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2.

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Fast übergangslos landete ich in dem Gewirr von dröhnendem Lärm, schreienden Leuten und flimmernden Farben. Neben mir donnerte plötzlich der Lautsprecher einer Musikbox los, und die Leute um mich herum fingen an, wie wild auf der Straße herumzutanzen. Ich musste mich schon in den ersten Minuten bemühen, nicht total auszuflippen.

Ich hatte nämlich noch ein ganzes Stück zu laufen bis zu der Kneipe, die ich aufsuchen wollte. So richtig gemütliche, alte Kneipen gab es schon lange nicht mehr. Ich ging auch nur deswegen dorthin, weil sich da meist einige Leute aufhielten, die ich kannte. Ich hoffte, dort ein paar Freunde zu treffen und irgendwo einen Platz für die Nacht zu finden.

So schob und drängelte ich mich durch eine kreischende, wahnwitzige Menge, wurde einige Male von schwer bewaffneten Cops kontrolliert und konnte nur mit Mühe aufdringlichen Händlern und Frauen entgehen.

Ich hasste die Stadt!

Ich glaubte, dies war das Schlimmste, was die menschliche »Zivilisation« bisher durchgemacht hatte. Und das Übelste an der Sache war, dass man diesem Chaos, diesem gigantischen Unterdrückungsapparat nicht entkommen konnte. Früher hatte es immer Auswege gegeben, Fluchtmöglichkeiten, die von Minderheiten, Unterdrückten und Außenseitern mehr oder weniger genutzt wurden.

Ich hatte einige Bücher gelesen, verbotene natürlich, in denen Menschen in »demokratischere« Länder ausreisten, sich in die Natur zurückzogen oder im Untergrund in politischen Organisationen gegen Terrorregime kämpften.

Nichts von all dem war hier möglich. Nach dem letzten kurzen und schrecklichen Krieg waren nicht viele Menschen übrig geblieben - gemessen an der Bevölkerungsdichte, die vor dem großen Knall herrschte. Kaum hatten die Wissenschaftler und Politiker, die Bürokraten und Militaristen die ultimate Bombe entdeckt, gab es für sie nichts Eiligeres zu tun, als sie auch anzuwenden. Ein Bereinigungskrieg sollte wieder Platz für Investitionen machen. Der Vorteil: Die Bombe hinterließ keine Radioaktivität. Das Sterben war schmerzlos schnell, der Wirkungskreis enorm. Gegenden vom Ausmaß kleinerer Länder versanken in Sekundenschnelle in Schutt und Asche, Überlebende gab es kaum.

Der Krieg dauerte nur ein paar Tage. Dann wurde auch dem letzten hirnverbrannten, wahnsinnigen Faschisten klar, dass es keinen Zweck hatte, alle Menschen auszurotten. Denn über wen hätten sie dann das Netz der Ausbeutung auswerfen können?

Die Wirtschaft, die Technologie und der Verwaltungsapparat hatten durch den Krieg wenig Schaden genommen und erholten sich schnell, mit Ausnahme der »unbedeutenden« Staaten, die gleich völlig von der Landkarte ausradiert worden waren. Die neuen/alten Machthaber verstanden es, die alte Wirtschaftsordnung, das alte Gesellschaftssystem fast übergangslos fortzusetzen - noch perfekter und brutaler, als es vorher schon gewesen war. Sie hatten es dadurch leicht, weil sie während des Krieges alle Widerstandsgruppen systematisch zerschlagen hatten.

Das Leben jetzt konnte man entfernt mit der Welt, die Orwell in 1984 beschrieb, vergleichen, obwohl es gravierende Unterschiede gab. Die Überwachung und das gesamte Sicherheitssystem der Stadt jedenfalls funktionierten genauso, nur unauffälliger.

1984 stand natürlich auch auf der Liste der staatszersetzenden Bücher, und ich hatte Glück gehabt, dass ich wenigstens Bruchstücke hatte lesen können. Einem neutralen Beobachter wäre dort die Unterdrückung sofort aufgefallen, während die Stadt den Eindruck vermittelte, als lebten ihre Bewohner in Freiheit.

In der Tat wurde niemand gezwungen, einen erniedrigenden, dreckigen 10-Stunden-Tag in einer gigantischen Fabrik zu arbeiten. Doch dann gab's auch kein Geld, und damit auch nicht all die hübschen kleinen und großen Sachen, die man sich davon kaufen konnte. Und was anderes als kaufen und Geld ausgeben gab es nun mal nicht. Höchstens das Konsumieren des täglichen Tri-Di-Programms.

Das Leben stellte sich nicht so eintönig grau dar wie bei Orwell - es war viel bunter, schreiender. Und somit auch weniger leicht zu durchschauen. Von Kind auf wurden jedem eigene, kritische Gedanken oder Formen von Eigeninitiative ausgetrieben. Geschichtsfälschung und Medien spielten dabei eine große Rolle. So wurde praktisch das Leben vorprogrammiert, obwohl es aussah, als könnte jeder tun und lassen, was er wollte. Nur wenige hatten die Möglichkeit,diese Fassade zu durchschauen, sei es durch Zufall oder günstige Umstände.

Wer kam schon gegen eine sich überschlagende Vergnügungsindustrie, eine an allen Ecken ins Auge stechende Werbung und Mode, ein ewiges Durcheinander von Konkurrenz, Neid, Hass und Aggressionen an? Dies alles war von den Regs offiziell sanktioniert, Auswüchse und Widerstand wurden ohne Rücksicht restlos ausgetilgt.

Auswege gab es nicht. Hier, im ehemaligen Südengland, existierte nur diese einzige riesige Stadt - rundherum erstreckte sich Steinwüste,Unfruchtbarkeit und Leblosigkeit. Allein die Regs und ihre Vertrauten hielten Kontakt zu anderen Städten und Erdteilen. Und es gab meines Wissens keinen Flecken auf der Welt, der sich wesentlich von dem beschriebenen Bild unterschied. Und falls dies nur Propaganda war, konnte man es nicht überprüfen.

Bei all diesen immer wiederkehrenden Gedanken hatte ich fast im Traum die besagte Kneipe erreicht. Die Flügel der breiten Tür standen weit offen, und aus dem knallgrünen Gebäude drang ein Schwall von lauten Worten und beißendem Qualm.

Ich spähte erst mal vorsichtig hinein, um mich an das Dämmerlicht und die Rauchschwaden zu gewöhnen. Es stank nach Drogen, Schweiß und Zigaretten. Ich quetschte mich durch einen Wust von gestikulierenden, schreienden Menschen, Stühlen, Tischen und Glücksspielautomaten. Irgendjemand drückte seine Zigarette fast in mein Auge, ein anderer leerte sein Bier auf meiner Hose aus. Schimpfend und schwitzend entdeckte ich endlich im Hintergrund an einem kleinen Tisch einige bekannte Gesichter und schlängelte mich zu ihnen durch.

»Hey, Speedy!« rief jemand, und ich erkannte Yate, einen schon etwas älteren Saufbruder.

«Hallo!«, sagte ich müde und schob mich mühsam neben ihn auf die abgeschabte, rote Plastikbank.

Ich stellte den Beutel zwischen meine Füße - aus Vorsicht, falls jemand die Absicht hatte, ihn unauffällig mitzunehmen.

Die Mechano-Bedienung brachte mir ein großes, gepanschtes Bier, das mich erst mal einige Zeit in Anspruch nahm.

»Wo hast du dich rumgetrieben?«, fragte Cab.

Er beugte sich zu mir herüber, sodass ich sein tätowiertes Gesicht bald mit der Nase berührte.

»Ich war ne Zeit draußen.«

»Was?! Hast du ne Macke? Was hast du denn da gesucht?«

»Musik gehört, gelesen, nachgedacht …«

»Schön blöd!«, meckerte Yate. »Hast Glück gehabt, dass du mit heilen Knochen wieder hier gelandet bist.«

Das »Gespräch« fing an, mich total zu nerven. Aber welche Leute hatte ich hier sonst erwartet? Ich hielt also den Mund und versuchte mich etwas zu entspannen. Doch die ganze Hektik hier ließ auch das nicht zu. Yate und Cab beschäftigten sich wieder mit sich selbst, ihren Motorrädern, Glücksscheinen, Tri-Di-Filmen und Doog-Stangen.

Dann hielt mir jemand von hinten die Augen zu.

»Lucky?«, riet ich vorsichtig.

Er lachte leise, zog mich hoch und nahm mich in die Arme. Und plötzlich fiel das alles von mir ab, die Unsicherheit, die Angst, die Traurigkeit und die Müdigkeit. Ich konnte mich nur noch freuen, brachte sogar ein Lachen zustande. Ich hielt ihn krampfhaft fest und versank beinahe in seiner Umarmung. Dann drängte sich jemand anders an uns. Flie, die große, warme Flie!

»Schön, dass du wieder da bist«, sagte sie leise und küsste mich auf die Nase.

»Ich freu mich auch. Aber dass ihr hier seid …«

»Reiner Zufall«, grinste Lucky. »Wir wollten nur ein paar Knollen X abstauben. War aber nix.«

»Kommst du mit zu uns?«, fragte Flie spontan.

»Sofort.«

Ich spülte den Rest vom Bier hinunter und folgte den beiden.

Zurück ließ ich versoffene, langweilige, angepasste Typen wie Yate und Cab, aber auch Stucker, der still in einer Ecke saß, sodass ich ihn erst gar nicht bemerkt hatte und mich mit traurigen Augen musterte. Ich konnte es nicht ändern. Ein Gespräch mit ihm lag im Moment für mich nicht an.

An der Tür schloss sich uns noch eine Frau an, die auch nur mal reingeschaut hatte. Ich kannte sie nicht. Sie schien aber eine Freundin von Lucky und Flie zu sein.

Es war ziemlich spät geworden oder auch nicht - wie man's nimmt. Trotzdem war es dank der überwältigenden Beleuchtung auf den Straßen taghell. Wir versuchten, so gut es ging, dem Trubel auszuweichen und nahmen dafür auch einige Umwege in Kauf.

Flie und die andere Frau unterhielten sich lebhaft. während Lucky und ich schweigend nebeneinander hergingen.

Ich wunderte mich, dass er so ruhig war, denn gewöhnlich alberte er meist etwas herum oder versuchte ein Gespräch anzufangen. Schließlich fragte ich ihn, was los sei.

»Nicht einfach«, sagte er nachdenklich und kniff die Augen zusammen.»Ich fühle mich nur in letzter Zeit so komisch. Aber ich weiß nicht, woran das liegt. Ich bin unruhig und nervös und finde keinen Grund dafür.«

Er hörte wieder auf zu sprechen, und ich wusste auch nicht, was ich dazu sagen sollte. Ich hatte in den vergangenen Wochen viel zu wenig Kontakt zu ihm gehabt, sodass ich auch keine Vermutungen anstellen konnte, warum er unruhig war. Und dann erzählte er auf einmal was ganz anderes.

»Neulich bei der Arbeit«, fing er an - er arbeitete jetzt schon fast ein Jahr in der größten Bibliothek der Stadt, der Job war vielleicht ne Ecke besser wie so mancher andere - »du weißt ja, was ich mache, und dass ich mich nie so für die Bücher, die da rumstehen, interessiert habe. Ich bin eben der Meinung, dass das ganze Gewäsch niemandem helfen kann. Heutzutage werden kaum noch Bücher geschrieben außer Krimis, Heldengeschichten, Pornos und Love Stories. Ich habe früher einiges von dem alten Zeug konsumiert, aber ich finde, es ist einfach für heute nicht mehr interessant oder nicht anwendbar.«

Er war wieder ne Weile ruhig und ich drängte ihn nicht, weiterzumachen. Ich fand alles nur ziemlich unzusammenhängend und verstand noch nicht, worauf er hinauswollte, oder ob er überhaupt auf etwas hinauswollte. Aber irgendwas musste ihn ganz schön aufgerüttelt haben. Er wirkte direkt etwas hilflos auf mich.

»Also, pass auf!« Plötzlich sprudelte er los. »Neulich kam ein Typ bei uns rein, so kurz vor Mittag. Er ging sofort auf mich zu, obwohl Louis viel näher bei ihm stand. Er fragte mich etwas unbeholfen nach einem ganz bestimmten Buch. Also ehrlich, ich hatte weder Titel noch Verfasser jemals vorher gehört. Ich ging also rüber zum Computer und fragte in der Zentralkartei nach, aber das war auch negativ. Ich sagte dem Typ also Bescheid und fragte mich im Stillen, woher er den Titel hatte oder ob das vielleicht ein Index-Buch war. Da griff der plötzlich ins Regal und holte ein Buch raus. Er zeigte es mir, und es war genau das Buch, das er haben wollte.«

«Was?«, machte ich ungläubig. »Das gibt es doch gar nicht.»

«Tja, das dachte ich auch. Aber er hielt es mir hin und machte mich an, dass ich es nicht rausgesucht hätte. Ich erklärte ihm, dass das Buch nicht in der Kartei war, und fragte ihn, wie er es gefunden hätte. Er grinste mich ein bisschen blöd an, und weißt du, was er dann machte? Er hielt mir das Buch hin und sagte, ich sollte es mir mal gut durchlesen. Dann haute er wieder ab.«

»Ist der bekloppt?« Ich konnte das nicht begreifen. »Erst gibt er sich so viel Mühe, an das Buch ranzukommen und dann gibt er es dir.«

»Was meinst du, was ich dachte. Ich stand echt da wie ein Hampelmann.«

»Merkwürdig. Muss ich schon sagen. Hast du das Buch denn eigentlich gelesen?«

Jetzt wurde er ganz unsicher. »Ja, ich bin gestern damit fertig geworden. Aber ich bin nicht ganz durchgestiegen. Ich will es noch mal lesen.«

»Muss ja interessant sein, wenn du schon was liest und dann gleich doppelt.«

»Weißt du, es ist einfach ne Beschreibung. Ne Beschreibung, wie es auf der Welt heute aussieht und was aus ihr mal wird.«

»Das gibt es ja gar nicht«, wiederholte ich mich. »Bestimmt ein verbotenes Index-Buch.«

»Okay. Ich kann es dir ja zeigen, wenn wir oben sind.«

Wir waren nämlich inzwischen bei dem alten, grauen Wohnblock angekommen, in dem Flie, Lucky und noch fünf andere Leute zusammen wohnten. In den zwei anderen Wohnungen lebten ebenfalls Wohngemeinschaften.

Flie stieß die Tür auf. Es war stockduster. Wir stolperten im Eingangsbereich über ein Chaos von Abfall und Müll.

»Da hat schon wieder jemand den Müll umgekippt«, schimpfte Flie. »Der wird auch schon seit Wochen nicht mehr abgeholt.«

Der Block war nicht an das automatische Versorgungs- und Verwertungsnetz der Stadt angeschlossen. Normalerweise wurde der Müll regelmäßig abgefahren.

Auch das Licht funktionierte nicht, und wir tasteten uns im Dunkel die steinerne Treppe rauf.

»Ich glaube, die wollen uns hier vergraulen«, knurrte Flie.

»Ach was, die wollen nur testen, was wir aushalten können«, widersprach Lucky. »Sie haben uns hier besser unter Kontrolle als auf der Straße. Aber was anderes - wir könnten mal versuchen, jemand mit Wagen aufzutreiben, der uns den Dreck wegfährt.«

»Kennst du etwa jemand, der sich nen Wagen leisten kann?«, fragte Flie ironisch.

Sie öffnete die Wohnungstür und wir betraten einen kleinen Flur. Links lagen Bad und automatische Küche, rechts ging es zu den Zimmern. Alles war eng und niedrig. Ab und zu tropfte das Wasser von den Wänden, und es quietschte und knarrte bei jedem Schritt. Es hatte auch keinen Zweck, hier noch großartig was zu renovieren. Hier war wirklich alles zu spät und die Leute hatten gerade genug Bucks, um die notwendigsten Reparaturen durchführen zu können.

Wir schlichen durch Bowlers Zimmer - er schlief schon - dahinter lag Flies. Sie zündete schnell ein paar Kerzen an, die dem Raum ein warmes, gemütliches Licht gaben. Hinten links lagen mehrere bezogene Matratzen mit einer bunten Decke auf dem Boden - Flies Bett -, davor lag ein weicher, brauner Teppich. Eine VID-Kompakt-Anlage, einige persönliche undefinierbare Gegenstände und eine wuchtige Holztruhe mit ihren Klamotten füllten das winzige Zimmer ganz aus.

Wir setzten uns auf den Teppich und Flie stellte leise Musik an. Sie setzte sich mir gegenüber. Ihr langes, schwarzes Haar fing das Licht einer Kerze ein. Ich kannte sie schon lange, länger als Lucky oder Stucker. Und ich war vor einigen Jahren ne ganze Zeit mit ihr zusammen gewesen. Noch bis vor Kurzem hatten wir manchmal Tage und Nächte gemeinsam verbracht, bis ich mich von allem zurückzog.

Lucky war vor ungefähr vier Monaten aufgetaucht und einer ihrer besten Freunde geworden - und einer von meinen, wenn nicht überhaupt der beste, einzige. Er war hier eingezogen, nachdem die vorige Bewohnerin ihr Leben durch einen Sprung von der grünen Mauer beendet hatte. Ich hatte sie nicht gekannt, aber die Nachricht von ihrem Tod rief in mir wieder all die Gedanken über Selbstmord hervor, die ich schon tausendmal im Schädel gehabt hatte. Es führte zu nix, außer dass ich einige Tage wie besoffen in den Straßen rumhing. Im übrigen war die grüne Mauer natürlich nicht grün. Sie war nur von irgendwelchen Leuten so genannt worden, um an Gras und Pflanzen zu erinnern. Ich hatte noch nie Gras gesehen und ich glaubte auch nicht, dass es noch welches gab.

Mit Lucky hing ich damals oft zusammen. Tagelang waren wir sozusagen unzertrennlich. Er konnte einfach auf Leute eingehen, wie ich es noch nie erlebt hatte. Und er hatte ähnliche Gedanken im Kopf wie ich. Wir erzählten uns gegenseitig, wie wir uns ein besseres Leben vorstellten und lauter so 'n Zeug. Wir packten Sachen gemeinsam an, die keiner von uns allein geschafft hätte. Er half mir, manchen Job durchzustehen. Ich besuchte ihn oft in der Bibliothek. Es konnte uns natürlich nie gelingen, eine alternative Lebenspraxis zu entwickeln. Das waren halt immer nur Überlegungen. Bis ich es dann nicht mehr aushielt und alles hinschmiss. Lucky konnte da etwas mehr ertragen. Er hatte auch einen nicht allzu schlechten Job.

Ich hatte dann weder Wohnung noch Arbeit. Ich konnte eben die Wuchermiete ohne Arbeit nicht bezahlen. Der Staat aber ließ einen nicht verhungern. Das passte nicht in das Image einer Wohlfahrtsstadt. Er war so großmütig, dass er jedem erlaubte zu leben - unter seinen Bedingungen. Bloß wie soll man mit 300 Bucks im Monat auskommen. Das war gerade so viel, dass man nicht verhungerte. Und so arbeitete man eben meistens lieber.

Aber ich konnte nicht mehr arbeiten, nicht in den riesigen, brutalen Maschinenhallen. Und was anderes kriegte ich nicht ohne so ne Scheiß Uni-Ausbildung. Da nahm ich doch lieber den entmenschlichenden Gang zum Wohlfahrtsamt auf mich und bettelte um das Geld, um mich so gut ich konnte durchzuschlagen. Jedes Mal machten mich die Verwaltungstypen an, dass sie mir gar kein Geld zu geben brauchten. Ich hätte ja selbst Schuld, dass ich mein Studium aufgegeben hätte. Und wenn ich schon nicht studieren würde, sollte ich wenigstens arbeiten. Sie saßen da lässig zurückgelehnt in ihren Stühlen, laberten gnädig wie Pfaffen, elende Arschkriecher. Sie wussten genau, dass sie Menschenleben entscheidend beeinflussen konnten, dass die Leute, die zu ihnen kamen, von ihnen abhängig waren. Und so zwangen sie einen, ihre Predigt bis zum Schluss anzuhören, nichts dagegen zu sagen, nur stumm zu nicken, sich selbst zu verleugnen. Widerlich!

Gerade das mit der Uni hatten kaum Leute verstanden. Denn mit so einer Ausbildung hätte ich ja selbst einer von diesen Blutegeln werden können. Oder vielleicht Oberaufseher in einer Fabrik, immer vergnügt die Leute zur Arbeit anhaltend. Oder Jurist, um einen Computer um Gnade für einen Systemschädling anzuflehen. Oder Architekt, um einen prunkvolleren Regierungspalast zu entwerfen. Oder … nein danke. Das reicht wohl. Und man kann sich vorstellen, mit was für Leuten ich da zusammengekommen bin. Ich weiß gar nicht mehr genau, wie ich es eigentlich geschafft habe, mich von dieser erlauchten Gesellschaft abzusetzen. Ich hatte ja damit nicht nur einen Beruf verloren, sondern gleichzeitig alle Rechte. Als Abschaum der Gesellschaft wird man von niemandem akzeptiert außer von denen, die auch in dem Schaum rumspülten.

Tja, so waren mal wieder die Gedanken mit mir durchgegangen. Lucky hatte längst Bier aus seinem Zimmer geholt. Eine leichte Unterhaltung über Gott und die Welt war in Gang gekommen. Ich erfuhr, dass das fremde Mädchen Yuka hieß und das Glück hatte, in einem der Randbezirke im Büro zu arbeiten. Ich beteiligte mich kaum an dem Gespräch, denn ich war eigentlich schrecklich müde und überlegte dauernd, ob ich mich in Luckys Zimmer schlafen legen sollte.

Und dann geschah auf einmal etwas Merkwürdiges mit mir.

Ich lehnte an der Wand und hatte plötzlich den Eindruck, als ob sie nach hinten wegkippte. Ich fand keinen Halt mehr und fiel hintenüber. Mir kam flüchtig der Gedanke, dass irgendein Dope im Bier gewesen war, aber ich verwarf das sofort wieder, da ich keinem hier so was zutraute. Ich versuchte mich aufzurichten - vergeblich. Ich steckte irgendwie in einer dicken, zähen Suppe. Ich konnte weder rufen noch mich sonst irgendwie bemerkbar machen. Ich kriegte furchtbare Angst, da ich mir das alles nicht erklären konnte. Dann verschwand auch noch die gewohnte Umgebung, und ich sah nur noch ein milchigweißes Flimmern.

Und dann hörte ich auch noch Stimmen. Stimmen, die ich noch nie vorher gehört hatte. Ich dachte, ich würde durchdrehen. Von dem, was sie sagten, verstand ich immer nur einzelne Satzbrocken, weil sie manchmal so leise waren, dass sie bis auf ein Flüstern erstarben. Ich hörte:

»… funktioniert … wenig … Energie … sichtbar machen.«

Und die zweite Stimme;

»… Unsinn … nichts … anfangen … vor dem Rat.«

Es machte mich stutzig, dass vom Rat die Rede war, denn so nannte sich die Regierung.

Ehe sich mein Kopf noch weiter vernebelte, verschwand der ganze Spuk wieder und ich rappelte mich mühsam auf.

»Bist du eingeschlafen?«, fragte Flie.

Ich schüttelte vollkommen benommen den Kopf.

»Leg dich doch zu mir rüber. Ich muss morgen erst später hin. Wir können dann noch zusammen frühstücken.«

Das ließ ich mir von Lucky nicht zweimal sagen. Es war auch das Beste, was ich jetzt tun konnte. Mein Kopf fühlte sich an, wie ein Feuerwerk. Und dieser Spuk war richtig unheimlich gewesen. Er hatte den Eindruck hinterlassen, als hätte ich das alles nicht nur gefühlt und gehört, sondern mit dem ganzen Körper aufgenommen. Und das war trotz aller Angst ein gutes Gefühl gewesen. Es war heute einfach zu viel geschehen. Ich war unheimlich froh, als ich auf Luckys Bett lag. Ich brachte es gerade noch fertig, meine Klamotten auszuziehen, bevor ich einschlief.

Kontrolle

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