechtsklage eingereicht.

„Ohne meine Eltern stünde ich echt im Regen“, sagte sie. „Die unterstützen mich moralisch und finanziell, und ich wohne vorübergehend bei ihnen. Sie übernehmen die Brutpflege, wenn ich zur Arbeit gehe, sie haben das Haus gemietet und zahlen mir nächstens auch mein Erbteil aus. Ich bin ihnen so dankbar und fühle mich doch manchmal so ohnmächtig, weil dieser Oberarsch mich ständig in Alarm versetzt.“

Sie griff zur nächsten Zigarette. „Vor den Zwillingen gibt er den liebenden Vater und Kumpel und macht mich als Rabenmutter schlecht. Ich ziehe Grenzen, er reißt sie wieder ein. Bei ihm dürfen sie genau das, was ich ihnen nicht erlaube, und manchmal glaube ich, dass die Saat aufgehen wird. Wenn er sie alle zwei Wochen sonntagsabends wieder abliefert, muss ich mir erst einmal anhören, was der tolle Papa mit ihnen unternommen hat, und wie sehr sie sich auf den nächsten Besuch freuen. Was mache ich? Ich erlasse Dekrete: Händewaschen, Zähneputzen, Schularbeiten machen, Handynutzung einschränken, Computer ausschalten, Nachtruhe um 21 Uhr, und sofort. Es dauert drei Tage, bis ich sie wieder eingefangen habe.“

„So weit ist meine Frau nicht gegangen, sie hat meine Tochter immer rausgehalten, und das habe ich genauso gehandhabt. Leider wird das gerne genommen. Dass Eltern ihre Kinder missbrauchen, um Nachrichten hin- und herzuschicken oder sie gegen den Partner zu instrumentalisieren, ist nicht ungewöhnlich. Nur kannst du dir dafür nichts kaufen.“

„Komm, lass uns weitermachen“, sagte sie bedrückt, „diese sch…. Zimmerdecke bemalt sich leider nicht von allein.“

Zur Mittagszeit war das Wohnzimmer gestrichen. Lena ließ die strapazierten Flügel hängen. Ich orderte bei einem Bringedienst Pizza Funghi, sie aß ohne Appetit.

Wir setzten uns wieder auf die Terrassenstufen. Kein heiterer Small Talk, die Stimmung blieb ernst.

„Kann dein Mann den Rechtsstreit gewinnen?“, fragte ich.

„Er wird für eine Pflichtverletzung keine Beweise vorlegen können, weil es keine gibt, und auf eine Ausweitung des Besuchsrechts hat er normalerweise keinen Anspruch, aber was ist bei uns schon normal?“ Lena stockte. „Er hat ein Faustpfand oder glaubt, eines zu haben.“

„Und das wäre?“

Sie zögerte erneut. „Ich habe MS.“

„Was hast du?“, fragte ich fassungslos, und mir fiel nachfolgend nichts besseres ein als die Bemerkung: „Das sieht man dir gar nicht an.“

„Da muss ich wohl erst schief im Rolli hocken.“ Auf ihrer Stirn hatten sich zwei Unmutsfältchen eingefunden.

„Nein, um Himmels Willen, nein. Ich habe doch keine Ahnung, wie sich das bemerkbar macht. Woher weißt du, dass es MS ist?“

„Es ist Multiple Sklerose im ersten Stadium, so steht es in meinen Krankenakten. Diagnostiziert und beglaubigt von der Uniklinik Münster.“

„Wann hat das angefangen?“

„So vor dreieinhalb Jahren. Ich war andauernd schlapp, hatte öfters Kopfweh, Muskelkrämpfe in Armen und Beinen und schließlich kamen Sehstörungen und Schwindelgefühle dazu. Mein Hausarzt wusste damit nichts anzufangen, er hat es auf den Stress mit meinem Mann zurückgeführt und mich mit Antidepressiva zugedröhnt. Als dann wieder und in kürzeren Abständen anfallsartig Schmerzen und Lähmungen auftraten, hat er mich zu den Neurologen gejagt. Die haben auf Polyneuropathien getippt, aber nach zwei MRT‘s und einer Lumbalpunktion hatte ich es schwarz und weiß auf Papier. Das war im Januar vorletzten Jahres.“

„Und kommt das wirklich vom Stress?“

„Stress kann einen Schub begünstigen oder auslösen, das gilt aber auch für Erkältungen, körperliche Überlastung und wer weiß, was sonst noch … Brrr“, sie schauderte. „Vergebung, ich kann diesen Ausdruck nicht ab. Schub, das ist so irreführend, da schiebt gar nichts, da schmeißt’s, zerreißt’s oder paralysiert’s dich, und das verläuft auch nicht immer gleich ab.“

„Du musst dich nicht entschuldigen“, sagte ich, „und du musst nicht weiterreden.“

„Ist schon in Ordnung, es geht wieder.“ Sie schien sich gesammelt zu haben. „Die MS hat andere Ursachen, sie kann die Folge viraler Infektionen, wie Masern, Röteln und Windpocken sein, oder es liegt an bestimmten Umwelteinflüssen. Sie kann auch vererbt werden, in meinem Stammbaum gibt es dafür jedoch keinerlei Anhaltspunkte und all diese Kinderkrankheiten hatte ich auch nicht. Meine Neurologen haben eine eigene Hypothese aufgestellt. Ich hatte vor fünf Jahren eine Hysterektomie, da haben sie mir fast alles ausgeräumt, was Frau da unten so drin hat. Die Uni-Ärzte meinen, da könnte etwas schiefgelaufen sein. Belastbar ist das nicht, und die Gynäkologen haben es von sich gewiesen. Ich kann also knobeln, woher es kommt.“

„Warum die OP?“

„Zervixkarzinom, volkstümlich Gebärmutterhalskrebs.“

„Meine Güte“, sagte ich, „was musst du durchgemacht haben? Das tut mir leid, wirklich.“ Ich drückte ihre Hände, und sie erwiderte den Druck.

„Ich bedaure mich auch dann und wann, aber ich habe wenig Zeit zum Resignieren und keinen Bock auf Weltuntergang, und ich lasse nicht zu, dass die MS mein Leben dominiert.“ Sie klang trotzig und entschlossen. „Außerdem muss ich zwei Kinder großziehen und aufpassen, dass ich meine Arbeitsstelle nicht verliere.“

„Wie wirst du behandelt?“

„Die Krankheit ist nicht heilbar, das ist ein schleichender Prozess, der verläuft mehr oder minder schnell und sehr unspezifisch. Man kann heutzutage die Symptome lindern, den Zustand stabilisieren und das Fortschreiten herauszögern. Nach einem Schub kriege ich temporär Kortison und Mitoxantron, meistens als Fusion. Ansonsten nehme ich täglich zwei Tecfidera, damit komme ich gut zurecht, kleine Nebenwirkungen ausgenommen. Daneben treibe ich Sport in der Muckibude, gehe zur Krankengymnastik und übe mich in Yoga und Meditation, aber eher halbherzig, das ist nicht meins. Ich bin viel zu rappelig, und mir schlafen im Lotussitz die Beine ein. Jedenfalls sind Frequenz und Schwere der Schübe bisher erträglich und, toi-toi-toi, ich habe noch keine bleibenden Schäden davongetragen. Der Behinderungsgrad pendelt zurzeit zwischen 2,5 und 3 auf einer Skala von 0 bis 10 Punkten.“

„Das ist gut“, sagte ich. „Hast du psychologischen Beistand oder besuchst du eine Selbsthilfegruppe?“

„Wozu? Die Seelenklempner erzählen dir immer das Gleiche: Arbeiten sie nicht so viel, Vermeiden sie Stress, werden sie ruhiger, nehmen sie sich Freiräume und sofort. Nur Plattitüden, wie du wirklich damit fertig wirst, sagt dir plattheitkeiner. Und eine Selbsthilfegruppe? Die kennen doch bei ihren Zusammenkünften nur dieses eine Thema, das brauche ich erst recht nicht.“

„Und wie ist dein Ex-Mann damit umgegangen?“

„Das ist ein Kapitel für sich. Ich glaube, er ist mit meiner OP, den Nachwirkungen und meinen körperlichen Aussetzern nicht klargekommen. Eine Zeit lang haben meine Hormone gesponnen, ich war praktisch von heute auf morgen in der Menopause, mit den gängigen Begleiterscheinungen: Hitzewallungen, Stimmungsflauten, trockene Haut und dergleichen. Das passte wohl nicht in sein Frauenbild, aber das ist Spekulation. Er wollte nie darüber reden und hat alle Gesprächsversuche abgeblockt.“

„Mit Verlaub, aber warum hast du eine solche Arschgeige geheiratet?“

„Als ich ihn kennenlernte war er nicht so. Extrovertiert und herrisch, ja, aber nicht so verbiestert und impertinent. Wir waren lange ein ordentliches Gespann. Wann genau das Verhältnis gekippt ist, kann ich dir nicht sagen, es tröpfelte so vor sich hin, und auf einmal war der Cut da.“

„Nimm mir nicht übel, wenn ich noch mal nachhake, auch wenn es mich nichts angeht. Hattet ihr nach deiner OP Probleme mit dem Sex oder so …? Oder bin ich dir zu indiskret?“

Meine unkultivierte Neugier war ihr zu meiner Erleichterung nicht unangenehm. „Was euch Männer so interessiert“, erwiderte sie. „Und ob das indiskret ist, aber die Frage liegt auf der Hand. Es soll ja vorkommen, dass nach so einem massiven Eingriff nichts mehr geht. Glücklicherweise haben sie meinen Maschinenraum wieder restauriert, alles formschön und voll funktionsfähig, so wie vorher. In dieser Hinsicht war der Operateur ein Genie. Der Vorteil ist, ich menstruiere nicht mehr und muss nicht mehr verhüten.“ Sie hüstelte süffisant. „Anfänglich hat es arg geklemmt, allerdings soll es neben Beischlaf noch andere Praktiken geben, der Mensch hat ja zwei Hände. Außerdem hat es nach vier Monaten wieder geflutscht, aber auch im Bett hat nur der große Anführer entschieden, wann, wie und wo es langgeht. Er war ein Stoßstürmer, ein Vollstrecker: rein in den Strafraum, Schuss, Tor, fertig. Mein Elfmeter war ihm schnurz und in der Nachspielzeit ist er eingepennt.“ Sie winkte ab. „Alles Schnee von gestern, die Gegenwart zählt, und die ist beschi… bescheiden genug.“

„Und jetzt will dieser Gentleman das alleinige Sorgerecht erstreiten, in dem er dem Gericht weismacht, dass du nicht in der Lage bist, die Zwillinge zu versorgen.“

„Exakt. Er will einen Antrag auf alleiniges Sorgerecht aus Gründen des Kindeswohls stellen, es gibt da im Bürgerlichen Gesetzbuch entprechende Paragrafen. Er meint, ich sei nur noch ein halber Mensch und führt sich auf, als wenn MS übertragbar wäre. Für den war ich schon als Ehefrau eine Fehlbesetzung und als Mutter bin ich nicht mehr tragbar. Meinen Eltern gegenüber hat er sogar behauptet, dass ich einen unsteten Lebenswandel führe und mich herumtreibe. Alles Nonsens, ich gehe ab und zu auf ein Bier mit meinen Arbeitskollegen, aber einen anderen Mann habe ich seit hundert Jahren nicht mehr angeschaut.“

„Einen schlechten Lebenswandel muss er dir doch nachweisen, und das kann er nicht.“

„Er wird es vorbringen, da schwöre ich drauf, und damit mixt er einen verheerenden Cocktail.“

Den Falten unter ihrem Blondschopf hatten sich mittlerweile zwei weitere hinzugesellt, kleine, senkrechte Striche, direkt über der Nasenwurzel, die auf tiefe Besorgtheit hindeuteten. „Für ihn bin ich Freiwild, er treibt mich regelrecht vor sich her. Diesem Dauerclinch bin ich nicht mehr gewachsen, und ich möchte einfach nur weglaufen, dabei muss ich doch stark sein.“

„Damit darf er nicht durchkommen“, sagte ich. „Seine Persönlichkeitsstörungen sind doch nichts, was ihn dazu prädestiniert, Kinder aufzuziehen.“

„Meine Anwältin sieht das auch sehr gelassen, aber ich kenne ihn mehr als jeder andere. In der Tagesklinik haben sie ihn mit Selbstbewusstsein derart vollgepumpt, dass er meint, er hätte alles und jeden im Griff. Er ist der King, jede Kritik ist Majestätsbeleidigung. Er gibt den unbesiegbaren Zampano, er hat den Größten, den Dicksten und den Längsten. Tatsächlich bekommt diese Mogelpackung nichts auf den Pinn, wenn man davon absieht, dass er blindwütig alles kaputthaut. Lügen, verdächtigen und verleumden kann er wie kein Zweiter.“

„Du bist doch nicht auf den Mund gefallen. Warum wehrst du dich nicht?“

„Wie denn? Ich bin dünnhäutiger und nicht so abgewichst wie er. Gegen diese Art von Bosheit und Rücksichtslosigkeit habe ich kein probates Mittel, und das weiß er.“ Sie atmete tief ein und aus. „Unabhängig davon, wie es ausgeht, das Tragische ist, dass es wieder Tumulte und Turbulenzen gibt, unter denen letzten Endes die Zwillinge zu leiden haben. Davor habe ich Angst, und davor, dass es wieder Schübe verursacht, denn das spielt ihm in die Karten.“

Ich konnte Lenas Ängsten nachfühlen, aber wie hätte ich Trost spenden können, und wollte sie überhaupt getröstet werden? Mir lag auf der Zunge, ihr zurückzumelden, dass sie auf mich einen gefestigten Eindruck machte, unbeschadet des kleinen Verzweiflungsausbruchs. Es gibt jedoch Situationen, in denen kannst du mit Reden mehr krummbiegen, als sich mit Schweigen wieder begradigen lässt. Gleichwohl fragte ich: „Kann ich etwas für dich tun?“

„Ja, halt mich noch ein wenig fest.“ Sie blinzelte, als wolle sie ein paar aufkommende Tränchen verscheuchen. „Das tut mir gut. Ich habe ein Berührungsdefizit, Körperkontakt ist für mich das A und O.“

Als ihre Stirn sich wieder glättete und Anzeichen der Entspannung über ihr Gesicht huschten, wusste ich, dass das Schlimmste überstanden war.

„Warum erzähle ich dir das bloß alles?“, fragte sie und sah mir in die Augen. „Wir kennen uns doch kaum, sonst bin ich Fremden gegenüber nicht so redselig.“

„Ich bin nicht fremd, wir haben immerhin die letzte Nacht unter einem Dach verbracht. Und, wenn ich mich nicht täusche, dann mögen wir uns oder will ich mir das nur einbilden?“

„Nein, das ist keine Einbildung. Es kommt mir so vor, als wenn ich dich schon lange kenne. Darüber hinaus hast du mich schon in Unterwäsche gesehen und meine Brüste bestaunt, das verbindet.“

„Danke für dein Vertrauen, aber ist denn da sonst keiner, mit dem du mal quatschen kannst? Was ist mit deiner Schwester oder mit einer Freundin?“

„Meine Schwester Katharina lebt in Stuttgart, Marke Oberlehrerin, die hat Haare auf den Zähnen und trägt mir bis heute eine Jugendsünde nach. Dann ist da Carla, meine beste Freundin, klar, wir reden viel, aber die ist noch verpeilter als ich und wird schon mit ihren eigenen Problemen nicht fertig. Die hat auch so einen Schwachmaten an der Backe, Rekordhalter im Seitensprung, der betrügt sie mit jeder, die nicht bei Drei auf dem Baum ist. Der hat sogar mich angebaggert, und er hat seine Annäherungsversuche erst eingestellt, als ich ihm eine reingehauen habe. Carla ginge es besser, wenn sie ihn los wäre.“

„Männer sind Schweine.“

„Bis auf die Ausnahmen von der Regel. Wieso hat ein Mann wie du eigentlich keine Herzdame?“

„Nacheheliches Geheimnis“, erwiderte ich.

„Gut pariert. So“, sie erhob sich von den Stufen, „genug palavert, jetzt wird wieder Farbe verschmiert. Mit Flur und Badezimmer habe ich noch ein paar Stunden vor mir. Und du“, sie wischte mir wie beiläufig über die rechte Wange, „du, Matthias mit Doppel-t, wirst jetzt verschwinden und mit deiner Tochter einen schönen Samstag verbringen.“

„Ich habe noch etwas Zeit.“

„Ja, aber ich nicht.“

„Wann sehen wir uns wieder?“

„Ich übernachte heute bei meinen Eltern. Morgen Mittag mache ich hier den Rest. Gib mir deine Handynummer, ich rufe dich an. Hast du auch WhatsApp?“


Das, was mir in den Nachtstunden den Schlaf ramponiert hatte, bedrängte mich auch an diesem Nachmittag. Lena wollte mir nicht aus dem Kopf, und ihre Odyssee ging mir nahe. Ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals einer Frau begegnet zu sein, die sich mir in so kurzer Zeit derart geöffnet und anvertraut hatte. Die Rede ist hier nicht von jenen Kneipen- oder Barbekanntschaften, die sich nach dem zweiten Drink bei dir über Gott und die Welt ausheulen, und von denen du nach dem dritten Glas die Blutgruppe, die Körbchengröße und die Lieblingsstellungen kennst.

Und was hatte ich zu ihr gesagt? „Nacheheliches Geheimnis.“ Was für ein Unfug. Eine ehrliche Antwort auf ihre durchaus schmeichelhafte Frage wäre nicht halb so witzig gewesen, wie die Ernsthaftigkeit, mit der ich sie mir in letzter Zeit häufig selbst gestellt hatte.

Ich hatte nie eine Entscheidung gegen eine neue Partnerschaft getroffen. Meine Vorbehalte basierten auf der verbreiteten Meinung, dass du erst offen für das Neue bist, wenn du das Alte abgeschlossen hast. Die Scheidung von Andrea lag zwei Jahre hinter mir, und obgleich ich diese Ehe abgehakt hatte, wähnte ich mich noch immer bindungsunfähig.

Niklas, guter Freund seit Kindesbeinen, und Susanne, seine ihm Angetraute, schleiften mich durch die Diskotheken der Stadt und auf die Ü30-Partys im Umkreis, allzeit bemüht mich zu verkuppeln. Mehr als ein harmloses Getändel hier, ein belangloses Geplänkel dort oder ein banales, der Triebabfuhr geschuldetes Betthupferl, sprang jedoch nicht heraus. Nach einer engeren Bindung suchte ich allerdings auch nicht. Eine Vermeidungsstrategie? Anspruchsdenken? Bequemlichkeit? Vorauseilende Verlustängste? Oder die fehlende Einsicht, dass ich kein beziehungsgeschädigtes Opfer war und dass ich der Stagnation in meinem Gefühlsleben nicht entgegenwirken konnte, ohne mich selbst dabei zu bewegen? Was es auch war, bislang hatte mir die innere Bereitschaft und- oder die Frau gefehlt, um mich wieder tieferen Empfindungen zu öffnen.

Dass ich mit mir selber beschäftigt war, kam meinem Kind nicht ungelegen, Jessica lechzte nicht nach tiefschürfender Tochter-Vater-Konversation. Mit dem untrüglichen Gespür einer Heranwachsenden für eine momentane Schwäche ihres Erziehungsberechtigten, nutzte sie eine Lücke in meinem Widerstand gegen ihre Vorstellungen von sinnreicher Freizeitgestaltung. Ohne nennenswerte Gegenwehr handelte sie mir die Zustimmung zu einem Partybesuch bei einer Schulfreundin ab und beschwatzte mich überdies, sie mit dem Auto dort hinzubringen und sie um 23 Uhr wieder einzusammeln. Sie würde vor der Haustür auf mich warten, ich dürfe keinesfalls anklingeln, sie wolle nicht als uncool gelten. Ich gestand ihr 22 Uhr zu, wir einigten uns auf 22:30 Uhr. Sie fand es läppisch, ich sah es als notwendig an, gegenüber einem 15-jährigen Teenie solltest du einen Anschein von väterlicher Autorität aufrechterhalten können.

Dass sie den Kompromiss ignorierte, nicht an ihr Handy ging und erst zwanzig Minuten nach der vereinbarten Zeit auftauchte, stand auf einem anderen Blatt. Es sei „so krass“ gewesen, dass sie schlichtweg vergessen habe, auf die Uhr zu schauen. Ich fand’s so krass, dass ich ihr das Taschengeld für die nächsten vierzehn Tage aussetzte, was ich am Sonntagvormittag widerrufen sollte. Pädagogisch nicht sehr einfallsreich, aber als Versöhnungsgeste bestens geeignet.


DIE TRAURIGKEIT DER LÖWEN

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