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Exkurs: Umbrüche in der Achsenzeit
ОглавлениеDie Bedenken gegenüber dem abstrakten Konsensminimalismus der Religionen, wie ihn Küng destilliert, werden auch in neueren Forschungen über die sog. Achsenzeit bestätigt. In der Zeit zwischen dem achten und dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert vollzieht sich eine tiefgreifende sozio-ökonomische Wende in geografisch weit voneinander entfernten Regionen von Griechenland über Palästina, Persien bis nach Indien und China. Was Jaspers phänomenologisch als „Achsenzeit“ beschrieben hat, haben David Graeber und Ulrich Duchrow als eine Epoche zu erklären versucht, die mit den Folgen der Überschuldung und der aufkommenden Geldwirtschaft konfrontiert war.29 Fast gleichzeitig, aber unabhängig voneinander kam die Münzprägung im Norden Chinas, am Ganges in Indien und in den Regionen um das Ägäische Meer auf. Die Religionen vom Vorderen Orient bis nach China zeigten eine beachtliche gemeinsame Tendenz, den negativen Entwicklungen der aufkommenden Geldwirtschaft entgegenzutreten. Es gibt also einen ethischen Konsens der Religionen, wie ihn Hans Küng konstatiert; wer ihn aber erheben will, der muss an die Ursprünge zurück: die Reaktionen der eurasischen Weltreligionen auf die Verbreitung einer lebenbeherrschenden Geldwirtschaft. Sie geben eine Antwort auf die ökonomischen Umwälzungen, die mit dem Aufkommen von Geld und Privateigentum immer drängender wurden. Der Konsens der Religionen ist deshalb kein abstraktes Abstimmungsprodukt, sondern Ergebnis erstaunlich kongruenter Antworten auf gemeinsame sozioökonomische Herausforderungen.
Diese Einsichten sind folgenreich: Die ethischen Analysen und Antworten dieser Religionen entstammen zwar fernen Zeiten, haben aber ihre gegenwartsrelevante Bedeutung darin, dass sie auf eine Vorstufe jener wirtschaftlichen Entwicklung reagieren, die derzeit im Finanzkapitalismus ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Scharfsinnig hatte Aristoteles angesichts der Anfänge einer sich gleichsam ins Unendliche anhäufenden Akkumulation gesagt, dass es „für dieses Kapitalerwerbswesen keine Grenze des Ziels“ gibt, denn: „Alle Geschäftemacher nämlich wollen ins Unbegrenzte hinein ihr Geld vermehren.“30 Die Bibel unterscheidet sich in keiner Weise von dieser Kritik, wenn es dort heißt: „Wer das Geld liebt, bekommt vom Geld nie genug.“ (Kohelet 5,9) Die Propheten Israels warnten genauso vor Gier und der Akkumulation von Geld und Besitz wie die Weisen Griechenlands oder Buddha.
Die Dynamik, die mit der Erfindung des Geldes einsetzte, wirkt bis heute fort. Da man mit Geld tendenziell alles kaufen kann, war auch alles in Geld umwandelbar. Eine der Ausdrucksformen der Auseinandersetzung mit dieser in der Achsenzeit einsetzenden Dynamik ist der Mythos. In den kleinasiatisch-griechischen Mythen zeigen sich – erstaunlich genug – erste Ansätze, die vor der einsetzenden Dynamik warnten. Eine solche mythische Warngeschichte erzählt von einem König Midas. Dionysos, der Weingott, gewährte König Midas den Wunsch, er könne bekommen, was er wolle. Midas wünschte sich, dass alles, was er berühre, zu Gold werde. Dionysos gewährte den Wunsch, und alles, was Midas berührte, wurde zu Gold. Als er den Becher Wein und das Brot berührte, wurden sie zu Gold. So war er durstig und hungrig inmitten des Goldes. Da erkannte er seine Schuld, und Gott Dionysos erbarmte sich seiner. Dieser Mythos erzählt von einer Unersättlichkeit, die alles in Gold und Geld umwandeln will, bis schließlich diese Umwandlung die eigenen Lebensgrundlagen zerstört.
Die Antike nahm sich dieser Umbrüche nicht nur in mythischen Erzählungen, sondern auch in philosophischen Reflexionen wie bei Aristoteles und in der prophetischen Kritik in der Bibel an. Es kann als Konsens gelten, dass Prophetenworte nicht vor dem 8. Jahrhundert, also dem Beginn der sog. Achsenzeit, anzusetzen sind. Auch die Tora entsteht in der Zeit einer tiefen sozioökonomischen Krise im 8. Jahrhundert, die weltweit von China über Indien bis in die Welt des östlichen Mittelmeerraums aufgetreten ist.31 Worin besteht diese Krise? Aus einer immer wieder auftretenden zeitweiligen Verschuldung wird in der Zeit der aufkommenden Geld- und Privateigentumsordnung eine Überschuldung, bei der die Schuldner nicht mehr in der Lage sind, ihre Schulden jemals zurückzuzahlen. Die Propheten kritisierten die Konzentration von Häusern und Feldern in den Händen weniger (Jesaja 5,8; Micha 2,2). Ehedem freie Bauern geraten in Schuldsklaverei (Micha 2,9 f.). Die Propheten Israels warnten genauso vor Gier und der Akkumulation von Geld, Besitz und Boden wie die Weisen Griechenlands oder Buddha in Indien.
Im ganzen Mittelmeerraum traten ab der Mitte des 8. Jahrhunderts tiefgreifende ökonomische und soziale Änderungen ein: Die Gesellschaften spalteten sich in Arm und Reich; Überschuldung, Verarmung und Bereicherung nahmen zu, Bauern mussten ihre Felder verpfänden oder gerieten selber in Schuldknechtschaft.
Die folgende Übersicht zeigt voneinander unabhängige Regulierungen der gleichen sozialen Prozesse:32
Griechenland | Israel | ||||
Gesetzesreformen | Athen 621; 584/2 | Bundesbuch 8. Jh. v. Chr. | Deuteronomium 7. Jh. v. Chr. | Heiligkeitsgesetz 5./6. Jh. v. Chr. | Nehemia 5. Jh. v. Chr. |
Zinsverbot | Megara 570 – 560 | Exodus 22,24 | Deuteronomium 23,20 | Levitikus 25,35 | Nehemia 5,10 |
Schuldenerlass | Athen 594/2 | Deuteronomium 15,2 f. | Nehemia 5,10 | ||
Sklavenbefreiung | Athen 594/2 | Exodus 21,2 f. | Deuteronomium 15,12 f. Jeremia 34,8 ff. | Levitikus 25,29 ff. | Nehemia 5,8 |
Umverteilung von Land | Athen ca. 538 | Levitikus 25,13 ff., 23 ff. | Nehemia 5,11 |
Abb. 1
Wie in Megara und in Athen unter Solon, so reagierte auch die Tora in ihren Gesetzesbüchern, dem Bundesbuch, dem Buch Deuteronomium und dem Heiligkeitsbuch, auf die Zunahme von Überschuldung, Schuldsklaverei und die Akkumulation von Grund und Boden. Auf die Dynamik der Verschuldung reagiert man mit einem Zinsverbot (Deuteronomium 23,20), auf die Überschuldung mit einem Schuldenerlass (Deuteronomium 15,2 ff.) und der zeitlichen Begrenzung von Schuldknechtschaft (Deuteronomium 15,12 f.). Es ist der Versuch, Verarmung strukturell durch eine Landreform zu korrigieren und Akkumulationsprozesse periodisch rückgängig zu machen. Man weitete die Solidarität, die bislang auf die Großfamilie bezogen war, auf alle Mitglieder der Gesellschaft aus. Die krisenhafte Entwicklung soll mit entsprechenden Sozial- und Wirtschaftsgesetzen entschärft oder zumindest sollen die Folgen für die Betroffenen abgemildert werden.