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EINLEITUNG: WOZU DIESES BUCH?
ОглавлениеDer Mensch ist aus seiner gewohnten Welt hinausgeworfen in eine fremdartige Umgebung.
Das selbstverständliche Vertrautheitsgefühl mit den umgebenden Menschen und Dingen ist verloren gegangen.
Otto Friedrich Bollnow
Es steht wohl außer Frage, dass Menschen so gut wie in jeder Epoche der Geschichte an ihrer Zeit etwas auszusetzen hatten, mit ihren Lebensumständen unzufrieden waren und sich eine „bessere Welt“ wünschten. Jedes Zeitalter hat seine Mahner und Warner, seine Kritiker und Spötter.
In seinen Unzeitgemäßen Betrachtungen, entstanden in den Jahren zwischen 1873 und 1876, schrieb Friedrich Nietzsche (1844 bis 1900) Folgendes:
Und nun schnell ein Blick auf unsere Zeit! Wir erschrecken, wir fliehen zurück: wohin ist alle Klarheit, alle Natürlichkeit und Reinheit jener Beziehung von Leben und Historie, wie verwirrt, wie übertrieben, wie unruhig flutet jetzt dies Problem vor unsern Augen! Liegt die Schuld an uns, den Betrachtenden? Oder hat sich wirklich die Konstellation von Leben und Historie verändert, dadurch, dass ein mächtig feindseliges Gestirn zwischen sie getreten ist?
(Nietzsche 1983, S. 43)
Was die heutige Zeit betrifft, würde wohl mancher diese Zeilen nahezu unverändert übernehmen. Allerdings glaubt vermutlich kaum jemand, dass ein „feindseliges Gestirn“ zwischen unsere Gegenwart und Vergangenheit getreten sei. (Freilich gebrauchte auch Nietzsche dabei bloß eine Metapher.)
In der heutigen Zeit – ich meine damit die letzten paar Jahrzehnte – können wir allerdings Phänomene beobachten, für die es in der ganzen Menschheitsgeschichte keine Präzedenzfälle gibt. Der Verlust der historischen Kontinuität ist eines dieser Phänomene. In keiner Epoche war man auf Reformen und Innovationen so versessen wie jetzt. Alles muss verändert, umgebaut, modernisiert, erneuert werden. Ob es sich dabei um das Bildungssystem oder das Postwesen handelt, um Bahnhöfe oder Flughäfen, um Einkaufszentren oder Freizeitanlagen, um Dörfer und Städte – im Abstrakten wie im Konkreten soll möglichst kein Stein auf dem anderen bleiben. Wie Thomas Bernhard (1931 bis 1989) in seinem Stück Heldenplatz den Professor Schuster sagen lässt:
… überall wird alles vernichtet überall wird die Natur vernichtet die Natur und die Architektur alles Bald wird alles vernichtet sein die ganze Welt wird bald nicht mehr wiederzuerkennen sein
(Bernhard 1988, S. 85)
Ja, alles soll in neue Formen gegossen und, wie es so schön heißt, den heutigen Bedürfnissen angepasst werden.
Die „heutigen Bedürfnisse“ sind eine bloße Konstruktion, erfunden von unseren Planern und Machern, die damit ihren eigenen Innovationswahnsinn legitimieren wollen. Das gelingt ganz gut, weil die meisten Menschen diesen Wahnsinn mitmachen und – betäubt von einer dubiosen Fortschrittsideologie – gar nicht wahrnehmen (und nicht wahrnehmen sollen!), dass jene Bedürfnisse nicht ihre eigenen sind.
Das zweite Phänomen ist ein nie dagewesener Größenwahn: Eisenbahnzüge sollen immer schneller, Flugzeuge immer größer, Straßen immer breiter und Bauwerke immer höher werden. Niemand will an Grenzen, die Begrenztheit des Menschenmöglichen denken, alles scheint machbar. Wem aber die Superlative letztlich nutzen sollen, weiß keiner so recht. Auch lässt sich nicht schlüssig begründen, warum alles mit stets höherer Geschwindigkeit erledigt werden und alles kürzer dauern soll.
Damit sind wir beim dritten Phänomen: der Beschleunigung. Der Ausspruch „Alles zu seiner Zeit“ hat heute keine Gültigkeit mehr, weil sich niemand Zeit lassen, Zeit nehmen darf. Der Münchener Philosoph und Pädagoge Karlheinz Geißler, der viel Zeit in dieses Problem investiert hat, spricht treffend von einem „Tempodrom“. Er schreibt Folgendes:
Ungeduld, Unruhe, nervöse Erregung und Gereiztheit wachsen überall dort, wo nicht schnell genug informiert, wo zu langsam gegessen und zu zögerlich verstanden und reagiert wird. Redet ein Gesprächspartner zu langsam, setzt man ihn unter Zeitdruck und vervollständigt die von ihm begonnenen Sätze gleich selbst. Langsamesser, Genießer müssen mit vorwurfsvollen Blicken rechnen und es über sich ergehen lassen, in immer kürzer werdenden Abständen von der Bedienung mit forderndem Unterton gefragt zu werden, ob es ihnen denn wirklich auch schmeckt. Eltern beschimpfen ihre Kinder, die das Lernpensum nicht schnell genug absolvieren, und ermahnen sie, doch nicht ständig so „rumzutrödeln“.
(Geißler 2012, S. 8)
In diesem Tempodrom finden Ruhe und Wohlbefinden keinen Platz. Aber man spricht ja heutzutage auch weniger von Wohlbefinden als von Wellness, das – in Verbindung mit Fitness – schon auf der sprachlichen Ebene jenen Ungeist charakterisiert, dem wir überall begegnen und der uns auf Schritt und Tritt gefährlich überwölbt. Ein kleines Beispiel. Das Kaffeehaus (als Österreicher weiß ich, wovon ich rede) ist ein Ort, der zum Verweilen, zum Lesen, zum Austausch mit Gleichgesinnten und Andersdenkenden einlädt. Jene Lokale aber, die sich Coffee to go nennen (und in unseren Städten neuerdings wie Pilze aus dem Boden sprießen und das gute alte Kaffeehaus mancherorts schon verdrängen), sind das genaue Gegenteil, Symptom eines Zeitalters, das niemandem mehr Muße gönnt. Coffee to go bedeutet ja letztlich doch nichts anderes als „Nimm den Kaffee und verschwinde (nachdem du ihn bezahlt hast)!“
Und noch ein viertes Phänomen ist hier zu nennen: die Regulierungswut. Wo man auch hinschaut, erblickt man heute Verbotsschilder und Warnhinweise, Aufforderungen zum Gehen und Stehen, zum Anstellen und Vortreten … Jedes kleinste Detail unseres Alltagslebens muss in den Augen des Gesetzgebers geregelt werden, vermeintlich im Interesse unserer eigenen Sicherheit und Gesundheit. In Wahrheit geht es freilich um nichts anderes als die Entmündigung des Individuums. Dieses Bestreben ist nicht neu, nimmt aber heute bizarre Dimensionen an, weil die entsprechende Technologie (beispielsweise in Form von Überwachungskameras) verfügbar ist und ständig verbessert beziehungsweise ausgeweitet wird.
Nimmt man diese vier Phänomene zusammen – und wir werden in diesem Buch noch auf weitere eingehen –, erhält man das Spiegelbild einer Zivilisation, die sich auf Kosten des Einzelnen entfaltet, und das mit Riesenschritten. Es ist eine Zivilisation, die den Bedürfnissen des Individuums nicht mehr gerecht wird. Selbstverständlich wurde das Individuum zu allen Zeiten von den jeweils Herrschenden unterdrückt. Aber man sollte meinen, dass zweihundert Jahre nach der Aufklärung und über sechzig Jahre nach der Erklärung der Menschenrechte der einzelne Mensch tatsächlich mehr zählt als etwa im Mittelalter. Das aber ist mitnichten der Fall. Bloß die „Vorzeichen“ haben sich geändert. An die Stelle der einst allein selig machenden Kirche mit ihrem Totalitätsanspruch in allen Belangen des Lebens sind inzwischen Ökonomen getreten, die mit Politikern eine unheilige Allianz bilden und den Einzelnen nicht mehr sein lassen, was er sein will.
Unsere Natur ist freilich nicht zu beschwindeln. Längst regt sich in vielen von uns das Gefühl, um etwas betrogen zu werden, worauf wir ein Anrecht haben: ein selbstbestimmtes, einigermaßen gutes Leben und ansonsten unsere Ruhe. Natürlich kann ein „gutes Leben“ in der Regel nur mit Arbeit, für die man bezahlt wird, erreicht werden. Doch zielt die heutige Arbeitswelt zunehmend darauf ab, den Einzelnen auszubeuten. Gewiss, in manchen Epochen unserer Geschichte war das nicht anders – wenn man an die Sklaverei denkt, muss man sagen, es war weitaus schlimmer –, aber im 20. Jahrhundert machte sich, einmal abgesehen von den beiden Weltkriegen, doch eine Tendenz zur Verbesserung unserer Lebens- und Arbeitsbedingungen bemerkbar. Davon ist im Allgemeinen nichts mehr zu spüren. Zwar hat sich der Umgangston geändert (politisch korrekte Sprache!), was aber doch nur jene Brutalität gleichsam abfedern soll, die dem Einzelnen heute allerorten ins Gesicht schlägt. In den Tiefen unserer Seele bleiben die Reaktionen darauf nicht aus. In den Industrieländern westlicher Prägung nehmen psychische Erkrankungen stark zu. Der Erwartungsdruck, dem der Mensch in seinem beruflichen, aber auch privaten Umfeld, ja selbst in seiner Freizeit ausgesetzt ist, drückt manchem schwer auf sein Gemüt. Die moderne Leistungsgesellschaft, die sich auch durch Beziehungsarmut und Einbußen des Kommunikationsvermögens kennzeichnet, fordert ihren Tribut.
Mit anderen Worten, unsere Zivilisation macht uns allmählich krank. Psychologen und Psychotherapeuten haben Konjunktur. Aber niemand, der sich „ausgebrannt“ fühlt, sollte das seine (berufliche) Umgebung wissen lassen. Sonst gilt er schnell als nicht mehr „voll einsatzfähig“, wird als „Versager“ abgestempelt und läuft Gefahr, seinen Arbeitsplatz zu verlieren und nicht mehr in die „Arbeitswelt“ zurückkehren zu können. Ein wahrer Teufelskreis, in den wir uns da mit unserer Zivilisation neuerdings hineinmanövriert haben! Herkömmliche psychologische Erklärungen und darauf gegründete Therapien, die dem Einzelnen helfen sollen, bleiben aber meist nur an der Oberfläche und dienen bloß der Symptom-Bekämpfung. Man muss der Sache schon auf den Grund gehen, was heißen will, die Natur des Menschen ergründen. Unsere psychische Grundausstattung, erworben in vielen Jahrmillionen, ist auf die Erfordernisse dieser Zivilisation nicht zugeschnitten. Wir Menschen sind Resultate langer stammesgeschichtlicher Entwicklungsprozesse, in und mit denen unser affektiver beziehungsweise emotionaler „Haushalt“ ausgeprägt wurde – in einer Welt aber, die gänzlich anders ausgestattet war als die, in der wir heute leben. Wir haben sie uns selbst geschaffen, ohne dass wir je auch nur ahnten, wohin sie uns bringen wird. Sicher gab es schon vor Jahrzehnten warnende und mahnende Stimmen weitblickender Denker; aber die sind heute entweder weitgehend in Vergessenheit geraten oder man will sie nicht mehr hören.
Man verstehe mich nicht falsch. Ich will die Welt und das Leben unserer prähistorischen Ahnen keineswegs romantisieren oder verherrlichen. Das wäre auch gänzlich unangebracht. Aber unser Handeln, Denken, Fühlen und Wollen heute sind nicht unmaßgeblich geprägt von jenen in Äonen zementierten Verhaltensweisen, die unsere Vorfahren im Dienste ihres Überlebens zu entwickeln hatten. Nach wie vor geht es freilich in erster Linie bloß um das Überleben, doch sind die Rahmenbedingungen dafür in kürzester Zeit völlig andere geworden. Der heutige Mensch befindet sich in einem undurchsichtigen Geflecht institutioneller und ökonomischer Erfordernisse, welche die Möglichkeiten seines Überlebens entscheidend mitbestimmen und in gleichem Maße seinen eigenen Handlungsradius einschränken.
Wie ich bereits bemerkt habe, sind vor allem die letzten Jahrzehnte durch eine enorme Entwicklungsbeschleunigung unseres Lebens auf verschiedenen seiner Ebenen gekennzeichnet. Das hängt natürlich mit den modernen Kommunikationstechnologien zusammen, die uns erst in den 1990er Jahren in vollem Umfang zugänglich wurden und die von vielen heute gleichsam wie Rauschdrogen konsumiert werden. Kommunikation und Information, lebenswichtige Elemente unserer Existenz, haben inzwischen eine ins Perverse gesteigerte Qualität erreicht. Nie in der langen Evolutionsgeschichte unserer Gattung hatten so viele Menschen einen so direkten und schnellen Zugang zu so viel Information wie heute, doch nie war die Gefahr einer sehr raschen massenhaften Verdummung so groß wie derzeit. Die Massenmedien (die nicht umsonst so bezeichnet werden) überfluten uns mit sinn- und nutzloser „Information“. Das wäre an sich noch nicht schlimm, würden nicht viele Menschen jeden beliebigen Unsinn glauben und jeder noch so bedeutungslosen Meldung in jedem beliebigen Boulevardblatt allein deswegen Bedeutung zuordnen, weil sie „in der Zeitung steht“. In noch höherem Maße gilt das für das Internet. Die ungeheuren Kommunikationsmöglichkeiten, die uns die moderne Technologie in die Hand gibt, führen letztlich zu einer nie dagewesenen Kommunikationsarmut. Unserer Spezies, die auf Mitmenschlichkeit im kleinen Kreis angelegt ist, werden sie nicht gerecht. Aber vielleicht auch ist diese Spezies, durch ihr eigenes Zutun, zur Verdummung verurteilt …
Ich bitte den Leser um Geduld, auf alle hier angesprochenen Kennzeichen unserer Gegenwart wird noch ausführlich zurückzukommen sein, und ich werde es nicht bei bloßen Andeutungen bewenden lassen.
Aber wozu eigentlich dieses Buch? Die Antwort darauf kann schon aus dem Vorwort herausgelesen werden. Ergänzend dazu sei hier noch betont, dass es mir auch darum geht, die Tragweite des modernen Evolutionsdenkens aufzuzeigen. Wenn wir unsere lange Evolutionsgeschichte und die Prozesse, die sich dabei abgespielt haben, ernst nehmen, dann lässt sich schließlich die große Frage beantworten, warum wir Menschen so sind, wie wir sind. Und es lässt sich plausibel machen, dass die heutige Zivilisation diesem unseren „So-Sein“ immer weniger gerecht wird.