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Frühstück mit Hindernissen


Was für eine Nacht. Ich glaube, zum ersten Mal in meinem mageren Urlauberleben, war ich härter als die Matratze. Zumindest bauchmäßig. Leise pelle ich mich aus dem Laken, damit Marie nicht wach wird; Tina hat entschieden, dass Marie und ich die eine Schlafkammer bewohnen sollen, während Louis und sie in der anderen schlafen. Angeblich, damit Marie und ich nachts nicht geweckt werden, wenn sie Louis stillen muss (tatsächlich glaube ich aber, dass sie das nur für mich macht – sie glaubt wohl, dass wir umso sicherer bis zum Buchungsende bleiben, je mehr Erholung ich bekomme …).

Bei meinem Vorhaben möchte ich lieber alleine sein; es wäre mir schon etwas peinlich, Tina erklären zu müssen, warum ich mir so heimlich still und leise auf der Toilette eine halbe Packung Abführzäpfchen einverleibe.

Die Dosierungsanleitung schreibt für Kinder ein Zäpfchen vor. Ich wiege bestimmt viermal so viel wie mein kleiner Sohn, macht summa summarum vier Zäpfchen. Schon irgendwie viel. Egal - rein damit. Wenn noch Platz ist. Kostet mich zwar einige Überwindung, aber so habe ich wenigstens das Gefühl, dass die Dinge wieder in Fluss kommen.


Aufgeräumt gehe ich anschließend die circa fünf Minuten zum Campingplatz-eigenen Supermarkt, um unser erstes italienisches Frühstück zu kaufen. Für meine Liebsten stelle ich im Kopf schon mal ein paar kulinarische Raffinessen zusammen: Honigmelonen mit Parmaschinken, Caprese (praktisch die italienische Flagge als Salat), Pecorino sardo, Salame Cacciatore und Pane salato (gesalzenes Brot; das ist wichtig, denn alle anderen Brot- und Brötchensorten sind ungesalzen und erinnern im Geschmack eher an Oblaten bei der Hl. Kommunion).

Eigentlich alles Dinge, die für meinen malaten Appendix Gift sind und somit unseren Urlaub gefährden könnten. Aber der Bruce in mir sagt: Und wenn du die zwei Wochen bei Wasser und Brot verbringen musst - deine Familie wird hier eine phantastische und unbeschwerte Zeit verbringen!

Recht hat er! Und so schreibe ich mir noch weitere Dinge auf meine imaginäre No-go-Liste: kohlensäurehaltiges Wasser, alle Käsesorten mit mehr als 20% Fett, alle blähenden Lebensmittel wie Zwiebeln, Knoblauch und Hülsenfrüchte, fettes Fleisch, fette Wurst, Milch und Joghurt (außer natürlich die halbfetten Varianten), Alkohol und noch einiges mehr. In fertigen Produkten gesprochen: keine Pizza, keine Salami, keinen Pecorino (weder sardo, noch dolce, noch toscano) zu den Spaghetti keinen Parmigiano, keinen Vino rosso und ebenfalls keinen bianco, zum Frühstück keine Brioche (unnötig zu erwähnen weder al cioccolato noch à la crèma). Kurz: All die Sachen, die einen Urlaub in Italien so wunderbar italienisch machen. Immerhin bleibt mir ja der Espresso nach den Mahlzeiten. Tina wird sich wundern: Das ganze Jahr über bin ich heiß auf alles, was italienisch schmeckt, erinnert mich das doch an meine alte Heimat Sardinien, in der ich meine Kindheit verbringen durfte. Und plötzlich würde ich einen auf Ballaststoffkönig machen und all die lukullischen Leckereien nicht anrühren? Ich selbst kann das natürlich verstehen, mich aber wegen selbst verordneten Heldentums leider nicht dazu äußern.


Das tut dafür mein Darm für mich. Er äußert sich sogar so vehement, dass ich befürchte, die Toilette im Bungalow nicht mehr rechtzeitig zu erreichen. Siedend heiß fallen mir die Worte auf dem Beipackzettel der Zäpfchenpackung wieder ein: „Bleiben Sie auf jeden Fall in der Nähe der Toilette!“ Mist! Im wahrsten Sinne des Wortes.

Die Schlange an der Kasse ist erfreulicherweise überschaubar. Die Motivation der Kassiererin leider auch. Zum Glück habe ich in den letzten Wochen im Fitnesscenter häufig Kreuzheben trainiert, das stärkt die Gesäß- und Beckenbodenmuskeln ungemein. Kann ich jetzt gut brauchen. Noch zwei Meter bis zur Kasse. In diesem Fall eine echte Herausforderung, besonders für jemanden, der im Aldi schon bei weniger Andrang lautstark eine weitere Kassenöffnung fordert. Fünf Minuten später bin ich endlich dran. Die Kassiererin missinterpretiert meine verkniffene Mimik als Ausdruck meiner Unzufriedenheit über ihre lahme Leistung und beginnt erst recht in Slow Motion zu arbeiten. Meine Gedanken dagegen jagen panisch durch den Kopf, während sich eine Etage tiefer eine furiose Eruption ankündigt. Das Finale des Spektakels will ich aber lieber im Bungalow erleben und lege, ohne auf das Wechselgeld zu warten, ausreichend Scheine auf das Laufband. Prall, wie meine Einkaufstüten, sprint-eiere ich den Weg zurück. Die Leute, denen ich begegne, zeigen ob meiner Überladenheit Mitgefühl. Wenn die wüssten, wie beladen ich tatsächlich bin ...

Aber jetzt muss ich mich dringend entladen und zwar innerhalb der nächsten dreißig Sekunden. Sonst: Vesuvio et punt`ala est!

Ich reiße die Tür zum Bungalow fast aus ihren Angeln und stürme auf die Toilette. Meine Gedärme tanzen ob der nächstsekündlichen Erleichterung in heller Aufruhr schon mal Tarantella. Doch, was soll ich sagen: Louis sitzt bereits auf dem Topf und studiert dabei in aller Seelenruhe sein Bilderbuch. „Duck mal Papa, ein Kan und ein Daktor.“ Man sagt, in außergewöhnlichen Situationen wächst man über sich hinaus und kann buchstäblich Unmenschliches vollbringen. So bringe ich es fertig, mir über seine Sprachentwicklung im Allgemeinen und sein „r-Problem“ im Besonderen Gedanken zu machen. Aber nur für den Bruchteil einer Sekunde. Dann setze ich ihn mitsamt seines Buches auf einen Stuhl in der Küche (ist in dieser Beengtheit lediglich eine Körperdrehung weit entfernt), bringe mich im vorletzten Augenblick in Stellung und explodiere im letzten unter den fragenden Blicken meines Sohnes.


*


Seit etwa zwanzig Minuten ruft mich Tina zum Frühstück. Ich glaube, ich kann es jetzt wagen, mich weiter als zwei Meter vom Lokus zu entfernen. Komplett druckentlastet setze ich mich an den Tisch. Beim Anblick des üppig gedeckten Frühstücktisches, flutet sogleich wieder Appetit in meinen Mund. Doch mein Speisegelübde schiebt dem sofort einen Riegel vor. Gottlob hab ich in den letzten Jahren in Sachen Schrulligkeit vorgebaut und so quittiert Tina meine Enthaltsamkeit beim Frühstück lediglich mit einem Augenbrauenziehen.

Nur die Ruhe, sag ich mir, noch zwei, drei Tage, dann bin ich wieder auf dem Damm.

„Hoffentlich bricht der nicht“, versucht eine nörgelnde Stimme in mir Stimmung zu machen.

Aber darauf lass ich mich nicht ein. Jetzt nicht. Denn die Kinder sind schon so voller Freude auf den ersten richtigen Badetag, dass sie gar nicht recht wissen, was sie alles mitnehmen sollen. Brauchen könnten sie bis auf Küchenutensilien und Bettdecken natürlich alles, was wir sonst noch so hierher gekarrt haben. Ach was, selbst das könnten sie gebrauchen.

Tina sieht dem Treiben der Kinder belustigt zu. „Jetzt sieh dir die an! Ich glaube, unsere beiden haben eine komplett falsche Vorstellung von den Ausmaßen einer Strandburg.“ Dann spuckt sie sich Motivation in die Hände und seufzt: „Was soll‘s, gehen wir‘s an.“ Sie klaubt ein paar sperrige Dinge, wie Paddel, Strandmuschel und Sonnenschirm vom Boden auf und sieht mich auffordernd an.

Ich reagiere ihr wohl einen Tick zu langsam.

Also lässt sie ihren Blick etwas auffälliger auf die beiden Riesenstrandtaschen gleiten, die zum Bersten voll neben ihr stehen.

„Jetzt sie dir die an“, meldet sich die Nörgelstimme in mir wieder, „die hat ja wohl eine komplett falsche Vorstellung von den Ausmaßen deiner Muskeln!“

„Klappe!“, sage ich knapp.

„Bitte?“ Tinas Stirn runzelt sich warnend.

Ups, hab ich wohl laut gesagt. „Entschuldige, ich meinte nicht dich. Es ist nur, ich würde gerne noch etwas ... also, ich hab da so ...“. Soll ich ihr jetzt endlich reinen Wein einschenken und erzählen, dass ich eine Überdosis Abführzäpfchen intus habe und mich keine fünf Meter vom Klo entfernen kann ... oder mach ich lieber einen auf Geistesblitz? Is‘, glaub’ ich, besser. Auch, wenn’s bestimmt nicht die beste Lösung ist. Also durch:

„ ... eine Idee. Ja genau, für’n Lied – könnte ‘n Hit werden!“

Tinas Stirn sieht jetzt auch aus wie’n Hit, und zwar auf Vinyl, Rille an Rille, nur tiefer. Das sollte sie nicht machen, bleibt irgendwann. Ihre Stimme dagegen ist gar nicht mehr tief, im Gegenteil, dünn wie’n Sushi-Messer.

„Soso, dich hat also wieder mal die Muse geküsst ... Und du glaubst, ich schlepp jetzt diesen ganzen Berg hier allein zum Strand?“

Ach, mit Glauben hat das ja nichts zu tun, eher mit Gewissheit. Und zwar mit der, dass ich mich recht bald wieder entleeren muss. Sonst nehme ich nämlich selbst noch die Ausmaße einer Strandburg an, und zwar einer, in der du diesen ganzen Krempel hier locker unterbringen kannst. Aber das sag ich diesmal nicht laut. Gott behüte!

In der Regel hat meine geliebte Frau ja alles Verständnis der Welt für meine kreativen Auswüchse. Doch in Anbetracht der schieren Unmenge an Material, das hier rumliegt, fühlt sie sich wohl doch etwas überfordert. Ich kann ihr leider nur mit einem Achselzucken entgegnen, denn Worte finde ich keine. Sie muss da jetzt einfach durch. Und ich auch. Und mit mir der Rest des letzttäglichen Speisebreis.


Gegen Mittag hat sich mein Darm wieder etwas beruhigt. Das drohende Krampfen ist einem reflexartigen Zucken gewichen, ich glaube, ich bin jetzt leer. Bis zum Abend nehme ich mir vor, ausschließlich zu trinken und nichts mehr zu essen. Das ist weniger gefährlich und darüber hinaus außerordentlich praktisch: Pinkeln kann man auch im Meer. Defäkieren zwar auch, aber meist nicht, ohne dabei Aufmerksamkeit zu erregen. Beim Pullern ist das anders; man darf sich beim Wasser lassen nur nicht gehen lassen, bzw. das Gehen lassen. Denn: im Wasser stehen bleiben, immer suspekt. Das ist zugleich das Problematische daran. Zumindest für Psychopiesler wie mich. Denn ich kann leider nicht mal Strullern, wenn ich auch nur eine leise Ahnung davon habe, dass sich jemand für meinen Entleerungsvorgang interessiert. Und wenn ich grad mittendrin bin, versiegt der Strahl, sobald sich so ein unverbesserlicher Gesellschaftspiesler zu einem feuchten-fröhlichen Zweier dazu gesellt. Kritisch wird so was immer, wenn ich, wie auf dem Oktoberfest manchmal, ein paar Mass Bier verinnerliche, die sich anschließend wieder veräußerlichen wollen. Keine Chance auf Erleichterung. Ein Graus ist mir neben dem unerträglichen Gestank solcher Urinale auch das beengte Miteinander, sozusagen hand in hand for a better Nierenwert. Wobei, ganz ehrlich: Das Anstrengendste ist immer noch, dabei die ganze Zeit die Luft anhalten zu müssen. Nein, nicht wegen des Gestanks. Wegen der Keime. Natürlich.

Bald habe ich aber einen guten Trick gefunden, wie ich das Strandpublikum hier an der Nase herumführen kann. Ich gehe einfach sehr langsam ins Wasser. Nur nichts überstürzen. Wasser marsch erst ab der Gürtellinie, sonst verraten einen Nässespuren auf dem noch trockenen Teil der Badehose. Die schwierigste Phase in dem Unterfangen: Wenn das relativ kalte Meerwasser den von der Sonne empfindlich aufgewärmten Schritt erreicht, saugt man für gemeinhin erst einmal scharf die Luft ein, und das wirkt sich auf die eigentlich nötige Entspannung an diesem Punkt des Unterfangens eher kontraproduktiv aus. Ist das jedoch geschafft, darf nichts den Strom mehr unterbrechen. Ich gebe mich geologisch interessiert und schaue, eine Hand Schatten spendend vor der Stirn, in Richtung Elba. Abwechselnd stemme ich beide Hände in die Hüften und schüttle auch ab und zu ungläubig mit dem Kopf, möglichen Zuschauern signalisierend, da stünde einer wie gefesselt vor dieser beeindruckend schönen Landschaft.

Urlaub oder Leben

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