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SECHSTES KAPITEL

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Worin ich vom Bräutigam empfangen, nach antikem Kämpfer- und Soldatenleben ausgefragt werde und das Denkmal des Letzten Weltkrieges zu sehn bekomme.

ALS WIR, von dem lieben Herrn Io-Solip, dem Bräutigamsvater, fürsorglich geführt, einen hochgewölbten Korridor durchschritten, dessen angenehme Dämmerung wie vom Abschein des unsichtbaren Mondes gesprenkelt war, hörte ich deutlich den unverkennbar knöchernen Anschlag und das Auseinanderfahren von Billardkugeln.

„Was ist das, was ist das?!“ fragte ich und blieb stehn.

„Was wird’s schon sein“, mahnte B.H. ärgerlich und zog mich weiter.

Und wirklich und wahrhaftig, im Vorraum, der an des Bräutigams Schlafgemach grenzte, stand ein Billard auf seinen vier festen, kurzen, dickwadeligen Beinen, mit grünem Filz bezogen wie nur eh und je. Ich weiß nicht, warum es mich so herzlich bewegte, diesem Gegenstande hier zu begegnen, der schon in meiner eigenen Jugend auf mich immer den Eindruck eines altertümlichen Erbstückes aus Vorväterzeit gemacht hatte. Ach, so viele wertvolle Instrumente unsrer Kultur waren von der endlosen Zeit zwischen meinem Verschwinden und Wiederauftauchen dahingerafft worden: Ich sah zum Beispiel nirgends ein Pianoforte, noch irgendein anderes Musikinstrument, auch kein mechanisches, kein Grammophon, kein Radio. Einzig und allein das Billard, von seinen Anfängen an nur in dumpfen Kneipen, verregneten Landhäusern und feuchten Sommerhotels sich langweilend, hatte ein gewaltiges, ja ein mystisches Beharrungsvermögen entwickelt. Hier stand es, und es schien mir, B.H. und ich müßten es persönlich erkennen. Ich wagte aber nichts mehr zu sagen.

Der Bräutigam Io-Do schien, als er unsre Schritte gehört hatte, sich sofort vom Billard und aus dem Vorraum in sein Gemach zurückgezogen zu haben, denn es geziemte sich in diesen Tagen nicht für den Freier, daß er seine betrachtende und vorbereitende Muße durch banale Hantierungen oder Spiele unterbrach. Wiederum schlug uns ein anderes Licht entgegen als die verschiedenen Beleuchtungen oben in den Empfangsräumen und die wohlige Dämmerung im Korridor. (Je persönlicher und intimer ein Wohnraum war, um so tiefer lag er im Schoße der Erde, ganz im Gegensatz zur Gepflogenheit einer Zeit, welche die Schlafräume in den Oberstock zu verlegen pflegte. Je einsamer der neue Mensch mit seinem Körper bleiben wollte, um so weiter zog er sich zurück.) In meinen Tagen hatten einige Psychiater und überspitzte Künstler davon geträumt, artifizielles Licht in verschiedenen Mischungen oder Farbharmonien im Zusammenhang mit musikalischen Klängen auf die Seelen verfeinerter Liebhaber oder Kranker wirken zu lassen. Hier waren diese erkünstelten Träume zur vernünftigen Tat geworden. Aus Gründen der schon mehrfach erwähnten Sonnenfürchtigkeit lebten meine zukünftigen Zeitgenossen in ihren Häusern nur bei künstlicher Beleuchtung. Die Abkehr von der Natur war vollkommen. Sie war aber, und das muß immer wiederholt werden, zugleich auch notwendig. Durch die Einschrumpfung der Ozeane nämlich und die dadurch verursachte Verminderung der Wolkenbildung strahlte über der Erde bekanntlich ein ebenso ewiger wie öder Blauhimmel. Die ausgetrocknete Atmosphäre setzte der ultravioletten Strahlung fast keinen Widerstand entgegen. Ein ganzer Tag, im Freien zugebracht, hätte selbst die Kräfte eines bärenstarken Mannes überstiegen. Wie herrlich war deshalb das Haus im Schoße der Erde! Es war herrlicher, wichtiger, willkommener als in der Vergangenheit die vier schützenden Mauern während eines Schneesturms. Wie gut, wie herrlich, wie willkommen war auch das künstliche Licht, auf das phantasievollste von den Menschen behandelt, da es jederzeit alle Nuancen spielen konnte, die draußen die Natur längst vergessen zu haben schien, von der windig fetzigen Fahlheit eines Märzmorgens bis zum druidischen Clair de Lune einer versilberten Juninacht, von der lilahältigen Schneeblässe eines welligen Skiterrains bis zum golddurchtropften Waldesdunkel, je nach Wunsch. Wie gut war auch die immer frisch bereitete Luft, die ich bisher zu erwähnen vergessen habe, eine Luft, entweder dünn wie auf Bergesgipfeln oder voll Jod und Salz wie über der aufgewühlten See. Es war ein Ideal von häuslichem Leben. Das Haus verschloß sich wie die tönende Muschel schützend vor dem Kosmos und zauberte doch das ganze Raunen des Kosmos in seinen engen Hohlraum. Vater Io-Solip hatte die Tür geöffnet. Wir folgten ihm ins Appartement seines Sohnes. Io-Do, der Bräutigam, lag, wie es sich gehörte, eine hölzerne Schlummerrolle unterm Kopf, auf dem viereckigen, niedrigen Ruhelager, ähnlich wie man es zu meiner Zeit als „Couch“ bezeichnet hatte. Der junge Io-Do trug keine Perücke, womit ich mich gewöhnt habe, den Kopfaufsatz meiner neuen Mitmenschen falsch zu bezeichnen, sondern er trug eine Art von goldenem Helm. Auch war er nicht nackt, sondern in einen dichten schwarzen Schleierstoff gehüllt; schwarz nämlich war hier, ähnlich wie bei uns, die Festesfarbe der Männer. B.H. sah mich an. Unzweifelhaft fragte sein Blick nach der Impression, die der schöne Jüngling in mir hervorrief. Da ich mich nun schon einige Stunden in dieser Welt befand, hatte sich nicht nur mein Unterscheidungsvermögen für die menschlichen Gesichter, sondern sogar mein physiognomischer Instinkt in hohem Grade geschärft. Ich hätte B.H. eine bündige Antwort in wenigen Worten geben können: „Ein verwöhnter Junge aus reichem Haus.“

Mein Gott, schon das Wort „reich“ wäre ohne Sinn gewesen. Hier war jeder reich und infolgedessen keiner. Wurde irgendwo Hochzeit gehalten, wie hier bei unsern neuen Freunden, so übernahm das junge Paar am Tage nach der Hochzeit das Haus der Brauteltern. Für letztere stand seit längerer Zeit zumeist ein andres Haus bereit, denn da fünf und sechs Generationen zugleich lebten, war mittlerweile doch eines der vielen Häuser freigeworden, die dem Clan in der männlichen oder weiblichen Aszendenz angehörten. Im allgemeinen gab es stets mehr vakante Wohnhäuser als junge Paare, die nicht heiraten konnten, weil die Brauteltern sonst obdachlos sein würden. Auch sorgten die Ortsgemeinden dafür, daß ihre Bevölkerungszahl immer schön im rechten Verhältnis stand zu den notwendig gewordenen und daher durchgeführten Neubauten. Es war dies freilich eine leichte Arithmetik, da die Menschen fast keinen Wandertrieb zeigten und nur wenig Lust, ihren Wohnort zu wechseln. Wer hätte auch fröhlich reisen wollen, wenn es genügte, ein paar farbige Kügelchen in die richtigen Löchlein eines Spielzeugs zu lenken, um von einem Ende der Welt im selben Augenblick zum andern zu geraten, zumal jenes Ende sich von diesem durch nichts unterschied: überall dieselbe Ebene, überall derselbe eisengraue Rasenteppich, überall dieselben gehöftartigen Baumversammlungen, aus deren schwarzledrigem Laub die Wachszieher- oder Zuckerbäckerblüten schimmerten, überlebensgroßen und krankhaften Magnolien gleich. Die Vielfalt des Lebens — ausgenommen selbstverständlich der noch unbekannte Dschungel und sein säuisches Getümmel — lag nicht über, sondern unter der Erde, in jenen tiefen und weiten Aushöhlungen, die Häuser hießen, ohne Häuser in unserm alten Sinne zu sein, und die doch den schönen Ausdruck des archaischen Dichters Ibsen bewährten: „Heimstätten für Menschen.“ Es war darum auch eine der größten Freuden der neuen Familiengründer, diese Heimstätten nach eigenem Geschmack umzugestalten, das Unterste zu oberst zu kehren, nachdem die früheren Eigentümer, zusamt ihrem junggeselligen Stab von Wortführern, Hausweisen und Beständigen Gästen, die Schwelle verlassen hatten.

Habe ich nicht kraft der Osmose und Penetration schon einiges zugelernt? Ich fühlte mich von meinem Vergil nicht mehr so abhängig. Mich durchdrang von Minute zu Minute deutlicher die Überzeugung, daß ich hier dem erfüllten Traume des Kommunismus gegenüberstand, und zwar ganz und gar auf aristokratischer Grundlage. Dabei war es offensichtlich, daß dieser Traum sich nicht jüngst, sondern vermutlich schon seit undenklich vielen Menschenaltern erfüllt hatte. Freilich, meine kommunistischen Freunde von damals, aus den Anfängen der Menschheit, hätten sich’s nur ungern dergestalt träumen lassen. Eine Welt ohne rote Fahnen, ohne marschierende Massen, ohne schwitzende Turner, ohne heisergekrächzte Redner, ohne dickbebrillte Atheisten, Panökonomisten, Materialisten, Positivisten, Pragmatisten, Maschinen- und Wissenschaftsanbeter, eine Welt ohne wedelnde Intellektuelle, die noch dümmer sind als sie sich stellen und, aus der echten Überzeugung ihres Neides heraus, par ordre de Mufti sich auch noch dümmer stellen als sie sind. Hingegen eine Welt der feudalsten Vereinzelung — lebte doch jede Familie gewissermaßen in ihrer Burg — eine Welt des Noli me tangere, eine Welt der strengen Distanz, des Edelmaßes, der Gepflegtheit, eine Welt, die zartfühlend und im Alltagston sogar mit prähistorischen Gespenstern umging, wie ich bestätigen konnte.

Und dennoch war und blieb mein Eindruck von Fiancé Io-Do: Jeunesse d’orée. Der junge Mann hatte denselben feingliedrigen Körper wie alle andern Zeitgenossen, und doch schien er mir auf eine gewisse Weise aufgeblasen zu sein. Sein Mund war ein ganz klein wenig nach abwärts gebogen, und der Übergang von den Wangen zum Hals nicht scharf genug.

„Seigneur ist zu dir gekommen, Sohn“, begrüßte ihn der liebe Herr Io-Solip, sein Vater.

„Ich habe Seigneur schon lange erwartet“, erwiderte Bräutigam Io-Do.

Wenn ich mich trotz meiner etwas anzweifelbaren Existenz mitzähle, so befanden sich in Io-Dos geräumigem Ruhegemach jetzt fünf Männer. Wer der fünfte war, das werde ich sofort verraten. Es herrschte verlegenes Schweigen. Ich sah mich nach irgendeinem Sitzplatz um und wartete darauf, daß Bräutigam Io-Do oder der liebe Herr Io- Solip mich bitten werde, Platz zu nehmen. Ob ich nun in meinen grob materiellen oder nur in meinen Astralleib eingekleidet war, gleichviel, ich fühlte mich sehr müde. Meine Glieder im schäbigen Abendanzug waren wie zerschlagen. Niemand aber bat mich, Platz zu nehmen und die mühsam aufrechte Stellung mit der angenehm zusammengeklappten des Sitzens zu vertauschen. B.H. hatte mich, wie über so vieles andre, auch darüber unbelehrt gelassen, daß man im gegenwärtigen Zeitalter nur in seltenen Fällen saß, d. h. das Vollgewicht des Körpers auf dem bequem gestützten Hintern ruhen ließ. Das Sitzen wirkte auf meine neu akquirierten Zeitgenossen etwa so, wie auf uns (ich verstehe unter „uns“ meine Leser und mich selbst nach meiner Wiederkehr) das Hocken von Südseeinsulanern gewirkt hätte, als eine tierhafte und beinahe unanständige Körperhaltung. Man setzte sich heutzutage nur bei ganz bestimmten Gelegenheiten hin. Die Grundstellungen des gegenwärtigen Zeitalters hießen Stehen und Liegen. Würdig des Menschen war allein die ungebrochene Linie, sei es vertikal, sei es horizontal. Wir, in unserm Uraltertum, waren noch zu nahe dem heiligen Akt der Aufrichtung gewesen, der den Menschen zum lotrechten Bipeden gemacht hatte, um uns nicht dann und wann von der ungebrochenen Linie in der gebrochenen (sitzend) ausruhen zu müssen. Ich begehrte in diesem Augenblicke ganz ungemein nach der gebrochenen Linie. Nichts aber half mir, denn ich konnte mich ja nicht gut auf das Ruhelager des Bräutigams sinken lassen.

Was den fünften Mann in unsrer Mitte anbetrifft, so war er ein Mutarianer. Der Mann war übrigens ein Männchen, klein und zart, das weder einen silbernen noch einen goldenen Kopfaufsatz trug, sondern den glattpolierten Schädel in aufrichtigster Entblößung zeigte. Auch ging er weder häuslich nackt noch in Schleierstoffe gehüllt wie alle andern Leute hier, sondern steckte in etwas Braunem und Rauhem, das wir ohne weiteres als Kutte oder Habit würden bezeichnen können, hätten der geknotete Gürtelstrick und die Kapuze nicht gefehlt. Ich verbeugte mich tief vor dem Männchen, das mir dieser Kutte wegen einer geistlichen Person zumindest ähnlich zu sein schien, und ich hatte in gewissem Sinne recht geraten. Das Männchen starrte mich aus großen, merkwürdig hellen Augen an, in denen mein Bild nicht haftete.

„Es ist ein Mutarianer“, erklärte B.H. laut, als wäre derjenige, von welchem seine Erklärung handelte, nicht mit uns im Raume anwesend:

„Die Mutarianer sind mehr als ein Orden oder eine Brüderschaft, wie du sie zu deiner Zeit früher einmal gekannt haben magst. Sie haben die drei Urgelübde der Keuschheit, der Armut und des Gehorsams vermehrt um die drei biologischen Gelübde der Blindheit, der Taubheit, der Stummheit, das heißt, sie sind im wirklichen Sinne und nicht nur im übertragenen blind, taub und stumm. Dahingegen haben sie das innere Auge und das innere Gehör so vollkommen ausgebildet, daß ihnen gar nichts verborgen bleibt, und daß sie alles Sichtbare und Hörbare, welches ihren Sinnen verschlossen ist, und mehr als nur dies, mittels ihrer inneren Hellsichtigkeit und Hellhörigkeit schärfer und deutlicher erkennen, als es den bloßen Sinnen möglich wäre. Ich will nicht zu viel darüber sagen“, schloß B.H. seine Ausführungen, aber der Bruder Mutarianer Io-Fra, wenn ich nicht irre, sieht uns hier beisammen ohne zu sehn und hört unsre Worte ohne sie zu hören, und er sieht und hört so verdammt viel, daß einem angst und bange werden könnte, nicht wahr, wertester Io-Fra . . . .?"

Io-Fra, der Blinde und Taubstumme, lächelte mit seinem sonderbar glatten Gesicht zum Zeichen, daß er alles gesehn und gehört hatte und viel mehr noch, als was mit gesunden Augen und Ohren zu sehen und zu hören war. Ich konnte mir nicht helfen, die rosige Glätte seines Gesichtes gemahnte mich an frische Haut, die sich nach Verbrennungen ersten oder zweiten Grades wieder bildet. Des Bräutigams Vater, Io-Solip, das freundlichste und gutartigste Wesen, das mir bisher auf meiner Forscherfahrt begegnet war, ließ es sich nicht nehmen, seinerseits des Mutarianers Lob zu singen:

„Sie finden alles, die Brüder Mutarianer, Seigneur“, sagte er.

„Da können Sie das Wollknäuel oder das Riechfläschchen so listig verstecken wie Sie wollen, der Mutarianer geht unbeirrt drauf los und zieht’s heraus hinter der geheimsten Klappe. Sollen wir einen Versuch machen? . . .“

„Ich möchte den hochwürdigen Bruder nicht inkommodieren“, sagte ich erschrocken. „Ich nehme an, daß er andre Aufgaben in diesem Hause erfüllt, als Wollknäule und Riechfläschchen zu suchen.“

„Die Mutarianer“, sagte B.H. jetzt mit der deutlichen Absicht, das etwas peinliche Gespräch über einen anwesenden Fünften zum Abschluß zu bringen, der blind und taub war und gerade deshalb schärfer sah und hörte, „die Mutarianer haben sich’s zur Pflicht gemacht, den Hochzeitern und Freiern während der großen Tage im Hause ihre Dienste und ihre Kenntnisse zu weihen . . . Und das erklärt alles!“

Gewiß, dies erklärte alles. Weniger erklärlich aber war’s, daß Fiancé Io-Do gerade in diesem Augenblick ungeduldig, ja ärgerlich wurde:

„Ich scheine ja hier die letzte Nebenperson zu sein“, rief er dem deutlich erschreckenden Herrn Io-Solip zu. „Man langweilt Seigneur mit lauter banalen Selbstverständlichkeiten und kommt gar nicht dazu, sich mit den wichtigen Dingen zu beschäftigen, die er bei mir findet. Ich bin schließlich der Bräutigam. Seigneur kann sich von einer Sekunde zur andern in Nichts auflösen, und dann hätte ich das Nachsehen, denn wozu habe ich mir ein paar historische Fragen zurechtgelegt? Und außerdem hat Seigneur noch gar nichts bemerkt . . .“

Io-Do hob mit gekränkter Mattigkeit seinen Arm und wies auf die rechte Längswand des Zimmers. Niemals war mir die Fensterlosigkeit dieses Zeitalters so stark aufgefallen wie in dieser Sekunde. In dem ausgesprochen orangefarbenen Lichte dieses Gemachs — es ahmte, wie ich bald erfuhr, die Farbe des Mars-Planeten nach — entpuppte sich die rechte Längswand als die Schaufläche eines Museums. Den Sinn der verrosteten und verwitterten Altertümer freilich, die da dicht nebeneinander hingen, konnte ich nicht sogleich fassen. Es waren zumeist dünne, schmale Röhren und Röhrchen aus verschiedenen mir unbekannten Metallen gegossen, manche davon durchsichtig wie Glas oder durchscheinend wie Speckstein. Reste von elektrischem Draht, mit dem das untere Ende einiger dieser blasrohrartigen Dinger umwickelt war, deutete auf ein Zeitalter der Elektrizität hin, das dem meinigen nahegelegen sein mußte.

„Es sind einige sehr kostbare Ausgrabungen darunter, noch aus den Perioden vor der Sonnentransparenz“, verkündete Herr Io-Solip nicht ohne Vaterstolz. Bei diesen Worten erst entdeckte ich unter all diesen langweiligen Röhren, deren Sinn ich nicht kannte, einen primitiven Bogen mit Pfeilköcher und das Wrack eines hochmodernen Submaschinengewehrs aus dem Zweiten Weltkrieg.

„Meine Herren“, rief ich aus, „das sind ja Waffen! Zwei davon erkenne ich genau, Pfeil und Bogen und ein Maschinengewehr letzter Erfindung, das heißt natürlich, letzter Erfindung von einem Standpunkte gesehn, den ich vor tausend Jahrhunderten etwa verlassen habe . . . Es ist eine praktische automatische Waffe ohne Stativ.“

„Seigneur hat mit dem ersten Blick die Hauptstücke meiner Sammlung erkannt, Bogen und Pulverflinte“, bemerkte Bräutigam Io-Do mit einigem Respekt.

„Dies ist durchaus kein Verdienst, Monsieur“, lehnte ich das Lob ab, „denn dies sind die einzigen Waffen hier, die ich aus eigener Anschauung kenne . . . Die andern, sollten sie überhaupt Waffen sein, sind mir unverständlich . . .“

„Die andern Stücke, die Sie hier sehn, Seigneur“, versetzte eifrig der Fiancé, „findet man weit häufiger, wenn man den Grund zu neuen Häusern aushebt. Auch sie stammen zwar noch aus der Urzeit, jedoch schon aus späteren Epochen als Pfeil und Bogen oder Pulverflinte. Die Gelehrten nennen sie ‚Fernsubstanzzertrümmerer‘ oder auch ,Fernschattenzertrümmerer‘. Wenn Sie genauer hinblicken, werden Sie selbst ohne Schwierigkeit die plumpen Fernsubstanzzertrümmerer der primitiven Kriege von den fortgeschritteneren und schlankeren des Letzten Krieges unterscheiden können . . .“

Obwohl ich die Blasrohre nicht genau voneinander unterschied, trat ich doch näher, aus Höflichkeit Interesse heuchelnd. Der Bräutigam schien wahrhaftig ein großer Bellologe, ein Kriegsgelehrter, zu sein. Sein hübsches Gesicht glühte unter den aggressiven Wallungen der fixen Idee. Zweifellos besaß die junge Generation nicht mehr die Leidenschaftslosigkeit der älteren. Brautvater Io-Fagòr hatte mit seiner Klage recht gehabt.

„Die längsten und dünnsten der Fernzertrümmerer“, fuhr Bräutigam Io-Do mit wachsendem Eifer fort, „wurden gegen Städte gerichtet, die hoch über der Erdoberfläche gebaut waren. Haben Sie etwa solche Städte noch gekannt, Seigneur?“

„Ich habe keine andern gekannt“, versetzte ich wahrheitsgemäß.

„Die Hochbauten dieser Städte hatten tausend bis zweitausend Stockwerke“, schwärmte der Fiancé. „Stimmt das, Seigneur?“

„Mein Zeitalter hat es nur bis zu ungefähr hundert Stockwerken gebracht“, erklärte ich bescheiden. „Das Empire State Building war das höchste Gebäude, das ich kannte. Doch auch sonst war die Skyline von New York recht repräsentabel, besonders wenn man von Europa kam mit seinen herrlichen, jedoch dörflich niedrigen Städten wie Paris und Wien . . . Es ist übrigens nicht ganz unwahrscheinlich, Monsieur, daß es im Laufe der Menschheitsgeschichte Baulichkeiten gegeben haben mag, die vielleicht bis in die Stratosphäre reichten. Ich weiß es nicht . . .“

„Und so ist es denn klar und erwiesen“, fiel der kriegsvernarrte Fiancé ein, der mit der Unbesonnenheit der Jugend rasche Schlüsse zog, „daß die Menschheit es allein den Fernsubstanzzertrümmerern oder Fernschattenzertrümmerern zu verdanken hat, daß sie nicht mehr hoch über der Erde mitten in den Schrecken der Atmosphäre leben muß, erbarmungslos den Sonnen- und Sternstrahlen ausgesetzt, sondern im heimeligen Schoße der Lithosphäre. Die Fernsubstanzzertrümmerer sind nämlich mit der von Ihnen erwähnten Skyline prächtig schnell fertig geworden, von einer Sekunde zur andern. Und da gibt es noch Leute, die den fortschrittlichen Wert der ehemaligen Kriege leugnen, wie zum Beispiel der Fremdenführer unsres Zeitalters und mein eigener Vater hier . . .“

Der liebe Herr Io-Solip sah ganz bestürzt drein:

„Ich erlaube mir gar keine eigene Meinung zu haben, Sohn“, sagte er, „ich bin kein Historiker und kein Sammler wie du. Was weiß ich von jenen blutigen Märchen, die man einst Krieg genannt hat? Ich denke mir nur, daß wir, das heutige Erdvolk, nicht zahlreich genug sind, für diese Fernsubstanzzertrümmerer der Urzeit hier an deiner Wand . . .“

Bräutigam Io-Do wandte mir lebhaft sein junges Antlitz zu. Meine Fähigkeit, im Rahmen der allgemeinen Jugend und Schönheit, jünger und älter auszunehmen, war inzwischen gewachsen.

„Darf ich sicher sein, Seigneur“, fragte Io-Do, „daß Sie am Trojanischen Kriege teilgenommen haben?“

„Ich hatte diese Ehre nicht persönlich“, gab ich zurück, „wenngleich wir uns in unsern Schulen bis zum Überdruß mit diesem Krieg beschäftigen mußten, von dem die Wissenschaft nicht einmal feststellen konnte, ob er wirklich stattgefunden hat oder nur die Ausgeburt einer Dichterphantasie gewesen ist . . .“

„Aber Sie haben gewiß an andern Kriegen teilgenommen“, der Jüngling ließ nicht locker, „wo, ähnlich wie im Trojanischen, ein Teil der Krieger mit Tieren zusammengeschmolzen war, die man Rosse nannte . . .?“

„Ach ja, Kavallerie gab’s noch zu meiner Zeit, wenn sie auch immer mehr und mehr motorisiert wurde . . .“

„Und worum ging jener Trojanische Krieg?“

„Um das würdigste Kampfobjekt, das sich denken läßt: die schönste Frau der Welt . . .“

„Und an welchem Kriege haben Sie teilgenommen, Seigneur?“

„Am sogenannten Ersten Weltkriege, von 1914 bis 1918, Monsieur le Fiancé.“

„War das viel später, Seigneur?“

„Ja und nein! Von jetzt und hier gesehn, nein.“

„Und was war das Kampfobjekt dieses Ersten Weltkriegs? Worum ging es, Seigneur?“

Während meiner Antwort fühlte ich mit Unbehagen, daß ich zumindest dem Zweiten Weltkrieg nicht ganz gerecht wurde. Wie weit aber lag das alles zurück, und ich war zu träge, vor diesen so fremden Zuhörern nur um des Gewissens willen feinere Unterscheidungen zu treffen:

„Ja, worum ging es in diesen zwei Weltkriegen meiner Lebenszeit, bester Io-Do? Wenn sich das so leicht sagen ließe. Es ging um ein trübes Spülicht, um ein schmutziges Gebräu von Arbeitskrisen und Ersatzreligionen. Je unechter nämlich eine Religion ist, um so fanatischer beißen ihre Anhänger um sich. Meine ehemaligen Zeitgenossen waren fanatisch darauf versessen, keine Seelen und keine Persönlichkeiten zu besitzen, sondern Ich-lose Atome materieller Großkomplexe zu sein. Die einen hingen dem Großkomplex ,Nation‘ an, indem sie die Tatsache der Zuständigkeit, daß sie nämlich in irgendeinem Lande und unter irgendeinem Volke geboren waren, zum ewigen Wert erhoben. Die andern hingen dem Großkomplex ,Klasse’ an, indem sie die Tatsache, daß sie arm und niedrig geboren waren und dies nicht länger sein wollten, zum ewigen Wert erhoben. Beide Großkomplexe waren jedoch für ihre Anhänger ziemlich leicht austauschbar, da beinahe jedermann sowohl arm war als auch einer Nation angehörte. Und so wußten denn die meisten von den einen wie von den andern nicht, warum sie sich gegenseitig umbringen mußten. Sie taten es aus Furcht. Aber sie fürchteten sich weniger voreinander, als sie sich vor ihren eigenen Führern fürchteten, die wiederum aus Furcht vor ihnen, den Angeführten, sie zwangen, sich gegenseitig zu vernichten . . .“

„Ihre Definition des Krieges gefällt mir gar nicht, Seigneur“, sagte der Bräutigam verbissen, und er fügte hinzu, sein Wissen leuchten lassend: „Wir haben gelernt, daß Kriege zwischen gerüsteten Gegnern nur dann zum ritterlichen Austrag kamen, wenn mangels eines universalen Gerichtshofs kein menschliches Rechtsmittel mehr in Anspruch genommen werden konnte. Die Kriege der Urzeit waren demnach Gottesgerichte, wie unsre Gelehrten zweifelsfrei festgestellt haben. Bellum internecinum, das ist Ausrottungskrieg, war ebenso als unfair verboten wie bellum punitivum, das ist Bestrafungskrieg. Auch war es nicht erlaubt, percursores, als da sind Meuchelmörder, venevici, als da sind Giftmischer, dem Gegner auf den Hals zu hetzen, so wie auch perduellio, das ist Anstiftung zum Verrat, verabscheut wurde . . .“

Nach diesem kleinen Vortrag sah mich Fiancé Io-Do im Goldhelm triumphierend an. Noch konnte ich nicht ahnen, wie wenig diese barock-adlige Auffassung des Krieges mit seinen wirklichen Vorstellungen zusammenfiel. Ich applaudierte geräuschlos, um dem jungen Mann zu verstehen zu geben, wie sehr er mir imponiert hatte:

„Ihr Wissen um die ritterlichen Kriegsregeln ist erstaunlich, Monsieur“, sagte ich. „Sie haben mich tief beschämt, denn ich hatte all diese Ausdrücke nie gekannt oder längst vergessen . . . Und doch, grau ist alle Theorie! Blicken Sie nur auf die Fernsubstanzzertrümmerer an Ihrer eigenen Wand. Mit denen hat man ausschließlich bella internecina, das sind Ausrottungskriege geführt . . .“

Der Bräutigam machte eine pikierte Bemerkung, wurde aber von seinem Vater unterbrochen:

„Du solltest Seigneur nicht widersprechen, Sohn“, sagte Herr Io-Solip, „er hat’s erlebt. Er ist dabeigewesen. Du aber hast dein Wissen nur aus dem Sephirodrom, von Vorträgen und aus den Sammlerkatalogen . . .“

„Gewiß, Seigneur ist dabeigewesen“, schmollte Bräutigam Io-Do, „und so möchte ich denn ergebenst gebeten haben, daß er uns als Augenzeuge und Mitkämpfer etwas zum besten gibt von dem sogenannten Ersten Weltkrieg. Er hieß doch so?“

Ich erschrak aufs heftigste, denn ich fand mich in dieselbe Lage versetzt wie vorhin, als mich der Wortführer nach Beendigung des Festmahls aufgefordert hatte, eine „nette Causerie“ über den Unterschied der Zeit ehmals und jetzt zu halten. Ich sah hilfesuchend meinen Freund B.H. an, der in seiner verwitterten Leutnantsuniform aus dem Ersten Weltkriege neben mir stand. Dieser erbleichte. Ich aber hielt mich nicht zurück zu sagen:

„Haben wir nicht einen Mann unter uns, der im Ersten Weltkrieg zum Offizier aufgestiegen ist? Könnte er nicht unserm Monsieur Fiancé, der ganz seltsamerweise verschollene Kriegsgeschichte zum Vergnügen treibt, viel anschaulicher Kunde und Schilderung geben als ich, der ich ein sehr schlechter Soldat war und es mit Ach und Krach nur zum Sergeanten gebracht habe . . .“

„Halt, F.W.“, rief B.H. und hielt mir beschwörend die Hand vor den Mund, „ich hätte nicht angenommen, daß du dich zu mir so unfreundschaftlich, ja so unfair betragen würdest. Gut, es ist wahr, ich bin ein Wiedergeborener. Aber ich bin viel mehr als das, ich bin ein Zeitgenosse dieser Herrschaften, und zwar voll und ganz. Ich lehne ab, ich refüsiere, ja ich protestiere leidenschaftlich dagegen, daß man meine durchaus zeitgenössische Person mit irgendwelchen schimpansischen Affären und stinkenden Barbareien der Vorzeit in Verbindung bringt Und du dürftest das am wenigsten tun, F.W. . . .“

„Aber mein lieber alter Freund“, fiel ich schuldbewußt und kleinlaut ein, „warum gehst du dann in dieser feldgrauen Uniform herum, anstatt dich deinen verehrten Zeitgenossen auch gewandlich anzugleichen?“

B.H. zog die verblichene Militärkappe mit nervöser Hand tief in die Stirn, damit man so wenig wie möglich von seinem schwarzen Haar wahrnehme, das auf keine Weise wegzupraktizieren war.

„Ich trage diese unangenehme Verkleidung nur um deinetwillen“, sagte er leise, „damit du dich etwas heimischer fühlst und nicht etwa an Fremdheit erkrankst.“

Also doch, dachte ich, der Gute! Er wollte mich bei unserer Wiederbegegnung nicht in Schrecken versetzen. Vielleicht aber hätte ich ihn auch gar nicht erkannt, wenn er in der verwischten Nacktheit oder in der gewählten Schleierraffung der Zeitgenossen vor mir aufgetaucht wäre. Jedenfalls, er hat mich sofort erkannt, sogar als ich noch unsichtbar war. Das beweist, daß er der bessere Freund ist als ich. — Ich begriff plötzlich, daß ich mich in der Tat unfair benommen hatte, ihn mit unserer gemeinsamen Vorzeit allzusehr zu belasten. B.H.s, des Wiedergeborenen, Sinnen und Trachten mußte ja dahingehn, der gegenwärtigen Epoche und menschlichen Gesellschaft ungeteilt anzugehören. Es war dies freilich ein Sinnen und Trachten, das niemals voll sein Ziel erreichen konnte. Kein Wiedergeborener konnte ja einer bestimmten Gegenwart ganz und gar angehören. Ich verstand plötzlich das Problem noch tiefer. B.H. war der geistige Mensch in Person. Was aber ist der geistige Mensch anders als einer, der durch mehrere Wiedergeburten hindurchgegangen ist? Der geistige Mensch kann daher in keinem Zeitalter wirklich zu Hause sein, und will er sich nur halbwegs einrichten, ist er gezwungen, Zugehörigkeit zur jeweiligen Menschheit zu simulieren. Ich versuchte schnell, meinen Fehler gutzumachen und die allgemeine Aufmerksamkeit von B.H. abzulenken. Darum schloß ich die Augen und seufzte bereitwillig:

„Wie soll ich Ihnen in wenigen Worten den Eindruck dessen vermitteln, was wir voreinst als Weltkrieg Eins oder Zwei erlebt haben? Soll ich Ihnen das Gefühl eines relativ freien jungen Mannes darstellen, der ohne viel Federlesen mit hunderten andern in eine Baracke gepfercht wird, um gedrillt, das heißt einem Verrohungs- und Verhärtungsprozeß unterworfen zu werden, der ihn tauglich zum Soldaten macht? Wie könnte ich so fortgeschrittenen Menschen wie Ihnen, die Sie sogar Ihren Körper von fester Nahrung und frischer Luft fernhalten, ja, wie könnte ich Ihnen den Zustand von Leuten faßlich machen, die monatelang in wasser- und dreckgefüllten Schützengräben, Unterständen, Fuchslöchern wachen und schlafen, wobei sie tagaus, tagein und in jeder Nacht von Sturzkampffliegern, Mörsern, Bombern, schwerer Artillerie, Feldartillerie, Tankartillerie, Schiffsgeschützen, Maschinengewehren jeder Art, und wovon nicht sonst am Leben gehindert werden und Gott um eine schwere Verwundung betteln, damit diese sie von der schrecklichen Ausgesetztheit erlöse? Und schlimmer als das, Sie, meine Herren, die Sie bereits so kultiviert sind, daß Sie eine leichte körperliche Berührung, wie es etwa der treuherzige Handschlag der Urzeit war, in abscheugeschüttelte Verwirrung versetzt, wie sollten und können Sie sich mit nur halbwegs zulänglicher Einbildungskraft vorstellen, was es heißt, wenn solch ein durch Rum, Benzedrin oder Parteifanatismus aufgeputschter Junge, das Gewehr in der Hand, aus seiner Deckung kriecht und über klumpige Schollen, Granattrichter, Fußminen, Drahthindernisse und schwarzaufgeplatzte, zum Himmel stinkende Tote dem Feinde entgegenstolpert, von der atemlos tollen Gier erfüllt, ihm sein Bajonett in den Gedärmen umzudrehn, selbst dann, wenn dieser Feind die beiden Arme schreiend emporgeworfen hält, um sich zu ergeben? . . .“

An diesem Punkte meines Versuchs einer anekdotischen Kriegserzählung durch obige Allgemeinheiten auszuweichen, wurde ich durch die helle Stimme Bräutigams Io-Do unterbrochen. Er lag kerzengerade auf seiner Couch, hatte sich dicht in seinen schwarzen Schleier gewickelt, und sein Gesicht unterm Goldhelm zeigte eine Art von versonnen aufhorchender Ekstase, die mir unbegreiflich war.

„Und wie ist das, Seigneur“, fragte er langsam, „wenn der eigene blanke Stahl in den Leib des Gegners dringt, und wenn der Blutquell hervorspritzt in rotem Bogen?“

Ich war starr über diese Frage und den wollüstig poetischen Ton, mit welchem sie vorgebracht wurde. Ehe ich mich aber noch sammeln konnte, hörte ich, wie jemand leise aufklagte. Dem lieben Herrn Io-Solip nämlich war bei meiner Darstellung schon übel geworden, und die Frage seines Sohnes hatte ihm den Rest gegeben. Er sah ganz blaß aus, griff sich ans Herz und würgte ein wenig. Das Kuttenmännchen Io-Fra, der Mutarianer, der, ohne zu hören und zu sehen, alles hörte und sah, trat auf den Bräutigamsvater zu und hauchte ihn an, worauf sich dieser schnell von seinem Blutgrausen erholte.

„Wir haben sehr nervöse Eltern, Seigneur“, tadelte Bräutigam Io-Do die gesetzte Generation. Herr Io-Solip aber entschuldigte sich bei mir tief beschämt:

„Es soll nicht wieder vorkommen, Seigneur . . .“

Io-Do hatte sich plötzlich erhoben und rief:

„Und jetzt werden wir Seigneur zum Denkmal des Letzten Krieges führen.“

Zu meiner Schande als Forscher und Reiseschriftsteller muß ich gestehen, daß mich in diesem Augenblick eine gewiß nicht ganz unbegründete Müdigkeit beinahe überwältigte, und ich mich am liebsten trotz Frack und Ordensstern auf die Erde hätte fallen lassen. Die Eröffnung, in diesem Augenblick zu einer Sehenswürdigkeit geführt zu werden, und sei sie auch so hochwichtig wie das „Denkmal des Letzten Krieges“, erfüllte mich geradezu mit Entsetzen. Wenn ich trotzdem schwieg und mich nicht auf meine Erschöpfung berief, so geschah dies keineswegs aus Forschungsdrang oder Reportermut, sondern aus blanker Feigheit und vielleicht sogar aus einer Art von Stolz. Durfte die Materialisation eines Menschenwesens, das vor rund hundert Jahrtausenden wirklich gelebt hatte, sich so schmählichweichlich gehn lassen und um Schonung ihres Körpers bitten, der ja trotz seiner Vollständigkeit alles in allem nur eine Erscheinung war? Eine Erscheinung hatte zu zerfließen oder standzuhalten. Ein Drittes gab es nicht. Da ich nicht gelernt hatte, wie man zerfließt, so beschloß ich standzuhalten und mir keine leibliche Schwäche anmerken zu lassen. Ich konnte dennoch während der nächsten Minuten nicht verhindern, daß alle Worte und Bewegungen fern und schallend an mein Ohr schlugen, als läge ich auf dem Grund eines Stromes.

Bräutigam Io-Do schien von dem Gedanken, seinen vorsintflutlichen Gast zum Denkmal des Letzten Krieges führen zu dürfen, recht sehr erregt zu sein. Er befahl dem blinden und taubstummen Kuttenmännlein, das ihm in diesen Tagen diente, mit ziemlich barscher Stimme: „Io-Fra! Irgendwo muß sich mein zweites Mentelobol versteckt haben. Suchen, bitte, frisch!“

Der Mutarianer, vor dessen innerm Licht und Schall nichts verborgen bleiben konnte, glitt geräuschlos aus dem Raum. Mentelobol, das klang wie eine Zahnpasta des zwanzigsten Jahrhunderts. Ich wurde aber sogleich belehrt, daß es sich um jenes mentale Reisegeduldspiel handelte, das ich schon kennengelernt hatte. In der nächsten Minute drückte mir Fiancé Io-Do bereits das Mentelobol in die Hand, das des Mutarianers inneres Licht flugs in seinem tückischen Verstecke aufgestöbert hatte. Ich war ziemlich verlegen. Würde es mir gelingen, die Kügelchen des Geduldspiels in die richtigen Löchlein zu lenken? Jetzt entspann sich ein kleiner Streit zwischen dem Bräutigam und seinem Vater:

„Wie oft soll ich dir sagen, Sohn“, erlaubte Papa Io-Solip sich einen leichten Tadel, „du mögest nicht im Zimmer reisen, nicht in geschlossenen Räumen . . .“

„Ich reise wie ich will, Papa. Ich bin ein erwachsener Mensch, und übermorgen werde ich verheiratet sein . . .“

„Mit Gottes Hilfe, so ist es, Sohn. Aber wer in seinem Zimmer reist, der schädigt das Haus. Und übermorgen ist es schon dein Haus. Du schädigst also dein eigenes Haus, das dir die Gesellschaft zuspricht; und in welchem du die nächsten hundertfünfzig Jahre leben sollst . . .“

Der Hinweis auf den Besitz schien dem Sohne doch ein wenig einzuleuchten.

„Fahren wir also hinauf“, sagte er mit rauhem Unwillen.

Das Zimmer schwebte empor. Jeder Raum des Hauses konnte derart gesondert emporschweben. Wie, das weiß ich nicht. Das müssen ausgebildete Ingenieure aufklären. Ehe wir aber aus dem Zimmer auf die Plattform des Hauses hinaustraten, die dem Beobachtungsturm eines Kriegsschiffes glich, bemerkte ich unter der Waffensammlung an der rechten Längswand noch ein Stück, das mir bekannt, aber bisher entgangen war. Es war ein derber Trommelrevolver, ein richtiger wildwestlicher Schießprügel aus dem vorigen Jahrhundert, womit ich selbstverständlich das neunzehnte meine.

Als ich mich verzweifelnd nach B.H. umgesehn und ihn flüsternd gebeten hatte, er möge mir doch schnell einsagen, auf welchen Wunsch ich meine Gedanken scharf einstellen sollte, während ich das letzte hellgrüne Kügelchen in das letzte Löchlein „Scharf eingestellter Wunsch“ ungeschickt und nervös zu praktizieren suchte, zwinkerte er mich beruhigend an und flüsterte zurück:

„Denk an eine flache, ungeheure Waagschale.“

Es war auch wirklich eine flache, ungeheure Waagschale, die sich von einem Nu zum andern — dieser Ausdruck ist ungenau, da die örtliche Veränderung beim Reisen ohne den geringsten zeitlichen Übergang erfolgte —, die sich mithin im selben Augenblick unter unsre Füße geschoben hatte. Es war der größte Platz, der mir je vor Augen gekommen, und es war unbezweifelbar ein Stadtplatz, bis an den freien kreisrunden Horizont reichend, welcher waagschalenartig aufgeworfen, ringsum mit schattenhaft kulissenähnlichen Andeutungen von Hocharchitektur besteckt war, als da sind Türme, Türmchen, Giebelfronten, Zinnen, Maßwerk, all das recht niedrig, spielerisch, unecht, nur wie um der Silhouette willen da und unendlich ferngerückt. Der Sonnenball, purpurner als zuvor, da ich ihn wiederbegrüßt hatte, neigte sich im Westen zum Untergang. Das Firmament war hellgrün, genau von der Farbe der mentalen Kügelchen des Reisegeduldspiels. Tiefe Lapislazulischatten zogen in rhythmischen Wallungen darunter hin. Der Sonnenuntergang betonte noch den zweidimensionalen Charakter der Spielarchitektur entlang des Horizonts, die ja nur dazu da war, die offiziellen Baulichkeiten tief unter der Erde durch oberirdisch unterscheidende Ornamente und Symbole voneinander abzusondern.

„Wo sind wir?“ fragte ich B.H., während es mir war, als fröre nicht meine Haut, sondern mein Herz.

„Wir sind auf dem Geodrom“, sagte B.H., „oder wenn du willst, auf der zentralen Plaza.“

„O ja, natürlich, Geodrom“, erwiderte ich, als würde ich diese Bezeichnung längst schon kennen. Es war mir bereits nicht mehr angenehm, den blutigen Neuling immer wieder hervorkehren zu müssen.

Ich blickte auf meine alten, brüchigen Lackschuhe hinab, die nicht schöner geworden waren, seitdem man sie mir das letztemal über die Füße gestülpt hatte. Das neuangeschaffte Paar, das ich irgendwo noch besitzen mußte, hatte man ebenso vernünftiger- wie schnöderweise in die „Erbmasse“ getan, anstatt es mir mitzugeben. Ehe ich mich aber noch über diese Sparsamkeit ärgern konnte, gewahrte ich zu meiner Überraschung, daß ich an den Sohlen ein Paar ganz dünne und schmale Schlittschuhe trug. Ich konnte mich nicht erinnern, ob und wann man sie mir angeschnallt hatte. Ohne diese Schlittschuhe aber, wie sie hier alle Welt benützte, wäre eine Fortbewegung auf dem ungeheuren Geodrom — der zentralen Plaza Californias, des Kontinents oder vielleicht des gesamten Globus, wie sollt’ ich’s wissen ― äußerst mühsam, langwierig, wenn nicht gar unmöglich gewesen. Der Boden dieser zentralen Plaza nämlich bestand aus einer eis-ähnlich spiegelglatten Masse, die das ganze gewaltige Rund der Waagschale bedeckte, deren Durchmesser meiner Schätzung nach zwanzig Meilen oder mehr betrug. Eine Fußwanderung querüber oder an der Schattenarchitektur des Kreisumfangs entlang hätte wahrscheinlich Tage in Anspruch genommen und vor allem körperliche Kräfte, welche die zartgestaltige, zartgesichtige und leicht erschöpfbare Menschheit der Gegenwart gar nicht besaß. Andererseits war aus höchst plausiblen Gründen die Verwendung des Geduldspiels daselbst ausgeschlossen. Das Geodrom nämlich war ein Ziel. Man konnte mittels des Mentelobols Ziele nur als Ganzes auf sich zu bewegen. Innerhalb eines Zieles jedoch — mochte es auch so groß sein wie eben hier die zentrale Plaza — funktionierte das Reisegeduldspiel nicht. Um dem menschlichen Körper nun eine schnelle Fortbewegung innerhalb eines einzigen großen Ziels zu ermöglichen, ohne vorweltliche Räder, Reibungen, Bremsen wiedererwecken zu müssen, hatte man zum metallenen Hermesschuh gegriffen, der nicht nur eine rasche Überwindung des Raumes, sondern auch eine lusterfüllte Eigenbewegung des Leibes gewährleistete. Das glasglatte Parkett wurde durch die Berührung der Schiene, die sich leicht einschnitt, elastisch und förderte selbst das Dahinfliegen (viel mehr noch als der eisengraue Rasen den Schritt förderte), besonders dann, wenn es abwärts ging, dem Tiefpunkt der Waagschale entgegen, wie jetzt. Meine Müdigkeit von vorhin war ganz und gar verschwunden. Ich genoß mit unsagbarem Entzücken das umflatterte Hui des Schlittschuhfluges. Der goldbehelmte Bräutigam sauste an der Spitze unsrer Gruppe, zu der, neugierig scheint’s, wie immer, die Junggesellen des Hauses gestoßen waren, der Wortführer, der Hausweise, der Beständige Gast. Ich bemerkte, daß ihre Schlittschuhe auf ziemlich hohen Kothurnen aufgeschnallt waren, wie man sie außerhalb des Hauses zu tragen pflegte. Schwarzgewandet war allein der Bräutigam. Die andern hatten ihre verwischte Nacktheit in Schleier von verschiedenen, aber immer fahlen Farben gehüllt. B.H. in Feldgrau und ich im Frack bildeten die Nachhut. Wie ich aber so dahinschoß, konnte ich es nicht verhindern, daß sich meiner Brust ein kindischer Ruf der Lebensfreude entrang, ein Laut ganz ungehörig für eine Materialisation meines Alters, die man nur durch Zufall aus dem Alphabet gestochen und hierher zitiert hatte. Und doch, es war eine ganz verteufelte Freude, diese verwandelte und verbesserte Erdenwelt nach so langer Absenz wieder einmal flüchtig durchfliegen zu dürfen. B.H., der Schuldige, schien das einzusehn, denn er lächelte nachsichtig zu meinem Jubelruf.

Es dürfte wohl meinen schwachen Augen zuzuschreiben sein, daß ich mich plötzlich und unversehens in einer sehr großen Menschenmenge befand, die inmitten der zentralen Plaza um einen großen, abgegitterten Kreis hin und wider wogte. Mein Herz begann noch schneller zu klopfen als vor einigen Stunden, da ich in einem dunklen Korridor auf das Zeichen gewartet hatte, das mich in ein traulich erleuchtetes Zimmer rief, um meinen neuen Freunden zu erscheinen. An das Haus der Hochzeiter hatte ich mich schon gewöhnt; die Herren und Damen dieses Hauses flößten mir keine größere Angst und Schüchternheit ein als fremde Leute sonst es zu tun pflegten, denen ich einen Besuch abstatten mußte. Jetzt hatte ich sogar die größte Furcht, ganz zu schweigen natürlich von B.H., den lieben Herrn Io-Solip, den Wortführer, den Hausweisen, den Beständigen Gast und sogar den Fiancé aus den Augen zu verlieren, das Fähnlein derer mithin, die zum Hause gehörten, wo ich relativ bereits daheim war. Denn es muß gesagt werden, ich zitterte unter meinem Abendanzug am ganzen Körper vor dieser Menge, vor diesen vielhundert Unbekannten, als hätte mein wiedererstandenes Physikum kaum die Kraft, die dichtgedrängte Nähe und Gegenwart derjenigen zu ertragen, welche von ihm in Wirklichkeit viele, viele Jahrtausende in der Zeit und viele, viele Lichtjahre im Raum entfernt waren. Ich bitte den geneigten Leser, das voll auszudenken, damit er mich meines Zitterns und Zähneklapperns wegen nicht verachte, das mich gerade angesichts dieser Menschenmenge erfaßte, das heißt angesichts Tausender von unsäglich zukünftigen Existenzen. Das Unbehagen meiner Sinne — ich möchte es ein „historisches Unbehagen“ nennen — war so groß, daß ich die Menschen einzelweise nicht unterschied und mich wieder einmal der Aufgabe eines Berichterstatters unwürdig erwies, indem ich zwar mein eigenes Zittern und Zähneklappern, nicht aber das objektive Bild der Menge darstellen kann, wenn ich nicht zur bloßen Phantasie Zuflucht nehmen will. Diese Menschenmenge war ein rhythmisches Sein, ein Rauschen, ein Tanzen, ein Drehn und Wirbeln, ein durcheinanderbewegtes Gewebe, bestickt mit zwitschernd wohllautenden Stimmen, silbernen, mattgoldenen, hellblauen, hellgrünen . . . Wie aber wuchs erst mein Unbehagen, als jäh die Menge vor mir zurückwich, und ich, verlegen auf meinen Schlittschuhen den Ort tretend, mitten in einer ehrfürchtig ausgesparten Leere mich einsam wesen fand. Natürlich der Wortführer war’s, der den Mund nicht hatte halten können, was ja schließlich auch nicht seines Amtes war. Zuerst hatten die Umstehenden von ihm vernommen, welch eine Erscheinung da in ihre hochgestimmte und hochentwickelte Welt hineingeschneit kam. Die Kunde verbreitete sich wie ein Lauffeuer, um eine Metapher zu gebrauchen, die wahrhaftig aus den Anfängen der Menschheit stammt. Mir aber brach abermals der Schweiß aus den Poren, denn alles starrte mich mit neugiergroßen Augen an. Mir blieb nichts andres übrig, als mich an B.H.s Arm ängstlich anzuhalten.

„Es ist ein freundliches Volk“, beruhigte mich der Wiedergeborene, „sie werden dich nicht belästigen. Kümmere dich weiter nicht um sie. Lächle ihnen nur fleißig zu, wobei du am besten die Zähne entblößt.“

Er stützte mich brüderlich, und wir glitten gemeinsam auf den abgegitterten Zirkel zu, der jetzt plötzlich freigegeben war. Bräutigam Io-Do, Herr Io-Solip und die drei Junggesellen schlossen sich uns an; der weite Chor des Volkes folgte in ehrfürchtig neugierigem Abstand. Ich wendete mich um, B.H.s Rat befolgend, und lächelte der schattenhaften Menschenmauer mit einem forcierten Schauspielerlächeln zu, das mir selbst schlecht schmeckte, wobei ich kurz die Zähne entblößte. Wie schämte ich mich dieses Lächelns. Es schien aber seine Wirkung nicht verfehlt zu haben, denn die dunkle Menschenmauer antwortete mit einem leisen Sympathiegemurmel. Ich hatte schon lange begriffen, daß man sich in diesem Zeitalter immer und überall angenehm machen mußte, um weiterzukommen. Dieses Kalfaktern verpflichtete weiter zu nichts. Es war grund- und zwecklose Liebenswürdigkeit, gute Manier, freundliche Kultur, es war die unbewußte Abbitte für viele dunkle Weltalter, in denen der Mensch die Zähne nur entblößt hatte, um sie dem Feinde entgegenzufletschen, und auch für andre, spätere, doch nicht minder dunkle Weltalter, wo der photogene Mensch die Zähne nur entblößt hatte, um sich selbst als Ware anzubieten.

Ich hielt mich nun mit beiden Händen an dem schmiedeeisernen Gitter fest und sah hinab in eine sehr große kreisrunde Aushöhlung, die den Eindruck eines alten, längst aufgelassenen Bergwerks erweckte, von dem die oberste Tagbauschicht intakt geblieben war, während die Stollen in der Tiefe zusammengestürzt oder ersoffen sein mußten. Der Eindruck des Bergwerkes wurde auch noch dadurch betont, daß die Wände der durchaus nicht sehr tiefen Aushöhlung mit schimmernden Mineraladern und glimmernden Kristalldrusen durchwachsen und besteckt zu sein schienen. Trotz meiner schwachen Augen glaubte ich, Amethyste, Topase und Bergkristalle unterscheiden zu können. Heute aber, nach meiner Rückkehr, dünkt es mich, als hätte ich nicht nur Halbedelsteine, sondern auch fabelartige Rubine und Saphire aus dem Dunkel leuchten sehen. Das hätte aber sehr wenig bedeutet, denn die Menschen jener Gegenwart verehrten weder das Gold, das seinen Wert als Gradmesser verloren hatte, noch auch würden sie den geringsten Unterschied gemacht haben zwischen schönfarbigem Glasfluß und echtem Edelstein. In dieser Hinsicht waren sie wieder so primitiv und unschuldig geworden wie die nackten Eingeborenen einer Südseeinsel, die den billigsten Glastand jedem echten Schmuck vorziehen.

„Dieses ist das Denkmal des Letzten Krieges“, sagte jemand in meiner Umgebung, und ich bemühte mich, in der weiten Aushöhlung inner- und unterhalb des Gitters irgend etwas zu erblicken, das einem Reiterstandbild oder einer heroisch muskelgeschwellten Gestaltengruppe à la Rodin ähnlich sah. Nichts dergleichen konnte ich entdecken. Endlich blieb mein leider unbewaffnetes Auge an einem ziemlich kugelrunden und rostigen Gerippe hängen, das im Durchmesser ungefähr sechs Fuß zählen mochte. Den Sinn dieser aus verbogenen Metallbändern bestehenden Kugel konnte ich anfangs nicht begreifen, bis mich plötzlich die Eingebung durchschoß, es müsse ein altertümlicher Himmelsglobus sein, lange zwar nach meinem Hinschied gegossen und dennoch aus grauer Vorzeit stammend. Als sich meine Augen mehr und mehr an die rötliche Dämmerung der umgitterten Aushöhlung gewöhnt hatten, welche, wie mich’s jetzt dünkte, eher als einem Bergwerk dem Becken eines großen Teiches glich, aus dem man das Wasser abgelassen hatte, gewahrte ich, daß der zerlämperte und verbogene Himmelsglobus aus einem mächtigen Unterbau von Totenschädeln hervorwuchs, ähnlich, doch nur viel größer, wie man sie in den steirischen oder Kärntner Alpentälern in den sogenannten Karnern auftürmt. Mein psychologisches Verständnis für die Gegenwart war inzwischen schon so geschärft, daß ich fühlte, mit welchem mythischen Grauen der Anblick dieses Totenschädelfundaments die Zeitgenossen, die das Wort Tod aus ihrem Vokabular gestrichen hatten, zweifellos erfüllen mußte.

Meine betrachtende Versunkenheit wurde durch die scharfe Stimme unsres Bräutigams durchbrochen, welche sich der tiefen Stille entrang, die trotz der großen Menschenmauer hinter meinem Rücken herrschte.

„Wo ist der Fremdenführer?“ rief Io-Do. „Er ist wieder einmal nicht zur Stelle, obwohl Seigneur eingetroffen ist und man ihn zur Zeit angerufen hat.“

Wann hat man ihn gerufen? dachte ich, da Fiancé Io- Do doch erst vor wenigen Minuten den Einfall dieses Ausflugs gehabt hat.

Herrn Io-Solips Stimme flüsterte kalmierend:

„Du bist zwar Bräutigam, Sohn, und hast das Recht, deine Stimme zu erheben, so oft und so laut du willst. Aber ich würde trotzdem nicht aller Welt zeigen, wie wenig ich mich beherrschen kann . . .“

„Wenn der Fremdenführer nicht kommt“, sagte Io-Do trotzig, „so werde ich persönlich den Welthausmeier wecken. Ich bin’s imstande. Es ist mein Recht. Man ist nur einmal Bräutigam.“

„Da kommt ja schon der Fremdenführer“, seufzte Io-Solip erleichtert, der es nicht leicht zu haben schien mit seinem verzogenen Jungen.

Und wirklich, als sei er dem Innern der Erde entkrochen, hatte plötzlich ein Mann den gerüstartigen Aufbau bestiegen, der sich vom Grunde des Bergwerks oder Teichbeckens bis ein wenig übers Niveau des Geodroms erhob. Von diesem Mann war weiter nichts zu sagen, als daß er ein Mann war wie alle andern Männer, bartlos, alterlos, faltenlos, jedoch, ebenso wie der Mutarianer daheim, keinen Perückenaufsatz auf dem billardkugelglatten Schädel trug. Ich zähle deshalb in meiner Erinnerung auch den Fremdenführer zu den hohen Staatsbeamten. Inzwischen drängten die Tausende, die den Mittelteil der zentralen Plaza erfüllten, etwas näher an das Gitter heran, obgleich nur ein kleiner Teil hoffen konnte, irgend etwas zu sehn, denn wie die Wohnungen dieser Zeit, so befanden sich auch ihre Denkmäler unter der Erde. Der Fremdenführer räusperte sich lange, hatte aber keinen Lautsprecher vor sich, um seine Stimme zu verstärken. Das einzige relativ technische Werkzeug, das mir in dem astromentalen Zeitalter untergekommen war, blieb das Reisegeduldspiel. Dennoch aber erscholl die Stimme des Fremdenführers so weittragend, ja dröhnend, als würden von ihr die Luftwellen durch einen unbekannten Trick in gesteigerte Schwingung versetzt:

„Geehrte los beiderlei Geschlechts“, begann er seinen Vortrag mit der routinierten Heiserkeit aller Ciceronen, „Sie haben sich heute in beträchtlicher Zahl auf dem Geodrom eingefunden, um das älteste aller Denkmale zu betrachten, welches eine ferne Vorzeit auf Erden zurückgelassen hat, und zwar ein Denkmal, dessen Bedeutung die Wissenschaft nicht erst entdecken muß, sondern das, durch Geschichte und Literatur von jeher dokumentiert, sich an dieser Stelle befindet, seitdem es eine Kontinuität menschlichen Gedächtnisses gibt. Als privilegierter Fremdenführer dieses Zeitalters habe ich hiemit die Ehre, alle Anwesenden herzlichst zu begrüßen, insonderheit aber die lieben Kinderlein unter den Anwesenden, die das erste Mal zu ihrem Nutz und Frommen das Denkmal des Letzten Krieges erblicken . . .“

Der Mann auf der Redekanzel, die ähnlich über die Erdoberfläche hervorragte wie seinerzeit ein Arbeitsgerüst beim Tiefbau, machte eine kleine, gewitzigte Pause. Dann fuhr er etwas leiser fort, und seine oratorisch geläufige Heiserkeit deutete schon mehr auf einen Politiker hin als auf einen Cicerone:

„Darüber hinaus, meine werten Ios, habe ich heute die seltene Ehre, der Fremdenführer des Zeitalters im wahren Wortsinn zu sein und nicht nur ein Denkmalserklärer für Wiß- und Neugierige und Abendbummler, indem sich nämlich ein wirklich Fremder unter uns eingefunden hat, und zwar durch gütige Vermittlung der Brautfamilie Io-Fagòr und der Bräutigamsfamilie Io-Solip, die zur Zeit ihre großen drei Tage feiern. Wir sind diesen hochachtbaren Familien den herzlichsten Dank schuldig, daß sie es mit Hilfe eines Hausfreunds, der nicht genannt sein möchte, sowie durch ihre eigene beharrliche Bemühung ermöglicht haben, daß wir unter uns einen Gast aus den Anfängen des Menschengeschlechts begrüßen dürfen, einen Gast, ganz echt in seinem weißhäutigen Leibe und steifen, groben Kostüm, wie Sie alle selbst sehn können . . . Ich begrüße somit Seigneur mit dem Wunsche, er möge sich recht wohl fühlen in unserer Mitte . . .“

Ich fühlte mich gar nicht wohl. Es war einer jener Augenblicke, wo man am liebsten in ein Mauseloch kriechen möchte. Die Menschenmenge ringsum applaudierte und stampfte ein bißchen, ungefähr wie es zu meiner Zeit geschah, wenn das Publikum eine untermittelmäßige Zelebrität begrüßte, von der es so gut wie nichts wußte. Obwohl ich somit kein Success war, lächelte ich wieder dankend nach allen Seiten und entblößte die Zähne. Der Fremdenführer, der plötzlich einen Zeigestab von der doppelten Länge einer Fischangel in der Hand hielt, wies mit ihm auf mich:

„Ich möchte darauf aufmerksam machen“, sagte er, „daß Seigneur widerspruchsvollerweise bei weitem der Älteste und bei weitem der Jüngste unter uns ist. Als würdiges Mitglied der uranfänglichen Menschheit ist er von solch unnennbarer Jugend und Kindlichkeit, ein Baby der Entwicklungsgeschichte gleichsam, daß jedermann und besonders die Damen ihn mit teils neugierigen, teils mütterlichen Händen betasten möchten. Als lieber Besucher unsrer Gegenwart andrerseits umspannt er in voller körperlicher Frische zwei Weltepochen von solcher Auseinandergelegenheit, daß man vor seinem unnennbar hohen Alter zurückweicht in natürlichem Ehrfurchtsschauder . . . Ist es nicht so?“

Beifallsgemurmel der Menschenmauer. Man lebte im mentalen Zeitalter und hatte daher ein genußvolleres Verständnis für feingeprägte Paradoxe und Antithesen als in einer Periode journalistischer Faktenanbetung. Trotz meines Uralters und meiner Urjugendlichkeit aber fühlte ich mich nicht anders als jüngst vor dem Einschlafen, also rund fünfzigjährig. Ich war wie erlöst, als die Angel in der Hand des Fremdenführers sich von mir weg und dem zerlämperten Himmelsglobus zuwandte:

„Damals, Seigneur und liebe Zuhörer sonst“, bog er nun endlich in seinen Fremdenführervortrag ein, „damals, ehe die Goldschmiede aus ihrem zu ihrer Zeit so hochgeschätzten Metall die Bänder dieser primitiven Himmelsabbildung zurechthämmerten, hatte die Menschheit das Ärgste schon überstanden. Der Letzte Krieg wurde nämlich nicht mehr wie der Vorletzte Krieg mit rettungsloser Teufelei von allen gegen alle geführt, sondern nur mehr von ausgewählten Zehntausend gegen ausgewählte Zehntausend. Beide Zehntausend vernichteten einander innerhalb von drei drei Zehntel Minuten bis auf den letzten Mann, wodurch bewiesen war, daß die waffenmäßige Austragung von Zwistigkeiten nichts mehr wirklich entscheiden und daher auch länger nicht als zeitgemäß gelten könnte. Zwar erhoben sich nach jenen drei drei Zehntel Minuten der gegenseitigen Vernichtung noch einige fanatische Stimmen, welche beide Parteien zum Zwecke völliger Ausrottung aufeinander hetzen wollten, aber sonderbarer-, ehrenwerter- und unerwarteterweise siegte diesmal die Stimme der Vernunft. Man erinnerte sich mit Entsetzen des Vorletzten Krieges, der viele Menschenalter zuvor den Planeten verödet, die Überlebenden zu Höhlenbewohnern gemacht und ihnen alle Wissenschaft und, wie einige Fachgelehrte behaupten, sogar das Sprachvermögen genommen hatte. Die plumpe Geistesstufe, auf der die Menschen zur Zeit jenes Vorletzten Krieges standen, erkennen wir auch noch an ihren plumpen Waffen. Wer kennt nicht die Fernsubstanz- oder Fernschattenzertrümmerer, deren Anzahl unerschöpflich scheint? Die Kinder im Park des Arbeiters spielen mit diesen Fernsubstanzzertrümmerern, die freilich nicht mehr durch Aufknackung der Nuclei den Weltraum der Unikel freilegen . . .“

„Ich möchte doch gebeten haben“, ließ Fiancé Io-Do einen Zwischenruf hören, seine eigne Waffensammlung verteidigend.

Die Blicke des Fremdenführers suchten mich, ehe er den interessanten Vortrag fortsetzte, den ich natürlich nicht in seinen, sondern nur in meinen Worten wiedergeben kann, wodurch ich ihm viel von seiner glatten Kälte und sternenfernen Unbeteiligtheit wegnehme. Ihm, dem privilegierten Fremdenführer dieses Zeitalters, war Krieg und Kriegsschrecken gleichgültiger und irrealer als dem Fremdenführer durch die Gefängnisse der venezianischen Dogen das verschollene Todesröcheln der Angeschmiedeten unter den Bleidächern.

„Das Zeitalter, welches dem Vorletzten Kriege unmittelbar voranging“, fuhr der Redner fort, „glich nicht mehr den Anfängen der Menschheit, deren schätzenswerten Augenzeugen wir zur Genugtuung des heutigen Tages bei uns haben. Seigneur könnte gewiß aus näherer Kenntnis als der hellsichtigste Gelehrte das primitive Leben des Urmenschen schildern, als da noch auf jede zehn Quadratmeilen ein anderer Stamm mit andrer Sprache, andern Sitten, andern Gebräuchen unter Zelten, niedrigen Strohdächern oder gar in termitenmäßigen oder schachtelartigen Hochgebäuden wohnte . . .“

Ich preßte verzweifelt B.H.s Hand:

„Um Gottes willen“, flüsterte ich, „ich werde kein Wort reden. Ich lasse mich nicht zwingen . . .“

B.H., sichtlich verärgert durch mein Benehmen, machte zum Fremdenführer hin ein verneinendes Zeichen, der nachsichtig nickte und seinen Vortrag ohne Pause fortsetzte:

„Zur Zeit des Vorletzten Krieges war unser Globus bereits heptalingual. Es gab nur mehr sieben verschiedene Sprachen, sieben verschiedene Völker, sieben verschiedene Reiche, wie es sieben Farben gibt. Ein Teil dieser Reiche, Völker, Sprachen, bewohnte mehr die Inseln, der andre mehr die Kontinente. Die Bewohner der Inseln waren reicher, friedlicher, vernunftentwickelter und phantasieloser, die Bewohner der Festländer waren ärmer an Lebensgütern, sie machten nicht die allgültige Logik zu ihrer Richtschnur, sondern vage Gefühle und Träume, die ihre Herzen füllten. Sie waren unbefriedigt in ihrem Lebenswandel, diese Kontinentalen, und darum fühlten und träumten sie zu viel und zumeist ungesund. Doch all ihre Gefühle und Träume enthielten unbezähmbaren Neid gegen die Inselbewohner, die leichter lebten. Die Neidischen, von Propheten und andern Demagogen angestiftet, verbanden sich zu einer Koalition, die schließlich durch eine tückische und unaufrichtige Politik den Vorletzten Krieg auf Erden erklärte, welcher, wie ich schon berichtet habe, zur beinahe vollkommenen Ausrottung beider Völker- und Mächtegruppen führte, so daß die armseligen Reste der Menschheit von vorne anfangen mußten und mehrere hundert Jahre dazu brauchten, um eine neue zaghafte Zivilisation zu schaffen. Diese neue Zivilisation aber, als sie die höchste Stufe erreicht hatte, war schon fortentwickelter als die vorige, nämlich ambiglossal. Es gab nur mehr zwei Sprachen, zwei Nationen, zwei Reiche. Dieses Doppelsystem schien sich eine geraume Zeit lang aufs beste zu bewähren, und die Theoretiker triumphierten schon, daß es die unzerstörbare Grundlage für den endlich verwirklichten Ewigen Frieden bilden werde, zumal von beiden Seiten ein bis auf den heutigen Tag berühmtes Staatsgesetz angenommen wurde, das betitelt war: Pflicht zur gegenseitigen Einmischung.“

Entzückt über diese Formel, die den Zweiten Weltkrieg meines eigenen Zeitalters so leicht hätte abwenden können, rief ich:

„Bravo, bravo, das ist aber eine feine Bill“, worauf sich Bräutigam, Wortführer, Hausweiser, Beständiger Gast und noch einige andere erstaunt und verständnislos nach mir umwandten, während der Wiedergeborene neben mir tat, als habe er nichts gehört. Der Fremdenführer aber ließ sich durch meinen parlamentarischen Zustimmungslaut nicht stören:

„Es war eine Illusion“, sagte er mit der baritonalen Vibration eines gewiegten Schauspielers, der seine wohlaufgebaute Rede in einer Kadenz der Vergeblichkeit verhauchen läßt, „das Zweinationensystem brachte der Menschheit die Rettung nicht, und es mußten noch viele, viele Zeitalter vergehen und so manche Vorrückung der Sternbilder erfolgen, ehe es dem Menschen endlich gelang, dem natürlichen Ausgang des Lebens allen Schrecken zu nehmen und ihm jene milde Freiheit und Würde zu geben, die den Krieg und die Vorstellung von physischer Feindseligkeit zu einem absurden Nachtmahr macht, den der moderne Mensch eher für ein Lügengewebe überspannter Geschichtsforscher hält als für jenen grauenhaft wirklichen Höllenzwang, dem vor Jahrtausenden sein eigenes Geschlecht unterworfen war. Ja, wenn die Fernsubstanzzertrümmerer nicht wären und die anderen Waffen, auf denen gewissermaßen unsere Häuser gebaut sind . . .“

„Sehr richtig“, rief der Fiancé befriedigt.

„Und dieses Denkmal hier aus gehämmertem Goldmetall, das über den zwanzigtausend wohlerhaltenen Menschenschädeln jenes Letzten Krieges errichtet wurde . . .“

Bei Nennung des Wortes „Menschenschädel“ begannen viele Kinder zu weinen und zu zetern. Ihre Mütter suchten sie zu beruhigen, indem sie leise auf sie einsprachen oder gar Wiegenlieder sangen. Es war ein schmerzliches Gesumm ringsum. Die große Menschenmenge hielt sich ängstlich von dem umgitterten Kreis des Denkmals fern, als habe niemand mehr die Nerven, den Anblick von Totenschädeln zu ertragen. Wieder einmal hatte einer, und zwar der privilegierte Fremdenführer dieses Zeitalters, das Wort „Tod“ vermieden. Was meinte er aber unter der „milden Würde und Freiheit“, die der moderne Mensch „dem Ausgang des Lebens gegeben hatte“? Immer wieder wurde ich vor das wohlbehütete Geheimnis der gegenwärtigen Welt gestellt, und immer tiefer berührte mich dieses Unbekannte. Doch ich mußte schnell mein Gehör dem Vortrag zuwenden, von dem ich bereits einige Sätze versäumt hatte.

„Es war somit“, schlug die etwas heisere Eloquenz an mein Ohr, „nicht wie bei der uranfänglichen Menschheit die natürliche Reibung der Notdurft, die zum Kriege führte, oder die andersgeartete Götterverehrung, sondern nichts als pure, lächerliche Eitelkeit. Jedermann, und zumal die reifere Schuljugend, die ich hiemit eigens begrüße, weiß aus dem Geschichtsunterricht, daß zur Zeit des Letzten Krieges die beiden bestehenden Nationen der Erde sich nannten: Die Blauen und die Roten. Nun hatten die Blauen sowohl als auch die Roten im Laufe ihrer Geschichte einen strahlenden Namensschatz großer Männer und Frauen angesammelt in allen Reichen menschlichen Strebens, als da sind: Gotteskunde, Weltallsweisheit, Chronosophie, Sternwanderschaft, Verwunderertum, Fremdfühlerei, Dichtung, Wissenschaft der Materie, Wissenschaft des Erkennens, Musik, Bildnerei, Abschilderei, Körpergewandtheit und Spiel, obwohl letzteres, das ist der Wert des zwecklosen Spiels, erst knapp vor unserer Zeit ganz und gar erfaßt wurde. Es gab sohin blaue und rote Genies in Hülle und Fülle. Man nannte sie unsterblich und trieb mit ihrem Namen allerlei Aufwand und großen Pomp zum Ersatz für die Sensationen der Politik, die damals schon langsam hinzudorren begannen. Da machte eines Tages ein blauer oder roter Astronom den Vorschlag, man solle die Namen der Sterne, die sich seit der fernsten Urzeit nicht geändert hatten, umbenennen mit den Namen der größten Gotteskünder, Weltalls weisen, Lebensweisen, Dichter, Gelehrten, Bildner, Sänger, Tänzer, Ballspieler, Billardspieler usw. Von der Seite der andern Nation wurde unverzüglich geantwortet, man sei begeistert von dem Gedanken, das Himmelsgewölbe mit den Namen blauer und roter Genies auszusternen. Ein glanzvoller Kongreß trat zusammen, der mehrere Jahre lang tagte. In den ersten Jahren herrschte die schönste Übereinstimmung unter den Mandataren. Zuerst wurden die großen Genies der Frühzeit, die sich in der Geschichte erhalten hatten, unter die Sterne versetzt, es war eine recht ansehnliche Ziffer, dann folgten die Namen der blauen und roten Meister auf allen Gebieten. Da es aber leider unendlich viel mehr himmlische Sterne gab als menschliche Stars, war man gezwungen, bei der großen Umbenennung des Nachthimmels — die jetzt freilich ganz und gar vergessen ist — bis auf die dritte, vierte und fünfte Besetzung des Ruhms hinunterzugehn. Da zwinkerte ein höllischer Dämon mit den Augen, und wegen eines gleichgültigen Ballspielers oder Coupletsängers, rot oder blau, die Historiker haben’s nie ermittelt, brach der große Zwist aus. Die Blauen, es können aber auch die Roten gewesen sein, verließen bebend vor Zorn und unter lautem Protest den Beratungssaal. Ein Mückenstich hatte genügt, den schlummernden Nationalhaß aufzureizen und das hochgerühmte Zweivölkersystem zu sprengen. Immerhin aber waren der Anlaß des Letzten Krieges, wie man das Duell der zweimal Zehntausend nennt, die Sterne am Himmel, ein Fortschritt, es waren die Sterne am Himmel . . . die Sterne . . .“

Die Worte des Fremdenführers dieses Zeitalters verhallten mir im Ohr. Ich konnte sie nicht mehr verstehn. Es war Nacht geworden, und ich hob den Kopf zum Himmel. Einer schönen Sommernacht gedachte ich da, wo ich ebenso den Kopf zum Himmel gehoben hatte, daß er beinahe waagrecht lag. Es war in der Nähe unsres Hauses gewesen, in den Voralpen. Die Milchstraße wölbte sich auch damals über mir, das Mondlicht aber war so stark, daß ihr Schleier nur wie eine Ahnung wehte. Und jetzt war ich tot. Und nicht genug damit, ich befand mich in dieser fremdesten aller Welten, eine zur Schau gestellte Rarität. Wie aber hatte selbst der Himmel sich verwandelt! Man konnte ihn mit dem alten sparsamen Himmel jener verschollenen Nacht ebensowenig vergleichen wie eine überüppige Blumenwiese im Juli mit einer Wiese im März nach der Schneeschmelze. Ich bin kein Astronom noch sonst ein Himmelsgucker oder -kenner; die Zahl der Sterne jedoch schien sich, verglichen mit meiner eigenen Lebenszeit, verzehnfacht zu haben. War es nur die trockener und klarer gewordene Erdatmosphäre, die mehr Sternmillionen enthüllte als früher? Waren inzwischen neue Gestirne in solch unfaßbarer Überzahl ins Leben getreten? Oder fehlte einfach der liebe Mond?

Ich fühlte plötzlich, daß eine schier grauenhafte Wehmut in meiner Kehle emporstieg, ein ganz unausdrückbarer Jammer, wie ich ihn nie gefühlt hatte. Obwohl mein Gesicht starr blieb — es war neuartig kalt geworden um mich —, begannen die Wasser aus meinen Augen zu stürzen. Ich war viel zu traurig, um mein nicht mehr ganz reines Taschentuch zu ziehen. Ich lehnte nur mit zusammengebissenen Zähnen mein Gesicht gegen B.H.s Schulter.

„Was hast du denn, F.W.?“ fragte der alte Freund verstört.

„Mir ist so leid um den Mond, B.H.“, stammelte ich.

Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman

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