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Die Seele

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Das Unfühlbare, Unsichtbare, Unkörperliche, das allem Existierenden Leben gibt, nennen wir Gott. Dieses selbe unfühlbare, unsichtbare, unkörperliche Prinzip nennen wir, wenn es durch den Körper von uns allem Übrigen getrennt ist, und wir es in uns erkennen: Seele.

Was ist die Seele?

Wer lange lebt, macht viele Veränderungen durch – ist zunächst Säugling, dass Kind, dann ein Erwachsener, dann Greis. Wie sehr man sich aber auch verändert, man spricht von sich selbst per „Ich“. Und dieses „Ich“ war und ist stets dasselbe. Es ist dasselbe im Säugling, im Erwachsenen und im Greise. Dieses unveränderliche im Erwachsenen und im Greise. Dieses unveränderliche „Ich“ ist das, was wir Seele nennen.

Die Annahme, dass alles, was wir um uns sehen: die ganze unendliche Welt genau so sei, wie wir sie sehen, ist ein großer Irrtum. Wir kennen die Körperwelt nur, weil wir ein bestimmtes Gesicht, Gehör, Gefühl besitzen. Wären diese Sinne anders, so würde die ganze Welt anders werden. Also wissen wir nicht, können wir nicht wissen, wie die materielle Körperwelt, in der wir leben, beschaffen ist. Das einzige, was wir genau und vollständig kennen, ist unsere Seele.

Das „Ich“ ist geistig

Wenn wir „Ich“ sagen, sagen wir das nicht von unserem Körper, sondern von dem, wodurch unser Körper lebt. Was ist nun dieses „Ich“? Mit Worten können wir es nicht ausdrücken. Dabei kennen wir es besser als alles andere. Wir wissen, dass, wenn dieses Ich nicht wäre, wir gar nichts wüssten; dass dann für uns nichts in der Welt wäre; dass wir selbst nicht wären.

Wenn ich genau nachdenke, ist es schwerer zu begreifen, was mein Körper, als was meine Seele ist. Wie nahe mir mein Körper auch ist, er bleibt stets etwas Fremdes; nur die Seele ist mein.

Wenn jemand in sich keine Seele kennt, heißt das nicht, dass er keine besitzt, sondern nur, dass er noch nicht gelernt hat, die Seele zu erkennen.

Solange wir nicht wissen, was in uns ist, welchen Nutzen hat es da, zu wissen, was außer uns ist? Kann man ohne Kenntnis seines Ich die Welt kennen? Kann der zu Hause Blinde auf Besuch sehend sein?

Wie ein Licht nicht ohne Flamme brennen kann, so kann der Mensch nicht ohne geistige Kraft leben. Diese Kraft lebt in allen Menschen, aber nicht alle wissen es.

Froh ist das Leben dessen, der es weiß; unglücklich dessen, der es nicht weiß.

Seele und Körperwelt

Wir haben die Erde, Sonne, Sterne und Meerestiefen ermessen, schürfen tief im Erdinnern nach Gold, durchsuchen Flüsse und erforschen die Berge auf dem Mond; entdecken neue Sterne, bestimmen ihre Größe, überbrücken Abgrunde und konstruieren sinnreiche Maschinen – kein Tag vergeht ohne neue und immer neue Erfindungen. Was verstehen wir, was können wir nicht alles! Und doch gibt es etwas, das Allerwichtigste, womit wir unzufrieden sind, was uns nicht genügt. Was das eigentlich ist, wissen wir selbst nicht. Wir gleichen in dieser Beziehung kleinen Kindern: sie fühlen, dass ihnen nicht gut ist, wissen aber nicht, woher das rührt.

Uns ist deshalb nicht gut, weil wir zwar viel Überflüssiges kennen, das notwendigste aber, uns selbst, nicht kennen. Wir wissen nicht, wer in uns lebt und kennen Ihn nicht. Wenn wir das wissen und Ihn kennen würden, würde unser Leben ganz anders sein.

Von allen körperlichen Dingen in dieser Welt können wir nicht wissen, wie sie eigentlich beschaffen sind. Wir kennen eigentlich nur das geistige Wesen in uns, das wir als unser Ich bezeichnen und das weder von unseren Sinnen, noch von unseren Gedanken abhängt.

Die Welt ist unendlich, muss unendlich sein: wie entfernt etwas auch ist, es gibt immer noch etwas Entferntes. Genau so ist es mit der Zeit; hinter der entferntesten Vergangenheit gibt es immer noch eine entferntere. Deswegen ist klar, dass wir nicht wissen können, woraus die materielle Welt jetzt besteht, was sie früher war und dereinst sein wird.

Was können wir denn aber erkennen? Das eine, wozu wir weder Raum noch Zeit nötig haben – unsere Seele.

Die Menschen glauben oft, nur das existiere, was sie mit Händen greifen können; dabei existiert in Wirklichkeit nur das, was man weder sehen, noch hören, noch fühlen kann, was wir unser Ich, unsere Seele nennen.

Konfuzius sagte: Himmel und Erden sind groß, haben aber Farbe, Form und Ausdehnung. In Menschen dagegen ist etwas, was über alles Existierende nachdenkt und weder Farbe, Form und Ausdehnung hat. Wenn die ganze Welt tot wäre, würde das, was im Menschen ist, allein der Welt Leben verleihen.

Eisen ist fester als Stein, Stein fester als Holz, Holz fester als Wasser, Wasser fester als Luft. Was man aber nicht fühlen, nicht sehen und nicht hören kann – ist das Allerfesteste. Nur dieses war, ist, wird sein und geht niemals zugrunde.

Was ist das? Die Seele im Menschen.

Es ist dem Menschen gut, darüber nachzudenken, was er samt seinem Körper ist. Dieser Körper erscheint groß im Vergleich mit einem Floh, winzig im Vergleich mit der Erde. Es ist auch gut, daran zu denken, dass unsere ganze Erde ein Sandkorn im Vergleich mit der Sonne, und die Sonne ein Sandkorn im Vergleich mit dem Sirius, der Sirius - : nichts im Vergleich mit anderen noch größeren Gestirnen ist und so weiter, ohne Ende.

Klar, dass der Mensch mit seinem Körper nicht im Vergleich mit dieser Sonne und den Sternen ist. Wenn man sich aber weiter vergegenwärtigt, dass von jedem von uns nicht die Spur eines Gedankens vorhanden war, als vor tausend, vor vielen tausend Jahren ebensolche Menschen wie wir geboren wurden, heranwuchsen, alterten und starben; dass von Millionen und Abermillionen ebensolche Menschen wie wir nicht nur keine Gebeine, sondern nicht ein Mal die Asche der Gebeine übrig geblieben ist; dass nach uns Millionen und Abermillionen ebensolcher Menschen leben werden; dass aus unserm Staube Gras wächst, das die Schafe fressen, die selbst wieder von Menschen verzehrt werden, während von uns aber kein Stäubchen, keine Spur übrig bleibt – wird dann nicht klar, dass wir nichts sind.

Alles recht und gut – aber Nichts kann sich nicht begreifen und auch nicht seinen Platz in der Welt. Wenn es das dennoch tut, so ist dieses Begreifen nicht Nichts, sondern das Allerwichtigste in der ganzen unendlichen Welt, weil ohne dieses Begreifen weder in mir noch in anderen mir ähnlichen Wesen etwas von alledem wäre, was ich als diese unendliche Welt bezeichne.

Seele und Körper im Menschen

Wer bist du? „Ein Mensch!“ Was für ein Mensch? Wodurch unterscheidest du dich von anderen? „Ich bin Sohn, Tochter, der und der Eltern; bin alt, jung, reich, arm.“

Jeder von uns ist als Mann, Weib, Greis, Knabe, Mädchen von allen anderen Menschen verschieden; und dabei lebt in jedem von uns, in uns allen ein und dasselbe geistige Wesen, so dass jeder von uns Sohn oder Tochter, Greis oder Knabe, und außerdem ein und dasselbe geistige Wesen ist. Wenn wir sagen: Ich will, so heißt das bisweilen, dass jener Sohn, oder jene Tochter, Karl oder Marie, will; bisweilen aber jenes geistige Wesen, das in allen dasselbe ist. So kommt es vor, dass Karl oder Marie dieses, das geistige Wesen in ihnen aber etwas ganz anderes will.

Es klopft jemand an der Tür. Ich frage: wer ist da? Antwort: „Ich!“ – Wer: „Ich!“ – „Ich bin es“, erwidert der Betreffende erstaunt. Es ist ein Bauerjunge. Er wundert sich darüber, dass man fragen kann, wer dieses „Ich“ ist? Wundert sich, weil er das eine geistige Wesen in sich fühlt, das in allen dasselbe. Wundert sich, dass man nach etwas fragen kann, was jedem bekannt sein muss. Er spricht von dem geistigen Ich, ich dagegen frage nach dem Fensterchen, durch welches dieses Ich hindurchschaut.

Behaupten, dass das, was wir unser Ich nennen, nur Körper sei; dass auch unser Verstand, unsere Seele, unsere Liebe – dass alles das nur vom Körper herrühre – ist gerade so, wie die Behauptung: unser Körper sei nur die Speise, von der der Körper sich nährt. Gewiss ist mein Körper Speise, die der Körper verarbeitet; ohne Speise gäbe es keinen Körper; aber trotzdem ist mein Körper nicht die Speise. Speise ist das zum Leben des Körpers Erforderliche, nicht aber der Körper selbst.

Genau so ist es mit der Seele. Ohne meinen Körper würde das, was ich Seele nenne, nicht existieren; trotzdem ist meine Seele nicht der Körper. Der Körper ist für die Seele notwendig, ist aber nicht sie selbst. Gäbe es keine Seele, so würde ich auch nicht wissen, was mein Körper ist.

Der Grund alles Lebens liegt nicht im Körper, sondern in der Seele.

Wenn wir sagen: dieses war, das wird sein, oder kann sein – so sagen wir das nur vom körperlichen Leben. Außer diesem körperlichen Leben, das war und sein wird, kennen wir in uns noch ein anderes Leben: das geistige. Dieses geistige Leben war nicht und wird nicht sein sondern ist jetzt. Dieses Leben ist das wirkliche. Wohl dem Menschen, der dieses geistige und nicht das körperliche Leben lebt.

Christus lehrt die Menschen, dass in ihnen etwas ist, was sie über dieses Leben mit seinem Jagen, seiner Angst und Lust emporhebt. Wer die Lehre Christi begreift, hat dasselbe Gefühl, wie ein Vogel, der bis dahin nicht wusste, dass er Flügel besitzt und nun plötzlich begreift, dass er fliegen und frei sein kann und nichts zu fürchten braucht.

Das Gewissen ist die Stimme der Seele

In jedem Menschen leben zwei Wesen: ein blindes körperliches, und ein sehendes, geistiges. Das erste, blinde, isst, trinkt, arbeitet, ruht sich aus, pflanz sich fort usw. alles wie eine aufgezogene Uhr. Das andere, sehende, geistige Wesen tut selbst nichts, sondern billigt oder missbilligt nur, was das blinde, animalische Wesen tut.

Den sehenden, geistigen Teil eines Menschen nennt man Gewissen. Dieser geistige Teil, das Gewissen, funktioniert genau wie die Magnetnadel in einem Kompass. Die Nadel rückt nur dann von der Stelle, wenn der Träger des Kompasses von dem Wege abweicht, den die Nadel angibt. Dasselbe ist mit dem Gewissen der Fall: es schwiegt solange der Mensch seine Pflicht tut. Sobald man aber vom richtigen Wege abweicht, zeigt das Gewissen an, wie weit und wohin man abgeirrt ist.

Wenn wir hören, dass jemand etwas Schlechtes begangen hat, sagen wir: er hat kein Gewissen.

Was ist denn das Gewissen? Die Stimme des einen geistigen Wesens, das in allen Menschen lebt.

Das Gewissen ist das Bewusstsein des geistigen Wesens, das in allen Menschen lebt. Nur wenn es dieses Bewusstsein ist, ist es ein richtiger Führer auf dem Lebenswege. Es kommt aber oft vor, dass Menschen für das Gewissen nicht das Bewusstsein dieses geistigen Wesens halten, sondern dasjenige, was von ihren Mitmenschen für gut oder schlecht gehalten wird.

Die Stimme der Leidenschaften kann lauter sein, als die des Gewissens; sie ist aber ganz anders, als die ruhige, hartnäckige Stimme, mit der das Gewissen zu uns spricht. Wie laut die Leidenschaften auch schreien vor der leisen, ruhigen, hartnäckigen Stimme des Gewissens werden sie dennoch zaghaft. Aus dieser Stimme spricht das Ewige, Göttliche, das im Menschen lebt.

Kant sagt: zwei Dinge setzen ihn am meisten in Erstaunen: der gestirnte Himmel über ihm und die Stimme des Gewissens in der Seele des Menschen.

Das wahre Gute liegt in dir, in deiner Seele. Wer das Gute nicht in sich sucht, handelt wie der Hirt, der das Lamm in der Herde sucht, das er am Busen trägt.

Das Göttliche der Seele

Zunächst erwacht im Menschen das Bewusstsein seiner Getrenntheit von allen übrigen Dingen, das heißt: seines Körpers. Dann das Bewusstsein dessen, was getrennt ist, d.h. seiner Seele; hierauf das Bewusstsein dessen, wovon diese geistige Grundlage des Lebens getrennt ist. Das ist das Bewusstsein des All: Gott.

Eben dieses Etwas, das seine Trennung vom All, von Gott erkannt hat, ist das eine geistige Wesen, das in allen Menschen lebt.

Sich als ein getrenntes Wesen erkennen, heißt die Existenz dessen erkennen, wovon man getrennt ist: die Existenz des All: Gottes.

„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: wer mein Wort höret und glaubet dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurch gedrungen. Wahrlich, wahrlich ich sage euch: es kommt die Stunde, und sie ist schon da, dass die Toten werden die Stimme des Sohnes Gottes hören, und die sie hören werden, die werden leben. Denn wie der Vater das Leben hat in ihm selber, also hat er dem Sohn gegeben, das Leben zu haben in ihm selber.“

Der Tropfen, der ins Meer fällt, wird zum Meer. Die Seele, die sich mit Gott vereinigt, wird Gott.

Wenn jemand eine Wahrheit ausspricht, heißt das nicht, dass sie von ihm ausgegangen ist. Jede Wahrheit rührt von Gott her. Sie geht nur durch den Menschen durch. Wenn sie durch diesen und nicht durch einen anderen hindurchgeht, so rührt das nur daher, dass der betreffende es verstanden hat, sich so durchlässig zu machen, dass die Wahrheit durch ihn hindurch gehen konnte.

Gott sagt: Ich war ein Schatz, den niemand kannte. Und wünschte bekannt zu werden. Da schuf ich den Menschen.

Gott kann man nicht mit dem Verstande begreifen. Wir wissen nur deswegen, dass Er ist, weil wir Ihn nicht mit dem Verstande, sondern dadurch begreifen, dass wir Ihn in uns erkennen.

Um wirklich Mensch zu sein, muss man Gott in sich erkennen.

Die Frage, ob es einen Gott gibt, ist genau so, wie die: ob ich bin? Das, wodurch ich lebe, ist ja gerade Gott.

Der Körper ist die Speise der Seele, das Holz, aus dem das wahre Leben gebaut wird.

Die größte Freude, die jemand erfahren kann, besteht darin, dass man das freie, vernünftige, liebende und deswegen glückliche Wesen in sich – dass man Gott in sich erkennt.

Wenn jemand sich selbst nicht kennt, kann man ihm nicht raten, er sollt sich bemühen, Gott zu erkennen. Das kann man nur jemandem raten, der sich selber kennt. Bevor man Gott kenne lernt, muss man sich selbst kennen.

Wenn ich an Gottes Feuer zu brennen anfange, drückt Gott mir seinen Stempel auf.

Die Seele ist Glas; Gott: das Licht, das hindurch scheint.

Ich muss nicht glauben, dass ich lebe. Nicht ich lebe, sondern das geistige Wesen in mir. Ich bin nur die Öffnung, durch welche dieses Wesen erscheint.

Nur ich und Du sind. Wenn wir beide nicht wären, wäre nichts in der Welt.

Gott kenne ich nicht dann, wenn ich glaube, was mir andere von Ihm sagen, sondern wenn ich Ihn so kenne, wie meine Seele.

Ich bin für Gott – ein zweites Ich. Er findet in mir, was Ihm ewig gleicht.

Der Mensch hört gleichsam stets eine Stimme hinter sich, kann aber den Kopf nicht umdrehen und nicht sehen, wer da spricht. Diese Stimme spricht in allen Sprachen, lenkt alle Menschen – aber noch nie hat jemand Den gesehen, Der spricht. Wenn der Mensch dieser Stimme gehorcht, sie so in sich aufnimmt, dass er sich sogar in Gedanken nicht von ihr trennt, so fühlt er, dass diese Stimme und er ein und dasselbe sind. Und je mehr der Mensch diese Stimme für sein Ich hält, umso besser ist ihm. Die Stimme offenbart ihm die Seligkeit, weil sie die Stimme Gottes im Menschen ist.

Gott wünscht allen Gutes. Wenn du also allen Gutes wünscht, d.h. wenn du liebst, lebt in dir Gott.

Mensch, bleibt nicht Mensch. Werd’ Gott – nur dann machst du aus dir, was du musst.

Man sagt: seine Seele retten. Retten kann man nur, was zugrunde gehen kann. Die Seele kann nicht zugrunde gehen, weil sie allein ist. Nicht retten muss man eine Seele, sondern sie von dem reinigen, was sie verfinstert, beschmutzt; muss sie mehr und mehr aufklären, damit Gott besser hindurch scheint.

Man sagt: „Hast du den Gott vergessen?“ Das ist ein gutes Wort. Gott vergessen heißt Den vergessen, Der in uns lebt und durch Den wir leben.

Wie ich Gott brauche, braucht er mich.

Wenn du schwach wirst, und dir schwer wird, denk daran, dass du eine Seele hast, durch die du sehen kannst. Wir denken stattdessen, ebensolche Leute wie wir könnten uns helfen.

Jede Schwierigkeit wird sofort überwunden, sobald man sich erinnert, dass man kein körperliches, sondern ein geistiges Leben führt; dass in einem etwas lebt, was stärker ist, als alles in der Welt.

Wer mit Gott eins ist, kann Ihn nicht fürchten. Gott kann Sich Selbst nicht Böses tun.

Der Mensch kann sich jede Minute fragen: was bin ich, was tue, denke, fühle ich jetzt; und kann darauf antworten: ich tue, denke, fühle jetzt das und das. Wenn man sich aber fragt: was ist dasjenige, das in mir erkennt, was ich tue, denke, fühle? So kann man darauf nichts anders antworten, als: das ist das Selbstbewusstsein, die Selbsterkenntnis. Eben diese Selbsterkenntnis ist dasjenige, was wir „Seele“ nennen.

Die Fische im Fluss hörten einst, wie die Menschen sagten: Fische könnten nur im Wasser leben. Da wunderten sich die Fische und fragten Bekannte und Verwandte, ob nicht jemand wüsste, was Wasser wäre? Da meinte ein kluge Fisch: Im Meer soll ein alter, weiser Fisch leben, der alles weiß; wollen zu ihm schwimmen und fragen, was Wasser ist. Da schwammen die Fische ins Meer nach dem Ort, wo der alte weise Fisch wohnte und fragten ihn, was Wasser wäre? Da antwortete der alte, weise Fisch: Wasser ist das, worin und wodurch wir leben. Ihr kennt das Wasser deswegen nicht, weil ihr in ihm und durch das Wasser lebt.

So kommt es auch den Menschen oft vor, als ob sie nicht wüssten, was Gott ist. Dabei leben sie aber in Ihm.

Das Leben des Menschen liegt nicht im Körper, sondern in der Seele, und nicht im Körper und in der Seele, sondern nur in der Seele

„Der mich gesandt hat, ist wahrhaftig, und was ich von Ihm gehört habe, sage ich der Welt.“

Sie verstanden nicht, dass er ihnen vom Vater sprach.

Da sprach Jesus zu ihnen: „Wenn ihr den Menschensohn erhöhet, werdet ihr erkennen, dass Ich es bin und dass Ich nichts von Mir aus tue, sondern so rede, wie Mein Vater Mich gelehrt hat.“

Den Menschensohn erhöhen, heißt den Geist erkennen, der in uns lebt und ihn höher stellen, als den Körper.

Seele und Körper schreibt der Mensch sich zu und ist unablässig um sie bemühet: Man muss aber wissen, dass das wirkliche Ich nicht der Körper, sondern die Seele ist. Denk daran, erhebt deine Seele über den Leib, behüte sie vor allem Schmutz des Lebens, lass den Leib sie nicht unterdrücken – dann verbringst du dein Leben gut.

Es heißt, man müsse sich selbst nicht lieben. Ohne Liebe zu sich selbst gäbe es aber kein Leben. Es kommt darauf an, was man an sich liebt: seine Seele, oder seinen Körper.

Es gibt keinen Körper, der so gesund und kräftig ist, dass er niemals erkrankt; keinen Reichtum, der nicht einmal ein Ende nimmt; keine Macht, die nicht einmal aufhört. Alles das ist vergänglich. Wenn jemand sein Leben an Gesundheit, Reichtum, Macht setzt, so wird er sogar nach Erreichung seines Zieles stets von Unruhe, Furcht und Sorgen gequält, weil ihm die Erkenntnis nicht erspart bleibt, dass alles, woran er sein Leben gehängt, schwindet, dass er selbst altert und sich dem Tode nähert.

Was muss man also tun, um der Unruhe und Furcht zu entgehen? Es gibt nur ein Mittel: Man muss das Leben nicht an vergängliche Dinge hängen, sondern an unvergängliche, an den Geist, der im Menschen lebt.

Tu was dein Körper wünscht: trachte nach Ruhm, Ehre, Reichtum – so wird dein Leben zur Hölle. Tu, was der Geist in dir verlangt: trachte nach Frieden, Barmherzigkeit, Liebe – so brauchst du kein Paradies. Das Paradies liegt in dir.

Es gibt Pflichten gegen den Nächsten und solche gegen sich selbst, gegen den Gott, der in uns lebt: diese Pflicht besteht darin, den Geist nicht zu beschimpfen, noch zu ersticken, sondern ihn unaufhörlich zu entwickeln.

Bei weltlichen Dingen weiß man nie sicher, ob man dies oder jenes tun muss, und ob die gewünschten Folgen daraus entspringen. Anders bei geistigen Dingen. Lebt man für seine Seele, so weiß man sicher, dass man eben das tun muss, was die Seele verlangt, und dass nur gutes daraus entspringt.

Sobald du Leidenschaft, Lust, Furcht, Wut fühlst, - bedenk, wer du bist: dass du nicht Körper, sondern Seele bist. Dann wird sofort, was dich erregt, verschwinden.

Das wahre Glück ist geistige Art

Man lebt im Geist und nicht im Körper. Wer das weiß, bleibt sogar in Ketten, hinter Riegeln und Schlössern frei.

Jeder Mensch kennt in sich zwei Leben: ein körperliches und ein geistiges. Das körperliche beginnt schon im Kulminationspunkt nachzulassen; wird immer schwächer und gelangt zum Tode. Das geistige Leben aber nimmt von der Geburt bis zum Tode stets zu.

Wer nur eine leibliche Existenz führt, ist sein ganzes Leben lang in der Lage eines zum Tode Verurteilten. Lebt man aber für seine Seele, so nimmt das, worin man sein Heil erblickt, mit jedem Tage zu, und der Tod verliert seine Schrecken.

Um ein gutes Leben zu führen, braucht man nicht zu wissen, woher man gekommen ist und wohin man geht. Denk nur an das, was nicht dein Körper, sondern deine Seele will, so brauchst du weder deinen Ursprung, noch das zu wissen, was nach dem Tode mit dir geschieht. Du brauchst es deswegen nicht zu wissen, weil du des wahren Glücks teilhaftig wirst, für das Fragen nach der Vergangenheit oder der Zukunft nicht existieren.

Als die Welt zu existieren begann, ward die Vernunft ihre Mutter. Derjenige, der weiß, dass die Grundlage seines Lebens der Geist ist, weiß, dass er sich außer aller Gefahr befindet. Wenn er die Lippen schließt und das Tor der Sinne verschlossen hält, spürt er keine Unruhe.

Die unsterbliche Seele braucht ebenso unsterbliche Werke, wie sie selbst eins ist. Dieses Werk – die unendliche eigene Vervollkommnung und die der Welt – ist ihr gegeben.

Der Lebensweg - ein Werk von Leo Tolstoi

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