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Steinschlag

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Die Vernunft gebietet mir, meinen Verstand einzusetzen, aber darauf falle ich nicht immer herein, ungeachtet meiner Präferenz für durchdachtes und systematisches Vorgehen. In mir residiert eine autarke Instanz, die ich vage in der Körperregion von knapp oberhalb bis knapp unterhalb des Zwerchfells verorte. Sie urteilt nach ureigenen Normen und Algorithmen. Ihre Weisungen sind nicht bindend, aber immer von Gewicht. Sie verschließt sich dem Verstand nicht, aber sie ist wehrhaft und kommt gut ohne ihn aus.

Wider die Vernunft glaube ich an Liebe auf den ersten oder zweiten Blick. Liebe auf den dritten Blick klammer ich nicht aus, wenn denn der erste mindestens vitales Interesse und der zweite vorsichtiges Begehren geweckt hat. Liebe beim vierten, fünften oder zehnten Hinschauen mag es geben, mir persönlich ist sie noch nie untergekommen.

Manchmal passen solche Gefühle nicht ins selbstgestrickte Programm oder in die aktuelle Lebenssituation. Aber gibt es ihn, den richtigen Zeitpunkt zum Verlieben? Wann ist es zu früh, und wann ist alles zu spät? Wie sagt der Philosoph? „Es gibt keine falsche Zeit, nur falsche Entscheidungen.“ Leider hilft dir dieses kategorische Credo nicht weiter, denn du musst auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Bleibt zu klären, wo dieser Ort liegt und wer oder was dich punktgenau dahinführt.

Woran ich nicht glaube, ist der Zufall oder an das, was die Allgemeinheit herkömmlich darunter versteht: etwas nicht Vorhersehbares, nicht Ableitbares und vorwiegend Grundloses. Andererseits bin ich ebenso skeptisch, was den geläufigen Gebrauch des Begriffs Schicksal angeht. Es will mir intellektuell nicht einleuchten, dass Dinge, die uns zuteilwerden, vorbestimmt sein sollen. Die Gottheiten aller Welt- und Volksreligionen zusammen hätten viel zu schaffen, wollten sie jedes flüchtige Zusammentreffen von Menschen, jeden Schnupfen oder jeden Rasenschnitt arrangieren und ihnen eine Bedeutung zumessen. Dennoch, es passiert nichts ohne Anlass. Dem klassischen Ursache-Wirk-Prinzip stehen angeblich nur die Phänomene der Quantenphysik entgegen, aber das ist kein Gewerbe, in dem sich ein achtbarer Kaufmann auskennen muss.

Auch die Geisteswissenschaften werden mich vermutlich ad absurdum führen. Sie werden lediglich der These zustimmen, dass dem Menschen die Idee einer Fügung gefällt, weil das Gehirn darauf geeicht ist, in allem, was geschieht, nach einem Zweck zu fahnden. Diese Annahme kann ich nicht widerlegen, aber ich relativiere sie. Buddha sagte einst: „Das Ereignis erscheint erst, wenn du bereit bist“, und William Shakespeare schrieb: „Es liegt nicht in den Sternen, unser Schicksal zu bestimmen, sondern in uns selbst.“

In der Zusammenfassung dieser Auslegungen komme ich zu dem Schluss, dass das, was wir Schicksal nennen, uns in Konstellationen und unter Voraussetzungen trifft, die zu unserem Wesen, unserer Haltung, Lebensart und Verfassung passen. Das Schicksal ist demzufolge keine allgemeingültige Größe und nicht der Inbegriff okkulter Mächte. Es ist nicht beliebig und auch nicht unabwendbar, sondern in Entstehung, Ablauf und Ergebnis durch uns und- oder das Drumherum begünstigt oder nicht verhindert, mehrheitlich unbeabsichtigt und unbewusst.

Doch „selbst der Zufall ist nicht unergründlich“, behauptet Novalis, deutscher Schriftsteller der Frühromantik, und der Psychoanalytiker C. G. Jung postuliert: „Was einem Menschen widerfährt und wann es ihm widerfährt, ist charakteristisch für ihn. Kein Zufall, sondern eine Notwendigkeit.“ Dieser Lesart kann ich mich behelfsmäßig anschließen. Es gibt immer einen Antrieb, der Menschen dazu bewegt, sich mit einer Sache zu beschäftigen und grade hier und nicht dort zu sein. Dass dann hier etwas stattfindet und nicht dort, liegt nicht nur an den Gegebenheiten. Wenn du einen unbefestigten Abhang hinaufkletterst, besteht eine größere Wahrscheinlichkeit, dass du von Geröll getroffen wirst, als wenn du den gesicherten Wanderweg benutzt.

Den weitergehenden Ansätzen des französischen Dichters Anatol France, „Der Zufall ist vielleicht Gottes Deckname, wenn er sich nicht zu erkennen geben will“, oder Albert Einsteins Metapher, „Gott würfelt nicht“, kann ich nicht viel abgewinnen. Sie unterstellen per Definition die Einflussnahme übersinnlicher Kräfte, und das ist eine Grauzone, die zu betreten ich mich schwertue, weil es meine Fähigkeit des Verstehens überschreitet.

Der guten Ordnung halber räume ich ein, dass es eine Zeit vor dem Erwachsensein gab, in der mir meine christliche Erziehung eingetrichtert hat, dass „der Mensch denkt und Gott lenkt“. Wenn dir dieser Allgemeinplatz aus den Sprüchen Salomos implantiert wird, kommst du schwer los von der Vorstellung, dass dein Lebensweg in groben Zügen vorgezeichnet ist. Mit zunehmendem Alter findest du Hilfskonstrukte, die es dir erlauben, selbstständig zu denken und zu handeln, statt mit einem Fingerzeig von oben zu rechnen.

Mein Geist greift hier instinktiv zu einem Trick: ich teile alle Begebenheiten und Sinneseindrücke in wichtig, nebensächlich und unerheblich ein. Mein eigenwilliges Mantra: „Was mir wichtig ist, kommt nicht aus dem Nichts.“

Wichtig ist alles, was innerlich Spuren hinterlässt, positiv wie negativ. Ein Vorgang, eine Begegnung oder eine Berührung, wie immer sie zustande gekommen sein mögen, die etwa 30 Minuten nachwirken. Was mir wichtig ist, beschäftigt mich in der Regel länger als eine halbe Stunde, manches tagelang, etliches monatelang, einiges jahrelang. Und in diesem Kontext rede ich vom Zufall als des Schicksals „kleinem Bruder“, der dann greift, wenn mir Ereignisse oder Personen nicht wichtig erscheinen.

Die vorgenannten Adjektive sowie mein Grundverständnis von Zufall und Schicksal, sind selbstredend subjektiv. Ich urteile nun einmal aus meinem eigenen Wertesystem heraus, und diese Messlatte ist für Andere nur von Belang, wenn sie von meinen Impressionen oder Bewertungen betroffen sind. Dass individuelle Gesinnungen und Wertmaßstäbe über die Jahrzehnte hinweg selten konstant bleiben, macht es spannend, aber nicht immer leichter.

Und was ist mit der Objektivität? Es gibt sie nicht, nicht in absoluter Form. Sie zählt zur weitverzweigten Großfamilie der Wahrheiten, über deren Vollkommenheit die Philosophie seit Urzeiten disputiert und an deren Unvollkommenheit sich Homo sapiens seit Kain und Abel abarbeitet.

Zur Quintessenz: Mein obligatorisches Zeitlimit war um ein Vielfaches überschritten. Schon nach dem zweiten Blick auf Lena, dämmerte mir, dass ich auf die abschüssige, steinschlaggefährdete Böschung zu geraten drohte.

Meine Bedenken vom Vortag waren nicht weggewischt, aber im Substantiv „Bedenken“ stecken das Verb „denken“ und die verstärkende Vorsilbe „be“. Von gezielter Kopfarbeit war ich jedoch weiter entfernt als mein Herz vom Hirn.


DIE TRAURIGKEIT DER LÖWEN

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