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Menschenrechte unter Druck
ОглавлениеDiese Schilderung über die Verhältnisse eines Zulieferbetriebes für Continental zeigt die Rückseite der Globalisierung. Zwar gelten die Menschenrechte und besonders die sozialen Rechte als großartige Errungenschaft. Doch die Schilderung der Arbeiter aus den Philippinen wirft die Frage auf, ob die Menschenrechte bloß ein zahnloser Tiger sind. Was nutzen die verbrieften Rechte den philippinischen Arbeitern? Die ganze, tief gespaltene Welt ist in ein und demselben Weltsystem integriert. Die eine Welt hat eine erste, zweite und eine dritte Welt. Über die Gewinne der weltweit tätigen Unternehmen wird irgendwo in Manila, Bangladesh oder in Südafrika entschieden. Hosen, T-Shirts, Computer oder Maschinenbauteile – all diese Produkte des alltäglichen Lebens werden irgendwo auf der Welt hergestellt. Was allen Menschen von den Staaten der Weltgemeinschaft angesichts dieser Lage versprochen wurde, sind die Menschenrechte. Warum aber haben es die Menschenrechte in Zeiten der Globalisierung so schwer?
Im Hinblick auf die Menschenrechte bieten momentan die UN-Leitprinzipien Wirtschaft und Menschenrechte immerhin eine Gelegenheit, Veränderungsimpulse anzustoßen. Sie nehmen die Staaten in die Pflicht, die Menschen vor Menschenrechtsverstößen durch Unternehmen zu schützen, und fordern die Unternehmen auf, die Menschenrechte nicht selbst zu verletzen. Vor Kurzem fand die Eröffnungskonferenz zur Erstellung eines „Nationalen Aktionsplans Wirtschaft und Menschenrechte“ für Deutschland statt. In den zweijährigen Prozess sind u. a. verschiedene Regierungsressorts, Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften und zivilgesellschaftliche Organisationen eingebunden. Wenn immer mehr Menschen von Ausschluss bedroht sind, einer tiefen sozialen Spaltung, einer immensen ökologischen Zerstörung und einer zunehmenden Prekarisierung ihrer Lebens- und Arbeitsverhältnisse ausgeliefert sind – wer möchte angesichts solcher Zustände bezweifeln, dass der Wirtschaft „die ethische Dimension vernünftigen Wirtschaftens“10 abhanden gekommen ist? Wie wäre es sonst zu erklären, dass bei der Herstellung von Leiterplatten für deutsche Autos Menschen auf den Philippinen in einem solchen Ausmaß in ihrer Würde und ihren Menschenrechten verletzt werden? Wie kann man von vernünftigem Wirtschaften sprechen, wenn Zigtausende Textilarbeiterinnen unter miserablen Arbeitsbedingungen T-Shirts herstellen?
Papst Franziskus hat in seinem aufsehenerregenden Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium11 (Abk. EG) diesen Fragen seine ganze Aufmerksamkeit gewidmet. Er wirft den reichen Ländern vor, unbekümmert über die Verletzung der Menschenrechte hinwegzugehen:
„Um einen Lebensstil vertreten zu können, der die anderen ausschließt, oder um sich für dieses egoistische Ideal begeistern zu können, hat sich eine Globalisierung der Gleichgültigkeit entwickelt.“ (EG 54)
Nicht anders die Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Busan im Jahr 2013 in ihrem Aufruf zur Ökonomie des Lebens (Abk. ÖL). Wie der Papst auch, kritisiert sie einen globalen Lebensstil als Ausdruck einer globalen Wirtschaftsordnung, der weder die Rechte der Menschen noch die Zukunft der Schöpfung achtet:
„Diese lebenzerstörenden Werte haben sich langsam eingeschlichen, dominieren nun die heutigen Strukturen und führen zu einem Lebensstil, der die Grenzen der Erneuerbarkeit der Erde und die Rechte der Menschen und anderer Lebensformen grundsätzlich geringschätzt.“ (ÖL 13)
Was der Papst und die Ökumenische Erklärung kritisieren, nennt der Wiener Soziologe Ulrich Brand eine „imperiale Lebensweise“12. Gemeint ist ein Lebensstil, der tief in das Alltagsleben gerade der Ober- und Mittelklassen in den reichen Ländern eingelassen ist, weltweit vermarktet und als Leitkultur propagiert wird. Coca Cola, C & A und H & M gibt es in Berlin und Stuttgart genauso wie in São Paulo, Peking oder Manila. Brand nennt diese Lebensweise „imperial“, weil sie darauf basiert, dass die Produkte von billiger Arbeitskraft andernorts produziert werden, um einen exzessiven Konsum hierzulande aufrechterhalten zu können. Eine konsumfreudige Gesellschaftsschicht lebt über die Verhältnisse anderer. Sie lebt auf deren Kosten und zu deren Lasten. „Primark“ oder „Kik“ sind so billig, weil der wahre Preis anderswo bezahlt wird – von den Arbeiterinnen in Bangladesh, China oder auf den Philippinen.
Angesichts dieser Lage ist es unabdingbar, bei der Suche nach mehr Humanität und Gerechtigkeit von den Menschenrechten, und zwar den Rechten des konkreten Menschen, auszugehen. Die sozialen Menschenrechte sind die Bedingung für die Möglichkeit einer anderen, einer lebensdienlicheren und zukunftsfähigeren Wirtschaft.
Nun mag man vielleicht denken, das Thema „Wirtschaft und Menschenrechte“ sei für Deutschland, Europa und die USA mit ihren ausgebauten Sozial- und Arbeitsrechtssystemen ohne weitere Bedeutung. Das ist es keineswegs. Der Umgang der deutschen Regierung mit einem ILO-Übereinkommen über die Rechte von Hausangestellten kann dies illustrieren: Ohne weitere Debatten hatte der Bundestag 2013 ein Gesetz durchgewinkt, mit dem das Übereinkommen der ILO Nr. 189 über die Rechte der weltweit vielen Millionen Hausangestellten ratifiziert wurde. Das Übereinkommen rückt erstmals die Rechte von Hausangestellten in den Mittelpunkt und wertet deren Arbeit bei der Wohnungsreinigung, der Kinderbetreuung oder in der Pflege als eine abhängige Beschäftigung. Der Bundestag hatte das Gesetz ohne weitere Debatten verabschiedet, weil man wohl meinte, dass die Rechtlosigkeit von Hausangestellten ein Problem ferner Länder wäre. Dabei wurde aber übersehen, dass auch hierzulande zugewanderte Haushaltshilfen in der Wohnungsreinigung oder der Pflege hinsichtlich ihrer Arbeitsbedingungen größere Rechtssicherheit brauchen. Und gerade für den Bereich der Pflege hat die Bundesrepublik nicht alle Normen des ILO-Übereinkommens übernommen. Während das ILO-Übereinkommen eine 24-Stunden-Ruhepause vorsieht, hat die deutsche Bundesregierung eine Ausnahmeregelung von dieser Mindestvorschrift bei der Pflege gesetzlich verankert und dadurch den Schutz von Hausangestellten geschwächt.
Ein weiteres Beispiel: Die gewerkschaftsnahe Otto-Brenner-Stiftung hat in einer Studie belegt, dass sich auch in Deutschland Praktiken mehren, Druck auf Betriebsräte und Gewerkschaften auszuüben, wie es aus den USA bekannt ist.13 Dieses „Union-Busting“ ist nicht nur ein gewerkschaftspolitisches Thema. Es ist ein Verstoß gegen das Menschenrecht auf gewerkschaftliche Betätigung, das in ILO-Übereinkommen Nr. 87 und anderen Völkerrechtsquellen umfassend garantiert ist.
Auch auf europäischer Ebene fehlt ein Bewusstsein für unabdingbare menschenrechtliche Verpflichtungen. Darauf hat der Völkerrechtler Andreas Fischer-Lescano in einem Rechtsgutachten hingewiesen, das aufzeigt, wie die Troika aus Vertretern der Europäischen Zentralbank, des Internationalen Währungsfonds und der EU-Kommission durch die Kürzungspolitik verbriefte Rechte in Südeuropa beschädigt oder gar verletzt.14 Wenn Mindestlöhne abgesenkt, Urlaubszeiten gekürzt, das Arbeitslosengeld beschnitten wird, Kündigungsvorschriften verwässert werden oder das Tarifvertragssystem ausgehöhlt wird, dann wird der Schutzbereich der Grund- und Menschenrechte verletzt: Explizit werde gegen die Europäische Grundrechtecharta, ILO-Normen, den UN-Sozialpakt und die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen. Auch in Krisenzeiten sind die sozialen Menschenrechte unantastbar und jeder politischen Einflussnahme enthoben.
In zahlreichen Einzelfallbeispielen haben kirchliche Hilfswerke und Menschenrechtsorganisationen immer wieder auf Verletzungen der Menschenrechte durch transnationale Unternehmen und Handelsketten aufmerksam gemacht. Sie nehmen auf die Menschenrechte Bezug und unterstützen Partner in Ländern des globalen Südens dabei, sich gegen Menschenrechtsverstöße zu wehren, an denen transnationale Unternehmen beteiligt sind. MISEREOR hat angekündigt, alle zwei Jahre einen Bericht zu „Wirtschaft und Menschenrechte“ vorzulegen.15 Die Aufmerksamkeit über die Verletzungen von sozialen Rechten in der Arbeit auch hierzulande ist gestiegen. Ein „Bündnis gegen Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung“ hat sich in Deutschland zusammengefunden.16
Diese wenigen Beispiele aus der Bundesrepublik Deutschland, Europa und den Philippinen verweisen auf eine eigentümliche Widersprüchlichkeit: Die Welt wächst zusammen, und eine Weltgesellschaft ist im Entstehen begriffen. Dabei wird die ökonomische Globalisierung durch immer mehr rechtliche Standards gestaltet und abgesichert. Die wirtschaftlichen Regeln der Globalisierung sind mit harten Sanktionen ausgestattet, die von mächtigen Institutionen wie der Welthandelsorganisation (WTO) oder dem Internationalen Währungsfonds (IWF) überwacht werden. Wer gegen diese Regeln beim Handel oder bei Investitionen verstößt, riskiert ein Verfahren vor einem Schiedsgericht und hohe Strafen. Doch dieser Grundsatz gilt für die Wirtschaft, nicht für die Menschen.
John Ruggie, Professor an der Harvard Universität und UN-Sonderbeauftragter für Wirtschaft und Menschenrechte, belegt in einer Studie zahlreiche Menschenrechtsverletzungen durch transnationale Unternehmen.17 Auch wenn die Studie keinen Anspruch auf Repräsentativität erheben will, sind die Untersuchungsergebnisse dennoch bedrückend: Die meisten Verstöße sind in Asien zu verzeichnen, dann folgen Afrika und schließlich Lateinamerika. Menschenrechtsverletzungen finden aber auch in Europa und Nordamerika statt, wenn auch nur vereinzelt. Obwohl arbeits- und wirtschaftsbezogene Menschenrechtsverletzungen in Europa und den USA relativ selten sind, sind es doch die dort ansässigen Firmen, die für schwere Menschenrechtsverletzungen in Asien oder Afrika verantwortlich sind. Die weitaus meisten Menschenrechtsverletzungen betreffen das Recht auf gesunde Arbeitsbedingungen nach Artikel 7 des Sozialpaktes. In über vierzig Prozent der registrierten Beschwerden macht Ruggie eine indirekte Beteiligung der Unternehmen an Menschenrechtsverletzungen aus, sei es über Geschäftspartner, Liefer- oder Handelskette. Menschenrechtsverletzungen rufen oft einen Dominoeffekt hervor: Die Verletzung des einen Rechts zieht die Verletzung weiterer nach sich. Menschenrechtsverletzungen kommen in allen Wirtschaftssektoren und Wirtschaftsregionen vor. Angesichts dieser Häufung muss die Schlussfolgerung gezogen werden: Es liegen offensichtlich strukturelle Gründe für diese Häufung von arbeits- und wirtschaftsbezogenen Menschenrechtsverletzungen vor.