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Weltethos und universelle Menschenrechte

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Hans Küng sucht in seinem verdienstvollen Konzept eines „Weltethos“ nach einem weltweit geltenden Ethos als Grundlegung für das Zusammenleben der Völker, Kulturen und Religionen.18 Für ihn sind die Religionen für die Entwicklung eines Weltethos unentbehrlich, um eine „Unbedingtheit und Universalität ethischer Verpflichtungen begründen“19 zu können. Küngs Anliegen lautet: „Weltpolitik und Weltwirtschaft verlangen nach einem Weltethos.“ 20 Die maßgeblich von Küng inspirierte Erklärung zum Weltethos des Parlaments der Weltreligionen aus dem Jahr 199321 will die Menschenrechte ethisch mit „unverrückbaren Weisungen“, die allen Religionen gemein sind, abstützen. Menschenrechte seien nämlich der einzig verbindliche Maßstab für Ethik und Politik in einer säkularen Weltgesellschaft mit ihrer Vielfalt von Wertüberzeugungen, Kulturen und Religionen. Vier „unverrückbare Weisungen“ führt das Parlament der Weltreligionen auf. Sie lauten:

 „Du sollst nicht töten!“ bzw. „Habe Ehrfurcht vor dem Leben!“

 „Du sollst nicht stehlen!“ bzw. „Handle gerecht und fair!“

 „Rede und handle wahrhaftig!“ bzw. „Du sollst nicht lügen!“

 „Du sollst nicht Unzucht treiben!“ bzw. „Achtet und liebet einander!“

Das ebenfalls von Hans Küng entwickelte Manifest Globales Wirtschaftsethos22 will „gemeinsame fundamentale Vorstellungen über Recht, Gerechtigkeit und Fairness“ für ein globales Wirtschaftsethos auf moralischen Prinzipien und Werten entwickeln, die „seit alters her von allen Kulturen geteilt und durch gemeinsame Erfahrungen getragen werden“. In unverkennbarer Nähe zu den „unverrückbaren Weisungen“ des Parlaments der Weltreligionen aus dem Jahr 1993 werden in dem Manifest u. a. folgende Prinzipien genannt: das grundlegende Prinzip der Humanität sowie Grundwerte für globales Wirtschaften, Gewaltlosigkeit und Achtung vor dem Leben, Gerechtigkeit und Solidarität, Wahrhaftigkeit und Toleranz, gegenseitige Achtung und Partnerschaft.

Zu Küngs „Weltethos“ und den von ihm inspirierten Entwürfen ist zu sagen, dass man ohne grundlegende Prinzipien bei einer ethischen Urteilsbildung sicherlich nicht auskommt. Aber ebenso wenig kann man einfach deduktiv argumentieren, indem aus den Prinzipien direkt Schlüsse gezogen werden. Diese Prinzipien sind ebenso unbestimmt wie vage, sodass nicht klar wird, wie sie denn konkretes Handeln oder Ordnungsstrukturen prägen könnten. Sie können keinen kritischen Maßstab bieten und deshalb auch kaum eine kritische Wirkung entfalten.

Im Zentrum von Küngs Konzeption des „Weltethos“ stehen nicht die Menschenrechte, sondern universale Menschenpflichten. Küng hat auch die Erklärung der Menschenpflichten des „InterAction Councils“ aus dem Jahr 1997 substanziell geprägt.23 Die Betonung der Pflichten gegenüber den Rechten mag zwar religiösen Traditionen entsprechen. Die Menschenrechte haben aus gutem Grund kein Pendant zu entsprechenden Menschenpflichten. Die These, die Einhaltung von Pflichten sei eine Bedingung für die Gewährung von Rechten, oder anders: den Rechten stünden auch entsprechende Pflichten zur Seite, scheint plausibel, versperrt aber den Blick darauf, dass es in einer freien Gesellschaft Rechte und Pflichten gibt, die sich nicht gegenseitig bedingen. Der Bürger, die Bürgerin hat Rechte und Pflichten, und beide stehen für sich. Menschenrechte sind keine Belohnung für Wohlverhalten; sie gelten bedingungslos. Diese Unbedingtheit der Rechte meinte Hannah Arendt, als sie davon gesprochen hat, dass Menschen nur ein Recht haben: das „Recht, ein Recht zu haben“24. Wo immer dieses Grundrecht verweigert wird, fallen auch alle anderen Rechte. Das Recht auf Menschenrechte ergibt sich nicht reziprok aus Pflichten. Das Menschenrecht ist ein unbedingtes Recht. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte formuliert deshalb in Artikel 3 bedingungslos: „Jeder hat das Recht auf Leben.“ Eine Gesellschaft, die dem Menschen als Menschen Rechte einräumt, schließt zugleich aus, dass zwischen Menschenrechten und Pflichten eine direkte Parallelität besteht. Menschenrechte sind nämlich nicht das Ergebnis eines Tausches nach dem Marktprinzip, sondern Ausdruck der unveräußerlichen Würde des Menschen, der man nicht durch unterlassene Pflichten verlustig gehen kann.

Küng kondensiert die ethischen Traditionen und bietet sie dann als Grundlage für globales Wirtschaften an. Er suggeriert eine ethische Eindeutigkeit der Religionen, die so nicht besteht, und nimmt dafür eine Universalität in Anspruch, die es so auch nicht gibt. Es gibt keinen „ethischen Basiskonsens“25, wie ihn Hans Küng in seinem breit angelegten Weltethos zu begründen sucht.

Eine multikulturelle Weltgesellschaft wird nicht über kulturell-religiöse Normen zusammengehalten, sondern allein durch Menschenrechte, die eine alle Menschen vereinigende politische Kultur bilden. Die Menschenrechte sind die Grundlage für die gleichberechtigte Koexistenz aller Kulturen und Völker. Gegenseitige Anerkennung auch von Differenzen kommen nur auf der Grundlage von Menschenrechten zu ihrem Recht. Erst die wechselseitige Anerkennung gemeinsamer Rechte kann eine politische Kultur begründen, die auf die Anerkennung der Freiheit der Subjekte und die Würde aller zielt. Menschenrechte schaffen dort individuelle Freiräume, wo die Moral Pflichten auferlegt.

Es lässt sich nicht bestreiten, dass angesichts der Vielfalt ethischer Grundüberzeugungen Grundlinien eines gemeinsamen Ethos wünschenswert, ja notwendig wären. Küng geht den Weg zu diesem globalen Ethos über den Weg einer Bestimmung eines Minimalkonsenses gemeinsamer Werte und Grundüberzeugungen. Der katholische Theologe Johann Baptist Metz hat demgegenüber darauf aufmerksam gemacht, dass ein globales Ethos kein Abstimmungs- und Konsensprodukt sein kann. Einen universellen Anspruch könne nicht erheben, wer sich auf die Zustimmung aller bezieht. Der zentrale Einwand lautet, dass Küng in seinem durchaus verdienstvollen Konzept seines „Weltethos“ keinen Zugang zur universellen „Autorität der Leidenden“ habe:

„Diese Autorität der Leidenden wäre die innere Autorität eines globalen Ethos, einer Weltmoral, die vor jeder Abstimmung, vor jeder Verständigung aller Menschen verpflichtet und die deshalb von keiner Kultur und keiner Religion, auch von der Kirche nicht, hintergangen oder relativiert werden kann.“26

Küng argumentierte nicht von den Erfahrungen der Leidenden her. Der Einwand von Metz findet auch in der Entstehungsgeschichte der Menschenrechte einen geschichtlichen Rückhalt. Menschenrechte sind Ausdruck der Empörung der Beleidigten über die Verletzung ihrer menschlichen Würde. Sie sind von ihnen erkämpft worden, nicht aber ein historisch abstraktes und gesellschaftlich kontextloses Konsensprodukt religiöser oder gesellschaftlicher Eliten. Das berührt auch die Frage, ob die Menschenrechte kulturell dem Westen gehören. Menschenrechte sind eine Antwort auf eine Universalität von menschengemachtem Leid und Ungerechtigkeit. Die Behauptung, die Menschenrechte seien europäisch und nicht wirklich universell, ist selber im schlechten Sinne europäisch. Sie vernachlässigt den Entstehungsort des Kampfes um Menschenrechte. Es ist ein Kampf darum, dass die verletzte Würde des Menschen zu ihrem Recht kommen kann.

Metz hat die „Compassio“, eine Mitleidenschaft, die Freiheit und Gerechtigkeit für alle sucht, das „Weltprogramm des Christentums“27 genannt. Für ihn steht jedes Reden über den Menschen unter einer „Autorität der Leidenden“; sie ist „die einzige universale Autorität, die uns in unseren globalisierten Verhältnissen geblieben ist“28. Die Stärke dieser Autorität besteht darin, dass sie ein universales Kriterium benennt, das allen Menschen zumutbar ist. Die „Autorität der Leidenden“ ist darin begründet, dass sie Leiden am Unrecht nicht hinzunehmen bereit ist. Diese Weigerung mündete nach langen geschichtlichen Prozessen schließlich in den Menschenrechten. Sie entstammen einer „Autorität der Leidenden“, zehren von der Verletzung der Menschenwürde und wollen den ungerecht Behandelten Recht und Gerechtigkeit widerfahren lassen. Die Menschenrechte haben eine universale Autorität: Es ist die Autorität der Leidenden.

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