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Bekenntnisse

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An diesem Sonntagabend wurden meine Erwartungen und meine Geduld arg auf die Folter gespannt. Gegen 21 Uhr, als ich schon nicht mehr damit rechnete, brummte mein Handy.

„Hi“, sagte Lena, „bist du allein oder ist deine Tochter noch da? Ich kann in zwei Minuten bei dir sein.“

Dann stand sie vor mir, und ich konnte nicht anders, ich umfasste und drückte sie, und sie legte ihre Arme um meine Schultern.

„Hattest du ein schönes Wochenende?“, fragte sie. „Wie war’s mit deiner Tochter?“

„Es ging so, verhältnismäßige Normalität. Sie hat mal wieder eine Abmachung nicht eingehalten, sonst lief alles glatt. Aber …“

„Aber?“

„Ich habe dich vermisst.“

„Das ehrt mich. War’s sehr schlimm?“

„Schlimmer.“

„Jetzt bin ich ja da.“ Sie strahlte. „Es hat nicht früher geklappt, ich musste noch Ordnung schaffen, jetzt hab ich’s fast hinter mir. Noch eine Grundreinigung, und ich kann einziehen.“

„Das freut mich, aber ich hätte dir beim Aufräumen helfen können. Warum hast du dich nicht gemeldet?“

„Weil meine Mutter bei mir war, und weil sechs linke Hände mehr sind als ich verknusen kann.“

„Okay. Möchtest du ein Bier.“

„Ein Fläschchen Pils. Aber lässt du mich erst mal eintreten oder fertigst du mich heute vor dem Haus ab?“

„Dring ein, dring ein, bring Glück herein.“

Es wurde ein unterhaltsamer Abend. Eine Frau und ein Mann, die spürbar miteinander flirteten, aber erkennbar einen Anstandsabstand wahrten. Mehr gab die Dramaturgie in diesen Stunden trotz knisternder Spannung nicht her.

Wir sprachen über unverfängliche Themen. Steckenpferde und Musik waren halbwegs abgehandelt, politische und weltanschauliche Betrachtungen sparten wir aus. Ernährung, Urlaube und Bücher boten uns die willkommene Gelegenheit zu unverkrampftem Meinungsaustausch, von Ernsthaftem bis hin zu gehobenem Blödsinn. Wir konstatierten Übereinstimmungen, Abweichungen und leichte Geschmacksverirrungen.

Uns einte die Vorliebe für die südeuropäische und asiatische Küche. In puncto Reisezielen schwärmte Lena von den geschichtsträchtigen, sonnigen Mittelmeerinseln, namentlich Korsika, Kreta und Sizilien, ich von Exkursionen ins südliche Lateinamerika und ins nördliche Nordamerika. Literarisch verständigten wir uns auf die Comicserie Asterix und Obelix, darüber hinaus hätten die Gegensätzlichkeiten nicht größer sein können. Sie las Fantasyromane, bevorzugt über Harry Potter, Volkssagen, Historische Romanzen und Micky-Maus-Hefte, ich favorisierte Biografien, Satiren, Kriminalromane sowie, immer noch und immer wieder, Karl Mays Standardwerke. Old Shatterhand, Winnetou und Kara Ben Nemsi standen mir näher als Disneys tragikomische Antihelden Donald Duck und Goofy.

Zur Geisterstunde rief ich ihr ein Taxi, nach jeweils eineinhalb Litern Gerstensaft waren wir beide fahruntüchtig.

„Ich hole mein Auto morgen ab“, sagte sie, „nicht vor Fünf. Wenn du da bist, könnte ich eben reinschauen.“

„Mach das, ich bin zwei Tage im Home office.“

„Bist du enttäuscht von mir?“, fragte sie, als sie sich verabschiedete.

„Warum sollte ich?“

„Weil wir nicht in der Kiste gelandet sind.“

„Ich hatte nicht vor, dich ins Bett zu kriegen.“

„Schwindler.“ Sie lächelte ungewohnt schüchtern. „Es war schön mit dir, auch ohne One-Night-Stand. Ich hab eine große Klappe und mein loses Mundwerk haut hin und wieder einen anzüglichen Spruch raus, bamm-bamm-bamm, aber ich bin kein schnelles Mädchen.“

„Auch wenn du es mir nicht abnimmst, als Mann für eine Nacht fehlt mir die Chuzpe und für eine schnelle Nummer bist du mir zu schade. Ich bin weder Sammler noch Jäger und auf leichte Beute stand ich noch nie.“

„Mit mir kannst du derzeit nicht viel anfangen. Als Sammelobjekt tauge ich nicht und Jagdgetümmel habe ich zuhauf. Ich schlittere von einem Schlamassel in den nächsten und habe nichts zu bieten außer Krisen, Pleiten und einer Portion Galgenhumor.“

„Du siehst zu schwarz, alles wird gut.“

„Nichts wird gut.“ Sie gab sich einen Ruck, so als müsse sie sich überwinden, das auszusprechen, was sie nun zu bekennen wagte: „Die nächste Panne steht bevor. Eigentlich wollte ich es für mich behalten, aber es muss raus, sonst läuft der Speicher über.“ Ein verwirrtes Innehalten. „Ich dachte, ich sei gegen Männer immun. Bis gestern war ich felsenfest davon überzeugt, meine Gefühle seien verschüttet, dann tauchst du auf und … und beginnst sie auszubuddeln. Und nun?“

„Sorry, ich habe nicht gebuddelt, nicht bewusst, aber ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, du wärest mir egal. Aber wieso sprichst du von einer Panne?“

„Panne ist vielleicht übertrieben, aber es würde vieles vereinfachen, wenn ich dir egal wäre.“

„Was zum Beispiel?“, fragte ich.

„Alles.“

„So genau wollte ich es nicht wissen.“

„Es ist alles so fremd und unwirklich und so beunruhigend.“ Ich spürte, wie sich ihre Fingernägel in meine Unterarme gruben. „Sag mir, wie ich das bewältigen soll? Ich komm doch schon mit mir allein kaum zurecht.“

Welchen Ratschlag durfte ich ihr geben, zumal als unmittelbar Betroffener? In diesem Augenblick erschien mir nur diese eine Reaktion opportun: ich küsste sie. Ihre Lippen waren zugewandt, warm, weich und feucht, sie widersprachen den ambivalenten Sätzen, die sie Sekunden zuvor geformt hatten. Dieses Mal mundete es wie ein süßes Versprechen, nicht wie Kinderschokolade.

Ich dankte dem Schicksal und träumte mich in die soeben geborene Woche.


Meine Gefühlsampel war von Rot auf Gelb umgesprungen. Wollte ich nicht beim nächsten Grün über die Kreuzung fahren, hätte ich längst abbiegen, einparken oder den Motor abwürgen müssen. Wenn mich mein innerer Tacho nicht täuschte, hatte meine Zuneigung Fahrt aufgenommen. Mein rechter Fuß stand, wie mit Bleigewichten beschwert, auf dem durchgetretenen Gaspedal. Jetzt noch bremsen? Lena allein konnte die Weiterfahrt boykottieren. Ich zweifelte indes nicht daran, dass wir dieselbe Richtung hatten.

Ihr Geständnis hatte Unsicherheit verraten. Ausschlaggebend, so fand ich, war ihre Körpersprache, der ich mehr Zutrauen entgegenbrachte, als ihren unüberhörbaren „Bedenken“, die jenen ähnelten, die ich dabei war, über Bord zu werfen.

Ich bin kein Frauenversteher und maße mir nicht einmal ansatzweise an, zu wissen, wie eine Frau denkt oder fühlt, aber die menschliche Chemie ist ein Wunder der Natur. Wenn Zwei sich riechen können, dann ist im Geringsten Sympathie im Spiel. Wer meine hormonellen Botenstoffe empfangen, dechiffrieren und erwidern kann, ist mir wichtig, ist auserkoren, zur guten Bekannten, Freundin oder, in Sonderheit, zum Lieblingsmenschen zu werden.

Mein Entschluss stand fest: Ich wollte auf sie achtgeben und ihr beistehen, sofern sie es zulassen würde. Die Begleitumstände, ihre Krankheit, ihre Familie und die Schlammschlacht mit ihrem intriganten Mann, schreckten mich nicht. Ich war und bin nicht der Beschützertyp, den sich viele Frauen vermeintlich wünschen, aber ich billige mir in aller Unbescheidenheit zu, dass ich Geborgenheit und Wärme zu schenken vermag, nicht vorrangig durch Sprache, sondern durch emotionale Präsenz.


Am späten Montagnachmittag schellte es Sturm. Ich musste nicht den Türgucker bemühen, um zu wissen, wer draußen stand.

„Hallo“, sagte Lena, ihr bewölkter Gesichtsausdruck und zwei schmale, parallel zwischen den Augenbrauen verlaufende Fältchen kündigten neue Komplikationen an.

„Ich bin ein wenig neben der Spur und brauche schon wieder deine Hilfe.“ Sie gab sich schuldbewusst. „Mein Vater hat mich hergebracht, und ich doofe Kuh habe meinen Autoschlüssel vergessen. Jetzt ist er wieder weggefahren. Kannst du mich bitte zu meinen Eltern bringen?“

„Schon wieder ein Schlüsselerlebnis“, sagte ich belustigt. „Komm rein. Ich bringe dich nachher, wohin immer du willst.“

„Vergebung, aber es müsste jetzt sein. Sei mir nicht böse, aber um 19 Uhr beginnt der Elternabend für die Zwillinge und um dahinzukommen, brauche ich den Wagen.“

„Klar doch. Ich bin ein Menschenfreund und für meine Nächstenliebe …“

„… stadtbekannt“, ergänzte sie. „Ich mache es wieder gut.“

Auf der Fahrt war sie auffallend einsilbig, so als müsse sie abwägen, ob und wie etwas Bedeutungsvolles zu artikulieren sei. Ihre Unbeschwertheit war verschwunden, ihre Augen fixierten die Windschutzscheibe, gleichsam als erhoffe sie, dass dort ein durchlaufender Text, wie auf einem fiktiven Teleprompter, ihr die Wortfindung abnähme.

„Jetzt möchte ich Gedanken lesen können“, sagte ich. „Was geht vor hinter deiner hübschen Stirn?“

„Du gehst vor“, entgegnete sie unerwartet. „Du gehst vor und zurück, hin und her, auf und ab.“

„Und? Tut’s weh?“

„Erspar mir bitte deinen Sarkasmus. Aber wenn du schon fragst, es ist wie bei einer fortgeschrittenen Schwangerschaft, wenn der Fötus gegen die Bauchdecke tritt.“

„Eine sehr embryonale Parabel und nicht grade eine hochwertige Sympathiebekundung.“

„Ach, du“, sie legte eine Hand auf meinen rechten Arm, „sei nicht gekränkt, es ist halt eine schwierige Geburt. Ich kriege dich nicht aus meinem Kopf, und ich begreife nicht, was da in mir vorgeht. Ich war so perfekt eingesponnen in meinem Kokon und jetzt du: Konfusion! Herzrasen! Schweißhändchen und zittrige Knie!“

„Vielleicht kannst du mich noch abtreiben.“

„Zu spät.“ Beredte Pause. „Um im Jargon zu bleiben, du warst kein Wunschkind, ich habe dich nicht gesucht und nicht von dir geträumt. Ehrlich, ich habe mich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, umsonst: Ich habe mich in dich verliebt, ratzfatz, einfach so! Das war in meinem Mikrokosmos nicht vorgesehen, das musste ich erst mal wollen dürfen und richtig einsortieren. Verstehst du das?“

Wir stoppten bei Rotlicht vor einer Kreuzung.

Liebe ist wie eine Sanduhr: Das Herz wird immer voller, aber der Kopf immer leerer“, rezitierte ich. „Ich war ähnlich unentschlossen, aber seitdem ich dich getroffen habe, kann ich an nichts anderes mehr denken. Ich habe mich in dich verliebt, ratzfatz, und ich wünsche mir, dass wir zusammenbleiben.“

Wahrscheinlich hätte es eine klügere Formulierung für die nun folgende Frage gegeben. „Haben wir eine Perspektive?“

Ich war schon ein seltsamer Vogel. Vorgestern noch auf dem Singletrip, heute mit staksigen Beinen auf einem zaghaften Zweierkurs, der, kaum beschritten, nach Verbindlichkeit strebte. Bei aller Gewogenheit und so wenig ich mich vor Unwägbarkeiten fürchtete, in dieser Situation gedachte ich nicht, ihr x. von y Problemen zu werden.

Lena reagierte abgeklärt, wenn auch leicht pathetisch: „Der Weg ist das Ziel“, sagte sie. „Lass uns losmarschieren und sehen, wie weit wir kommen und wohin es uns verschlägt.“ Ihre niedlichen Grübchen enthüllten Zutrauen und Herzenswärme.

Bei einem satten Ampelgrün starteten wir Händchenhaltend auf den ersten Kilometer unserer gemeinsamen Route. Mehr Symbolik ging nicht.


Inmitten des abendlichen heute-journals lärmte die Türglocke. Wenngleich sie sich nicht angekündigt hatte, wäre ich enttäuscht gewesen, hätte nicht Lena den Klingelknopf traktiert.

„Komme ich ungelegen?“, fragte sie. „Hätte ich vorher durchrufen sollen?“

Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn er der schönen Nachbarin gefällt“, deklamierte ich.

„Ich kann auch wieder gehen.“

„Hier geblieben.“

Was für eine Frau! Um bei dem Bild, das sich mir darbot, nicht ins Schwärmen zu geraten, hätte ich eine Sehschwäche haben und blutleer sein müssen.

„Du verschlägst mir den Atem“, sagte ich.

Sie trug ein figurbetontes, hellblauses, stoffarmes Minikleid, einen Hauch von Wenig. Darüber einen offenen Jeans-Bolero mit halben Ärmeln. Hinreißend, sexy, verlockend. Wäre ich spottsüchtiger gewesen als ich bin, hätte ich fragen müssen, ob sie einen Waffenschein besäße.

„Extra für den Elternabend?“, fragte ich.

„Extra für den netten Klassenlehrer, du Spaßkeks“, entgegnete sie spitz. „Aber ehe ich hier Wurzeln schlage, hättest du die Liebenswürdigkeit, mich reinzubitten? Die Zeit, in der ich gerne in Hauseingängen stand, ist schon lange passé.“

„Du hast nicht eventuell deinen Schlüssel verlegt?“

Sie folgte mir ins Wohnzimmer. „Mit deiner sarkastischen Ader muss ich mich erst anfreunden.“

„Sorry, aber du hast mich echt umgehauen. Du bist eine wandelnde Venus.“

„Nur wegen dieses Fummels? Und was ist mit meinen inneren Werten? Gelten die gar nichts?“

„Ich darf doch wohl annehmen, dass dein Äußeres und dein Auftreten deine inneren Werte verkörpern. Oder verstecken sich in deinem Kern irgendwelche Unwerte oder Unarten? Außerdem wärest du auch in Schlabberhosen und Badelatschen begehrenswert.“

„Das sind mal Komplimente, da hast du gerade noch die Kurve gekriegt. Aber es stimmt, das Teil hat was. Ich hab es noch nie getragen, aber heute war mir danach.“

Sie schwenkte ihre Beuteltasche. „Ich habe dir etwas mitgebracht.“

Sie entnahm dem Beutel einen Zeichenblock und zeigte mir ein Porträt, angelehnt an meine Physiognomie, überpointiert, aber unverkennbar, brillant gestrichelt, schraffiert und getuscht. Große Ohren, riesige Augen, breiter Mund, langes Kinn und eine stattliche Nase.

„Sensationell“, sagte ich. „Danke, das wird gerahmt und kommt in mein Büro. Du bist wirklich sehr talentiert.“

„Mein Einstandsgeschenk“, entgegnete sie, „und dann habe ich noch etwas.“ Sie stellt eine Flasche Champagner auf den Tisch. „Gut gekühlt, und zum sofortigen Verzehr bestimmt. Etwas für besondere Anlässe.“

„Was verschafft mir die Ehre? Gibt es etwas zu feiern?“

„Ja, uns. Oder hast du etwas anderes vor?“

Ich machte mich daran, die Flasche zu öffnen. „Bei Weißwein denkt man Dummheiten, bei Rotwein sagt man Dummheiten, bei Schampus macht man Dummheiten. Französische Spruchweisheit von einem unbekannten Lebemann.“ Der Korken flog mit einem lauten Knall an die Zimmerdecke. „Brauchen wir Gläser?“

„Ach, was. Hoch woll’n wir leben!“

Wir tranken das edle Gesöff direkt aus der mondänen Flasche, stilwidrig, aber mit Genuss.

„Dann machen wir jetzt Dummheiten.“ Die Venus wirkte kokett und überzeugend.

Sie zog ihr Jäckchen aus und warf es achtlos auf einen Sessel. Dann streifte sie zu meinem nicht geringen Erstaunen die dünnen Träger ihres Kleidchens über die Schultern und ließ es mit graziösen Bewegungen zu Boden gleiten. Keine überzogenen Gebärden und nicht die kleinste Andeutung von Scham.

Ein betörender Anblick für verwöhnte Götter, und die leibhaftige Versuchung für den auferstandenen Amor in mir. Selbst die auffälligen Narben, senkrecht vom Nabel abwärts bis zum Schambein und waagerecht von Beckenknochen zu Beckenknochen, sowie ein Muttermal unter der rechten von ihren wohlgeformten Brüsten, vermochten ihrer Aura nichts anzuhaben.

„Bist du bereit für unseren First-night-stand?“, fragte sie. „Meine Yoni ist waidwund. Du kannst Beute machen, aber töte mich nicht zu schnell.“ Sie ergriff meine Hand. „Gehen wir unter die Dusche oder magst du es lieber schmutzig?“


DIE TRAURIGKEIT DER LÖWEN

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