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Die Liebe

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Durch den Körper von Gott und den Seelen anderer Wesen getrennt, strebt die Menschenseele nach Vereinigung mit ihnen. Die Seele vereint sich mit Gott durch stets zunehmende Erkenntnis Gottes in sich, und mit den Seelen anderer Wesen durch stets zunehmende Offenbarung der Liebe.

Die Liebe vereint die Menschen mit Gott, wie auch mit anderen Wesen

Jesus sprach zu ihm (dem Schriftgelehrten): „Du sollst Gott deinem Herrn dienen von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Das ist das erste und größte Gebot.“ –

„Das zweite aber ist dem gleich: du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst –“ sagte der Schriftgelehrte zu Christus. Darauf sagte Jesus: „Du hast recht geantwortet, handle so: liebe Gott und denen Nächsten, so wirst du leben.“

Unglücklich seid ihr; Kinder der Welt! Kummer und Unruhe lauern zu euren Häuptern und Füßen, rechts und links; und ihr selbst seid euch ein Rätsel. Solches Rätsel bleibt ihr immer, wenn ihr nicht froh und lieb werdet, wie Kinder. Nur dann erkennt ihr Mich – und wenn ihr Mich erkannt habt, erkenn ihr euch, und nur dann werdet ihr euch beherrschen.

Und nur dann, wenn ihr durch eure Seele auf die Welt blickt, wird euch alles Glück in der Welt und in euch selbst zuteil.

Lieben kann man nur die Vollkommenheit. Deshalb ist, um zu lieben, eins von beiden nötig: entweder muss man für Vollkommenheit halten, was unvollkommen ist, oder die Vollkommenheit lieben, das heißt Gott. Wenn man für vollkommen hält, was unvollkommen ist, stellt sich dieser Fehler früher oder später als solcher heraus und die Liebe nimmt ein Ende. Die Liebe zu Gott aber, das heißt zur Vollkommenheit, kann nicht enden.

„Gott ist die Liebe; wer in der Liebe ist, ist in Gott und Gott in ihm. Niemand hat Gott jemals gesehen; wenn wir uns aber gegenseitig lieben, ist Er in uns und Seine Liebe ist völlig in uns. Wenn jemand sagt: ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder – so ist er ein Lügner; denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann der Gott lieben, Den er nicht sieht? Brüder, lasst uns einander lieben; die Liebe kommt von Gott, und jeder, der liebt, ist von Gott und kennt Gott, weil Gott die Liebe ist.“

Wirklich vereinigen können sich die Menschen nur in Gott. Um sich zu vereinigen, brauchen sie sich nicht entgegenzukommen, sondern müssen nur alle zu Gott gehen.

Wenn es einen riesigen Tempel gäbe, in den das Licht von oben nur in die Mitte fiele, so müssten die Menschen, um sich in diesem Tempel zu vereinigen, alle nur in das Licht in der Mitte gehen. Dasselbe ist mit der Welt der Fall. Wenn alle Menschen zu Gott gehen, werden alle vereinigt.

„Brüder, lasst uns einander lieben. Die Liebe kommt von Gott; wer liebt, ist von Gott geboren und kennt Gott. Wer nicht liebt, kennt Gott nicht, weil Gott die Liebe ist“ – sagte der Apostel Johannes.

Alle Menschen lieben, scheint schwer. Jedes Werk erscheint aber nur solange schwer, bis man es gelernt hat. Die Menschen lernen alles: nähen, weben, pflügen, mähen, schmieden, lesen, schreiben. So muss man auch lernen, alle Menschen zu lieben.

Das zu lernen, ist nicht schwer, weil die Liebe zu anderen jedem von uns in die Seele gepflanzt ist.

„Niemand hat Gott jemals gesehen; wenn wir uns aber gegenseitig lieben, ist Er in uns.“

Wenn aber Gott die Liebe und in uns ist, ist es nicht schwer, die Liebe zu lernen. Man muss sich nur bemühen, von dem loszukommen, was der Liebe im Wege ist, sich von dem befreien, was sie nicht nach außen lässt. Damit beginn – so wirst du bald die wichtigste und notwendigste Wissenschaft: Liebe zu den Menschen lernen.

Es gibt nichts Froheres, als wenn wir wissen, dass die Menschen uns lieben. Aber wunderbar: damit die Menschen uns lieben, brauchen wir ihnen nicht gefällig zu sein, sondern müssen uns nur Gott nähern. Nähere dich Gott und denk nicht an die Menschen, so werden dich alle Menschen lieben.

Bittet Gott nicht darum, er möge euch vereinigen. Er hat euch schon vereinigt, indem er euch allen ein und denselben -: Seinen Geist einpflanzte. Befreit euch nur von dem, was euch trennt, so werdet ihr vereinigt.

Es scheint dem Menschen, dass er nur sich Glück wünscht. Aber das scheint nur so: in Wirklichkeit wünscht der Gott, der im Menschen lebt, sich Heil. Gott wünscht allen Menschen Heil.

Wer sagt, er liebe Gott, seinen Nächsten aber nicht liebt, der betrügt die Menschen. Wer aber sagt, er liebe seinen Nächsten, dabei aber Gott nicht liebt, der betrügt sich selbst.

Es heißt, man müsse Gott fürchten. Das ist nicht wahr. Man muss Gott lieben, aber nicht fürchten. Man kann nicht den lieben, den man fürchtet. Außerdem kann man Gott deswegen nicht fürchten, weil Gott die Liebe ist. Wie kann man sich vor der Liebe fürchten? Nicht fürchten muss man Gott, sondern ihn in sich erkennen. Wenn man Gott in sich erkennt, braucht man nichts in der Welt zu fürchten.

Es heißt, am letzten Tage würde das Jüngste Gericht stattfinden und der gute Gott würde zürnen. Von einem guten Gott kann aber nichts anders kommen, als Gutes.

Wie viele Religionen es auch in der Welt gibt, der wahre Glaube ist nur einer: dass Gott die Liebe ist. Von der Liebe kann aber nur Gutes kommen.

Fürchte dich nicht: Im Leben und nach dem Leben kann und wird nichts anderes sein, als Gutes.

Gottgemäß leben, heißt Gott ähnlich sein. Um Gott aber ähnlich zu sein, darf man nichts fürchten und sich nichts wünschen. Um aber nichts zu fürchten und sich nichts zu wünschen, muss man nur lieben.

Die einen sagen: geh in dich, dort findest du Ruhe. – Das ist noch nicht die ganze Wahrheit.

Die anderen sagen im Gegenteil: geh aus dir heraus; bemüh dich, zu vergessen und das Glück in Vergnügungen zu finden. – Das ist auch nicht wahr. Ist schon deswegen nicht wahr, weil Vergnügungen uns nicht von Krankheit befreien. Ruhe und Glück liegen nicht in uns und nicht außer uns, sondern in Gott. Gott ist aber in und außer uns.

Liebe Gott, in Ihm findest du, was du suchst.

Wie der menschliche Körper Speise verlangt und ohne sie leidet, so verlangt die Seele Liebe und leidet ohne sie

Alle Dinge streben zur Erde und zu einander. Ebenso streben alle Seelen zu Gott und einander.

Alle Menschen leben nicht dadurch, dass sie sich betrügen, sondern durch die Liebe zu einander.

Damit die Menschen nicht einzeln, sondern zusammen leben, hat Gott ihnen nicht offenbart, was jeder für sich braucht, sondern nur, was alle für die Gesamtheit brauchen.

Damit die Menschen aber begreifen, Was sie alle für die Gesamtheit brauchen, ist Er in ihre Seele eingezogen und dort als Liebe erschienen.

Alles Unglück der Menschen rührt nicht von Misswachs, nicht von Feuer, nicht von Verbrechen her, sondern daher, dass alle für sich leben. Das tun sie aber, weil sie nicht an die Stimme der Liebe glauben, die in ihnen lebt und sie zur Einheit führt.

Solange jemand ein tierisches Dasein führt, kommt es ihm vor, als wenn er von allen anderen Menschen getrennt ist; das muss so sein, kann gar nicht anders sein. Sobald jemand aber geistig lebt, kommt es ihm sonderbar, unverständlich, ja schmerzlich vor, dass er von anderen Menschen getrennt ist und er trachtet nach der Vereinigung mit ihnen. Vereinigen kann aber nur die Liebe.

Jeder Mensch weiß, dass er nicht das tun muss, was ihn von anderen trennt, sondern, was ihn mit diesen vereint. Das weiß der Mensch nicht daher, weil es ihm von jemand befohlen ist, sondern, weil je mehr er sich mit anderen Menschen vereinigt, umso besser sein Leben wird, und umgekehrt: je schlechter sein Leben ist, umso mehr entzweit er sich mit anderen.

Das leben aller Menschen besteht nur darin, mit jedem Jahr, Monat, Tage immer besser zu werden. Je besser die Menschen werden, um so mehr vereinigen sie sich. Je mehr sie sich aber vereinigen, umso besser wird ihr Leben.

Je mehr ich jemand liebe, umso weniger fühle ich meine Trennung von ihm. Es kommt mir vor, als wenn er dasselbe ist, wie ich, und ich dasselbe wie er.

Wenn wir nur streng darauf achten, uns mit anderen in dem zusammenzutun, worin wir mit ihnen übereinstimmen, nicht aber von ihnen Zustimmung in Dingen zu verlangen, in denen sie nicht mit uns übereinstimmen, kommen wir Christus weit näher, als Leute, die sich Christen nennen, sich aber in Christi Namen von Andersgläubigen trennen, indem sie von ihnen Zustimmung zu dem verlangen, was sie selbst für wahr halten.

Liebet eure Feinde, so habt ihr keine Feinde.

Den Weg zur Einigung erkennt man ebenso leicht, wie den Brettersteig durch einen Sumpf. Sobald man von jenem Wege abkommt, versinkt man im Sumpf weltlicher Nichtigkeit, Zweitracht und Bosheit.

Die Liebe ist nur dann wahr, wenn sie sich auf alle erstreckt

Gott wollte uns glücklich sehen, deswegen pflanzte er uns das Glückverlangen ein; er wollte uns aber alle glücklich sehen, und nicht einzelne, darum gab er uns das Verlangen nach Liebe. Deswegen können die Menschen nur dann glücklich sein, wenn sie sich alle gegenseitig lieben.

Der römische Weise Seneca sagt, alles, was wir sähen, alles Lebende, sei ein Körper: Wir alle wären wie Hände, Füße, Magen, Knochen, Glieder dieses Körpers. Wir sind alle gleich geboren, wünschen uns alle gleichmäßig Gutes, wissen alle, dass es besser ist, wenn wir uns gegenseitig helfen, als wenn wir uns zugrunde richten, und uns allen ist ein und dieselbe Liebe eingepflanzt. Wir sind wie Steine derart einem Gewölbe eingefügt, dass wir sämtlich sofort fallen, wenn wir uns nicht gegenseitig stützen.

Jeder wünscht sich möglich viel Gutes; das größte gut in dieser Welt besteht aber darin, in Liebe und Eintracht mit allen Menschen zu leben. Wie soll man dieses Gut erlangen, wenn man fühlt, dass man die einen liebt, die anderen aber nicht liebt? Man muss lernen, die zu lieben, die man bislang nicht liebte. Die Menschen lernen die schwierigsten Künste: Lesen, Schreiben, alle möglichen Wissenschaften und Handwerke. Wenn nur jemand ebenso eifrig lieben lernte, wie er Wissenschaften und Handwerk lernt, würde er bald und leicht alle Menschen lieben lernen, sogar die unangenehmen.

Sobald du begriffen hast, worin die Hauptaufgabe des Lebens besteht: nämlich in der Liebe, so wirst im Verkehr mit anderen nicht mehr daran denken, worin dir dieser oder jener nützlich sein kann, sondern daran, wie du ihm nützlich sein kannst. Sobald du das tust, hast du in allen Dingen mehr Erfolg, als wenn du dich um dich selbst bemühst.

Wenn wir lieben, der uns gefällt, der uns lobt und uns Gutes tut, so lieben wir ihn nur unserer selbst willen, damit es uns gut geht. Richtige Liebe ist aber die, wenn wir nicht um unserer selbst willen lieben, nicht uns Gutes wünschen, sondern denen, die wir lieben, und sie nicht deswegen lieben, weil sie uns angenehm oder nützlich sind, sondern weil wir in jedem Menschen denselben Geist erkennen, der in uns lebt. Nur wenn wir so lieben, können wir, wie Christus gebot, nicht nur unsere Freude lieben, sondern, die uns hassen, unsere Feinde.

Man muss jeden Menschen verehren, mag er noch so kläglich und lächerlich sein. Man muss bedenken, dass in jedem Menschen derselbe Geist lebt, wie in uns. Selbst wenn jemand an Leib und Seele abscheulich ist, muss man denken: es muss auch solche Käuze geben, man muss sie ertragen. Wenn wir solchen Leuten unseren Abscheu zeigen, sind wir erstens ungerecht und fordern sie zweitens zum Kampf auf Tod und Leben heraus.

Wie jemand auch beschaffen ist, er kann sich nicht umarbeiten. Was bleibt ihm anders übrig, als uns wie seinen Todfeind zu bekämpfen, sobald wir ihm unsere Feindschaft zeigen. Wie ist denn die Sache: wir wollen gut gegen ihn sein, wenn er sein Wesen ändert; das kann er aber nicht. Deswegen muss man gegen alle Menschen ohne Ausnahme gut sein und nichts Unmögliches von ihnen verlangen, nicht fordern, dass sie ihr Ich aufgeben.

Bemüh dich, den zu lieben, den du bislang nicht liebtest, den zu rechtfertigen, der dich kränkte. Wenn dir das gelingt, hast du eine neue frohe Empfindung. Wie helles Licht nach der Dunkelheit leuchtet, so leuchtet das von Hass befreite Licht der Liebe heller und fröhlicher in dir.

Der beste Mensch ist der, der alle liebt und allen Gutes tut, einerlei, ob sie gut oder schlecht sind.

Wie kommt es, dass Zwietracht und noch mehr Hass uns so schwer auf die Seele fällt? Daher, weil wir fühlen, dass das, was uns zum Menschen macht, in allen dasselbe ist. Wenn wir andere nicht lieben, entzweien wir uns mit Dem, was in allen dasselbe ist, entzweien uns mit uns selbst.

„Mir ist schwer und traurig allein.“ Ja, wer hat dich denn geheißen alle anderen Menschen zu meiden und dich in das Gefängnis deines traurigen, unbedeutenden Ich einzusperren?

Handle so, dass du jedem sagen kannst: handle ebenso wie ich.

Solange ich den nicht sehe, der das wichtigste Gebot Christi, die Liebe zu den Feinden nicht befolgt, glaube ich nicht daran, dass diejenigen, die sich Christen nennen, es wirklich sind.

Wahrhaft lieben kann man nur die Seele

Der Mensch liebt sich. Wenn er aber nur seinen Körper liebt, irrt er, und aus der Liebe entspringen Leiden. Die Liebe zu sich ist nur dann gut wenn jemand seine Seele liebt. Die ist ein und dieselbe in allen Menschen. Wenn also jemand seine Seele liebt, wird er auch die Seele anderer Menschen lieben.

Alle Menschen wollen nur eins und trachten nur nach einem: ein gutes Leben führen. Deswegen haben von den ältesten Zeiten die Heiligen und Weisen überall und stets daran gedacht und die Menschen unterrichtet, wie sie leben müssen, um ein gutes und nicht ein schlechtes Leben zu führen. Und all diese Weisen und Heiligen haben an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten die Menschen stets ein und dasselbe gelehrt.

Diese Lehre ist kurz und einfach.

Sie besteht darin, dass alle Menschen durch denselben Geist leben, dass alle eins, aber alle in diesem Leben durch ihren Körper getrennt sind; und dass sie deswegen infolge der Erkenntnis, dass in allen ein und derselbe Geist lebt, sich in Liebe miteinander vereinigen müssen. Wenn die Menschen das nicht verstehen, sondern nur mit ihrem Körper zu leben glauben, so verfeinden sie sich und werden unglücklich.

Deswegen besteht die ganze Lehre darin, dasjenige zu tun, was die Menschen vereint und das zu meiden, was sie trennt. Dieser Lehre wird man leicht glauben, weil sie jedem ins Herz geschrieben ist.

Wenn jemand nur im Körper lebt, ist es, als wenn er sich selbst ins Gefängnis sperrt. Nur ein Leben für die Seele öffnet die Gefängnistür und führt den Menschen ins frohe, freie, allen gemeinsame Leben hinaus.

Der Körper wünscht nur sich Gutes, selbst wenn es der Seele zum Schaden gereicht; und die Seele wünscht sich Gutes, selbst wenn es dem Körper Schaden bringt. Dieser Kampf endet erst dann, wenn man begreift, dass das Leben nicht im Körper, sondern in der Seele liegt und dass der Körper nur das Material ist, mit dem die Seele arbeitet.

Wenn zwei Menschen von Moskau nach Kiew gehen, können sie noch so weit voneinander entfern sein – der eine kann dicht bei Kiew sein und der andere Moskau soeben verlassen haben – so gehen sie doch immer auf einen Punkt zu und treffen früher oder später zusammen. Wie nahe sich aber zwei Menschen auch sind – wenn einer nach Kiew, und der andere na Moskau geht, treffen sie sich niemals.

So ist es mit allen Menschen. Der Heilige, der für sein Seelenheil lebt, und der aller schwächste und sündhafteste Mensch führen, wenn letzterer auch an seine Seele denkt, ein und dasselbe Leben, und treffen früher oder später zusammen. Wenn dagegen zwei Menschen zusammen leben, von denen einer seinen Körper pflegt, der andere an seine Seele denkt, so geraten sie immer weiter auseinander.

Das Leben ist schwer, wenn man nicht weiß, wofür man lebt. Dabei gibt es Leute, die fest überzeugt sind, man könne das nicht wissen, ja die sogar mit diesem Nichtwissenkönnen prahlen.

Dabei ist es leicht und unbedingt nötig zu wissen: der Sinn des Lebens liegt nur in einem: in stets zunehmender Befreiung der Seele vom Körper und ihrer Vereinigung mit anderen Wesen und mit dem Ursprung des All – mit Gott.

Die Menschen glauben und sagen nur deswegen, sie wüssten das nicht, weil sie nicht so leben, wie nicht nur alle Weltweisen sie lehrten, sondern auch ihre eigene Vernunft und ihr Gewissen.

Die Liebe ist den Menschen eigen

Für Menschen ist es ebenso natürlich zu lieben, wie für das Wasser, von oben nach unten zu fließen.

Um ihr Lebensgebot zu befolgen, muss die Biene fliegen, die Schlange kriechen, der Fisch schwimmen und der Mensch lieben. Wenn jemand, statt andere zu lieben, ihnen Böses tut, handelt er ebenso sonderbar, wie ein Vogel, der zu schwimmen, ein Fisch, der zu fliegen beginnt.

Das Pferd rettet sich vor dem Feinde durch schnellen Lauf; es ist nicht dann unglücklich, wenn es nicht wie ein Hahn krähen kann, sondern wenn es einbüßt, was ihm verliehen ist: seine Schnelligkeit.

Dem Hunde ist das Wertvollste die Witterung; er ist unglücklich, wenn er sie verliert, nicht, wenn er nicht fliegen kann.

Genau so ist der Mensch nicht dann unglücklich, wenn er Bären oder Löwen, oder böse Menschen nicht bezwingen kann, sondern wenn er das Teuerste verliert, was ihm verliehen ist: seine geistige Natur, seine Fähigkeit zu lieben.

Traurig ist nicht, wenn jemand stirbt, sein Geld verliert, sein Haus, seinen Besitz – alles das gehört dem Menschen nicht. Traurig ist dagegen, wenn jemand sein wahres Eigentum, sein höchstes Gut verliert: seine Fähigkeit, zu lieben.

Als einem blinden, taubstummen Mädchen, das durch Tasten Lesen und Schreiben gelernt hatte, die Lehrerin erklärte, was die Liebe sei, sagte das Mädchen: Ich verstehe, es ist das, was die Menschen füreinander empfinden.

Ein Weiser in China wurde gefragt: Was Wissenschaft sei? Er sagte: Menschen kennen.

Er wurde gefragt: Was Tugend wäre? Er erwiderte: Menschen lieben.

Alle Wesen haben nur einen richtigen Führer, das ist der Weltgeist, der jedes Wesen zu dem zwingt, was es muss. Dieser Geist befiehl dem Baum, der Sonne entgegen zu wachsen; der Blume, Samen zu tragen; dem Samen: auf die Erde zu fallen und zu keimen. Dem Menschen befiehlt dieser Geist, sich in Liebe mit andern Wesen zu vereinen.

Ein indischer Weiser sagte: Wie eine Mutter ihr einziges Kind behütet, pflegt, es erzieht und bewahrt, so musst auch du und jeder Mensch das Teuerste, was es in der Welt gibt, pflegen, aufziehen und bewahren: das ist die Liebe zu andern Menschen und allem Lebenden. Das lehren alle Religionen: die brahmanische, buddhistische, jüdische, chinesische, christliche, mohammedanische. Deswegen ist das Notwendigste in der Welt: lieben lernen.

Die Chinesen hatten die Weisen: Konfuzius, Lao-Tse und noch einen wenig bekannten Weisen: Mi-Ti. Mi-Ti lehrte, man müsse den Menschen Verehrung nicht der Kraft, nicht des Reichtums, nicht der Tapferkeit, sondern nur der Liebe einflößen. Er sagte: Man erzieht die Menschen derart, dass sie am allerhöchsten Reichtum und Ruhm schätzen, und sie bemühen sich, möglich viel Reichtum und Ruhm zu erlangen; man muss sie aber so erziehen, dass sie am höchsten die Liebe schätzen und am meisten danach trachten, sich an die Liebe zu anderen Menschen zu gewöhnen und alle Kraft darauf verwenden, Liebe zu lernen.

Man hörte nicht auf Mi-Ti. Ein Schüler des Konfuzius, Mendse, disputierte mit Mit-Ti und sagte: man könne nicht durch Liebe allein leben. Die Chinesen hörten auf Mendse. Fünfhundert Jahre vergingen. Dann lehrte Christus die Menschen dasselbe wie Mi-Ti, aber noch besser, eindringlicher und klarer. Obgleich jetzt niemand mehr das Evangelium der Liebe bekämpf, erfüllen die Christen noch lange nicht Christi Gebot. Doch wird die Zeit kommen – sie ist schon nahe – wo die Menschen nicht anders können, als diese Lehre zu befolgen, weil sie allen ins Herz geschrieben ist und weil ihr Nichtbefolgen den Menschen immer größere Leiden verursacht.

Die Menschen werden aufhören, sich zu streiten, Kriege zu führen, andere hinzurichten; sie werden sich gegenseitig lieben. Diese Zeit muss einmal kommen, weil jedem einzelnen nicht Hass, sondern Liebe zum Nächsten eingepflanzt ist.

Lasst uns alles tun, was wir können, damit diese Zeit bald kommt.

Nur die Liebe gibt wahres Glück

Du wünscht Gutes? Du erhältst, was du wünscht, wenn du nach dem trachtest, was für alle gut ist. Das aber gibt nur die Liebe.

„Wer sein Leben bewahren will, der verliert es; wer aber sein Leben um des Guten willen hingibt, der bewahrt es. Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewänne, und nähme doch Schaden an seiner Seele.“ So sprach Christus. Ebenso sprach ein Heide, der römische Kaiser Marc Aurel: „Warum wirst Du – sprach er mit sich – meine Seele, über den Körper herrschen? Wann befreist Du Dich von allen weltlichen Wünschen und Kummer und trachtest nicht mehr danach, dass die Menschen Dir auf Leben oder Tod dienen? Wann begreifst Du, dass das wahre Glück stets in Deiner Macht liegt, dass es nur in einem besteht: in der Liebe zu allen Menschen?“

„Wer sagt, dass er im Licht ist, dabei aber seinen Bruder hasst, der ist noch in der Finsternis. Wer seinen Bruder liebt, der ist im Licht und kein Ärgernis ist in ihm. Wer aber seinen Bruder hasst, der ist in Finsternis und weiß nicht, wohin er geht, weil Finsternis ihm die Augen blendet … Lasst uns nicht mit Worten, oder mit der Zunge lieben, sondern in der Tat und in der Wahrheit. Daran erkennen wir, dass wir von der Wahrheit sind und besänftigen unsere Herzen.

Ob die einen oder anderen Religionslehrer recht haben, weiß ich nicht und kann ich nicht wissen; das Beste, was ich tun kann, besteht darin, die Liebe in mir zu vermehren – das weiß ich sicher, daran kann ich nicht zweifeln. Ich kann deswegen nicht daran zweifeln, weil die Vermehrung der Liebe sofort mein Glück vergrößert.

Wenn alle Menschen sich vereinigten, würde nicht mehr existieren, was wir für unser besonderes Leben halten, weil dieses nur stets zunehmende Vereinigung dessen ist, was sich entzweit hat. In diesem einen, in immer engerer Vereinigung dessen, was sich entzweit hat, besteht das wahre Leben und das wahre Lebensglück.

Wir finden alles, nur uns selbst können wir nicht finden. Wunderbar! Die Menschen leben viele Jahre in der Welt und können nicht dahinter kommen, wann sie sich am wohlsten fühlen. Wer nur das weiß, dem wird schon klar, worin allein das wahre Glück besteht; ihm wird klar, dass es ihm nur dann gut geht, wenn in seiner Seele Liebe zu anderen Menschen wohnt.

Wir denken offenbar wenig nach, dass wir das bis jetzt nicht wissen.

Wir haben unseren Geist verdorben und bemühen uns deswegen nicht, zu erfahren, was wir allein nötig haben.

Wenn wir wenigstens eine Zeitlang mit unserem Jagen und Hasten innehielten und in uns gingen, würden wir sehen, worin unser Heil besteht.

Unser Körper ist schwach, unrein, sterblich; in ihm ruht aber ein Schatz, der unsterbliche Geist Gottes. Wir brauchen diesen Geist in uns zu erkennen, so gewinnen wir die Menschen lieb, und wenn das geschieht, erhalten wir alles, was unser Herz wünscht: wir werden glücklich.

Nur wer die ganze Unbeständigkeit und Not des Lebens begriffen hat, erkennt die Bedeutung des Glücks, das ihm die Liebe gibt.

Äußeres Glück, Vergnügungen erreichen wir nur auf Kosten anderer. Geistiges Glück, den Segen der Liebe, im Gegenteil nur dann, wenn wir das Glück anderer vermehren.

All unsere Kulturerrungenschaften: Eisengahnen, Telegraphen und alle möglichen Maschinen können die Vereinigung der Menschen fördern, und deswegen auch den Beginn des Reiches Gottes beschleunigen. Es ist aber schlimm, dass Menschen sich durch diese Erfindungen verleiten lassen, zu glauben, wenn sie viele Maschinen bauen, würde dadurch das Reich Gottes ihnen näher gebracht. Das ist eben solch ein Fehler, wie wenn jemand stets ein und dasselbe Stück Land pflügt und nichts darauf säet. Damit all jene Maschinen Nutzen bringen, müssen die Menschen ihr Inneres vervollkommnen, die Liebe in sich vermehren. Ohne diese Liebe tragen Telefone, Telegraphen und Flugmaschinen nicht zur Vereinigung der Menschen bei, sondern entzweien sie im Gegenteil mehr und mehr.

Kläglich und lächerlich ist jemand, der sucht, was ihm auf dem Rücken hängt; ebenso kläglich und lächerlich jemand, der das Gute sucht und nicht weiß, dass es in der Liebe liegt, die ihm ins Herz gepflanzt ist.

Schaut nicht auf die Welt und die Werke der Menschen, sondern blickt in eure Seele; in ihr findet ihr das Glück, das ihr nicht finden konntet: findet die Liebe; wenn ihr sie gefunden habt, erkennt ihr, dass dieses Glück so groß ist, dass, wer es besitzt, nichts anderes wünscht.

Wenn dir schwer zumute ist, wenn du die Menschen fürchtest, wenn dein Leben in Unordnung geraten ist, sag dir: gut, ich werde mich nicht mehr um das kümmern, was mit mir geschieht, sondern werde alle lieben, mit denen ich zu tun habe; im übrigen mag kommen was will. Versuch nur so zu leben, so wirst du sehen, dass alles sich entwirrt und du nichts mehr zu fürchten und zu wünschen brauchst.

Tu’ deinen Freunden Gutes, damit sie dich noch mehr lieben, den Feinden, damit sie deine Freunde werden.

Wie alles Wasser dem Eimer entströmt, wenn ein kleines Loch darin ist, so bleiben keine Freuden der Liebe in der Seele haften, sobald Hass gegen irgendjemand in ihr wohnt.

Man sagt: was ist das für ein Geschäft, den Menschen Gutes tun, wenn sie es mit Bösen vergelten? – Sobald du den liebst, dem du Gutes tust, liegt dein Lohn schon in der Liebe, und dieser Lohn wird noch größer, wenn du außerdem das Böse erträgst, das er dir zufügt.

Ein gutes Werk, das in bestimmter Absicht geschieht, ist schon kein gutes Werk mehr. Du liebst nur dann richtig, wenn du nicht weißt, warum und wozu.

Die Menschen glauben oft, sie hätten sich vor Gott verdient gemacht, wenn sie ihren Nächsten lieben. Es ist aber gerade umgekehrt. Wer seinen Nächsten liebt, hat nicht sich vor Gott verdient gemacht, sondern Gott hat ihm unverdientes Glück gegeben, das höchst Glück, das es im Leben gibt, die Liebe.

„Wir wissen, dass wir aus dem Tode in das Leben gekommen sind, wenn wir unsere Brüder lieben. Wer seinen Bruder nicht liebt, der hat nicht das ewige Leben“.

Ja, es kommt die Zeit, und sie kommt bald, von der Christus sagte, er trage Verlangen nach ihr -: es kommt die Zeit, wo die Menschen sich nicht damit brüsten, durch Gewalt Menschen und ihre Arbeit in Besitz genommen zu haben, und sich nicht darüber freuen, anderen Furcht und Neid einzuflößen, sondern stolz darauf sind, alle zu lieben und sich darüber freuen, trotz allen Kummers, den sie den Menschen verursacht, ein Gefühl zu haben, das sie von allem Schlechtesten befreit.

Es war einmal ein Mann, der lebte so, dass er niemals an sich dachte, oder für sich sorgte, sondern nur für seine Nächsten trachtete und um sie bemüht war.

Das Leben dieses Mannes war so wunderbar, dass die unsichtbaren Geister ihn deswegen lieb gewannen und sich über sein Leben freuten.

Und da sagte einmal einer dieser Geister zu einem anderen: „Dieser Mensch ist ein Heiliger, und das sonderbare ist: er weiß es nicht. Solche Leute gibt es wenige in der Welt. Wir wollen ihn fragen, womit wir ihm dienen können; welche Gaben er von uns wünscht.“

„Gut“, sagten alle anderen Geister, „das wollen wir tun.“

Und da sprach einer von den Geistern unsichtbar, aber ganz deutlich zu dem guten Menschen: „Wir haben dein Leben und dein heiliges Wesen bemerkt und möchten dich beschenken. Sag’, was wüschest du. Möchtest du die Not und Armut aller Menschen, die du siehst und bedauerst, erleichtern? Wir können das. Oder sollen wir dir solche Macht verleihen, dass du die Menschen von Krankheit und Leiden befreist. So dass sie nicht mehr vor der Zeit sterben? Auch das können wir. Oder möchtest du, dass alle Leute: alle Männer, Frauen, Kinder dich lieben? Das können wir auch. Sag’, was du dir wüschest.“

Der Heilige sagte: „Ich wünsche nichts von alledem, weil es Gott zusteht, die Menschen von dem zu erlösen, was er ihnen gesandt: von Not und Leiden, Krankheit und vorzeitigem Tod. Die Liebe der Menschen aber fürchte ich. Ich fürchte, die Liebe der Menschen verführt und stört mich in meiner Hauptaufgabe: die Liebe zu Gott und den Menschen in mir zu vermehren.“

Da sagten alle Geister: „Ja, dieser Mensch ist wirklich heilig und hat Gott wirklich lieb.-

Die Liebe gibt, verlangt aber nichts.“

Der Lebensweg - ein Werk von Leo Tolstoi

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