Читать книгу Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman - Franz Werfel - Страница 11
SIEBENTES KAPITEL
ОглавлениеWorin ich einen Blick in „Die Abendsterne Heute“ tue, zum Unparteiischen in der wichtigsten Streitfrage aller Zeiten bestimmt werde, einen ansehnlichen Erfolg erringe und infolgedessen dem schlummernden Welthausmeier oder auch Geoarchonten oder auch Erdballpräsidenten meine Aufwartung machen darf.
DIESE GRAUENHAFTE WEHMUT, diese herzzerreißende Sentimentalität, ein wahres kosmisches Hundegefühl, welche mir das salzige Naß in die Augen und ein Aufschluchzen in die Kehle trieb, war glücklicherweise unbegründet. Ja, ich hatte grundlos um den Mond gelitten. Die gute Luna war während meiner langen Abwesenheit nicht vom Himmel verschwunden, nicht war sie von ewiger Nacht verschlungen, nicht im Nachhall der Sonnenherzattacke in Millionen Meteore zersprungen, sie war intakt und unverwandelt geblieben mit allen ihren vier Vierteln. Ich konnte mich selbst überzeugen davon, ohne daß mich B.H. erst mit Worten beruhigen mußte, denn gerade in diesem Augenblick war die traute Mondscheibe in ihrem schwachen ersten Viertel am aufgeworfenen Rand der weiten Waagschale sichtbar geworden, die ferne Spiel- und Silhouettenarchitektur der Türme, Türmchen, Giebel, Erker, Kuppeln, Zinnen am östlichen Horizonte nachschwärzend.
Ich kam aber gar nicht dazu, mich über die Vorhandenheit des alten Mondes so recht zu freuen, da, ungeheuerlich ganz und gar, ein wüstes astronomisches Phänomen am Nachthimmel Platz zu greifen begann. Wir wissen schon, daß der Nachthimmel dieses Zeitalters mit zehnmal dichterem Sterngewimmel übersät war als etwa der Himmel einer vollausgestirnten südlichen Augustnacht des zwanzigsten Jahrhunderts auf Bergesgipfeln oder hoher See. Der Vergleich mit einer blumendichten Sommerwiese, den ich vorhin gebrauchte, ist ziemlich zutreffend. Die einzelnen Sterne, soweit man unter diesen Sternklumpen, Sterntrauben, Sternschleiern von einzelnen Sternen überhaupt sprechen konnte, waren um viele, viele Grade heller und größer als damals, und der zusammengeschrumpfte, schwarze Nacht-Raum zwischen und hinter ihnen schien weit zurückzutreten. (Angesichts dieser fortschreitend sich entschleiernden Weltenfülle mußte die Astronomie eine Wissenschaft geworden sein, deren Inventuraufnahme allein schon über Menschenkräfte ging.) Zu meiner Zeit, da man mit freiem Auge am Nachthimmel kaum dreitausend Sterne unterscheiden konnte, hatte man das Universum mit einer explodierenden Granate verglichen, deren Partikel, die Sterne, nach allen Seiten auseinanderfahren. Die Gelehrten waren wie so oft in dieser Theorie einer Illusion erlegen. Die dichte Belebtheit des Nachthimmels Jetzt zum Unterschiede von Einst hätte mir sofort die Wahrheit eingeben müssen: Das Universum atmet. Beim Einatmen ziehen sich die Gestirne im Raume zusammen, beim Ausatmen fahren sie auseinander. Diese große, hohe Wahrheit aber sollte ich erst viel später aus dem Munde des Hochschwebenden erfahren. — Eine künstliche Beleuchtung des Geodroms, der zentralen Plaza, wäre völlig überflüssig, ja hinderlich und störend gewesen. Wir waren eingehüllt in Licht, das ganz anders und weit schwächer als Sonnenlicht war, aber dennoch Licht; es war ein bläulich volles Licht, das die Gestalten und Gegenstände völlig ausmodellierte, nicht anders als der Tag, ihnen aber die Farbe nahm. Da aber in der Farbe das große Geheimnis der spektralanalytischen Täuschung liegt, und die Farbe mehr der Maya angehört als die Form, so kann ich dieses übertriebene Sterntageslicht mit Recht ein geistiges Licht nennen, geistiger zumindest als das der Sonne. Wir standen somit umhüllt von astromentaler Nachthelligkeit. Und jetzt ereignete sich folgendes:
Als würden vier apokalyptische Gewalten nach allen Richtungen eine zuerst kleine, doch stets wachsende Himmelsstelle mit unsichtbaren Spaten, Rechen oder Besen von Sternen freischaufeln, freiraufen, freikehren, entstand in der Mitte des Firmaments plötzlich ein immer größeres schwarzes Rechteck, einer Schultafel von Lichtjahrdimensionen ähnlich, an deren Rändern sich der glitzernde Sternenkies hoch aufhäufte.
„Was ist das, was ist das?“ stotterte ich und preßte die linke Faust gegen mein arg zerknittertes Frackhemd.
B.H. ergriff meine rechte Hand und drückte sie gebieterisch:
„Alteriere dich nicht, F.W., verhalte dich ruhig! Es handelt sich selbstverständlich um ein rein optisches Manöver.“
„Man sollte doch die Sterne nicht zu optischen Manövern verwenden“, sagte ich mit bitterer Zunge aus trockener Kehle, und meine Knie bebten.
„Unsre Beziehung zu den Sternen ist eine andre als die eure, lieber Freund“, lächelte der Wiedergeborene, der zur Vorsicht noch immer meine Hand festhielt, „seitdem unanzweifelbar festgestellt wurde, daß unser Planet wirklich und wahrhaftig der Mittelpunkt des Universums ist und es demnach ausschließlich nur einen bewohnten Planeten und eine einzige Menschheit gibt, die unsrige!“
„Was sagst du da, B.H.“, entrang sich’s mir, „ist das wirklich und wahrhaftig festgestellt und kein Zweifel mehr möglich? Die geozentrische Hypothese und mehr als sie hat also gesiegt? Oh, ich hab’s im stillen immer gewußt, sie werde siegen. Denn ohne sie ist der Glaube an eine geistige Bestimmung dieser Welt schwer zu begründen. Wie bin ich glücklich, B.H., wie sonderbar glücklich . . .“
Und bei diesen Worten fühlte ich meine Augen wieder naß werden, diesmal aber nicht durch das kosmische Hundegefühl, der Mond sei hin, sondern aus einem tief befriedigten Stolz. Der Wiedergeborene sah mich erstaunt an:
„Hast du dir das so sehr gewünscht, F.W.?“ fragte er. „Ich finde, die Verantwortung wächst damit ziemlich ins Unermeßliche . . .“
Ich konnte auf diese mit Recht bekümmerte moralische Anmerkung nichts mehr erwidern. Denn in demselben Augenblick begannen aus dem gehäuften Sternkies, rings um das leere, pechschwarze Rechteck, einzelne spritzige Sternlein mit hüpfendem Mutwillen auf die Tafel zu springen, und aus ihnen bildete sich im Nu eine Lichtschrift, eine Titelschrift, und ich las, durchaus nicht zu meiner Erbauung:
„Die Abendsterne Heute.“
Und darunter in kleinerem Grade:
„Am dritten Tage des vierten Erdenmonats der siebenhundertzweiundvierzigsten Sonnenwoche der Null Komma Null Null Null dritten Evolution im elften Weltengroßjahr der Jungfrau.“
Und daneben, ganz winzig in Klammern, eine sechsstellige Zahl, die ich nicht lesen konnte, mit dem Zusatz: „Post Christum Incarnatum.“
„Das geht zu weit“, sagte ich, und erinnerte mich zugleich, daß ich diese selbe Phrase schon einmal während meines Abenteuers gebraucht hatte. Ein Forschungsreisender soll schauen, schweigen, Interjektionen vermeiden und keine Kritik üben. Freilich, ich durfte ja erst nach meiner Rückkehr so recht erkennen, daß ich eine Forschungsreise absolviert hatte. Jetzt aber verletzte diese aus Sternenlettern gedruckte Zeitung meinen Geschmack. Vielleicht würden die Gestirne des Zodiak auch noch zu Annoncen für Hautcreme und Abführmittel mißbraucht werden! Die kosmische Zudringlichkeit des Menschen war ins Absurde gewachsen:
„Wie wunderbar!“ höhnte ich. „Nun hat der Journalismus und das Reklamegeschäft sogar nach den Sternen gegriffen. Das hätte nicht einmal ich mir träumen lassen. Der einzige Vorzug ist, daß eure Himmelszeitung nur in einem einzigen Exemplar erscheinen kann, und kein politischer Partei- und Inseratennabob die Millionen einstreicht.“
„Es gibt keine Millionen“, versetzte B.H. sehr von oben herab, „wenn du darunter jene verrosteten und verblaßten Courantmünzen verstehst, wie man sie noch heute in der obersten Erdschicht findet. Seit undenklichen Zeiten schon hat jedermann, was er braucht, und viel mehr als das. Jedermanns krankhafteste Gier könnte ohneweiters befriedigt werden. Schon aber dadurch, daß jedermann weiß, daß er alles haben kann, ist die Gier im Menschen so ziemlich versiegt. Es gilt im Gegenteil als fein und vornehm, weniger zu wollen, als man braucht. Reichtum als Drang andre auszustechen, würde als erniedrigendes Gebrechen gelten wie Schweißfüße oder schlechter Geruch aus dem Mund. Und daß wir nicht mehr kaufen und verkaufen, das habe ich dir schon gesagt, F.W., nicht wahr?“
„Und es gibt wirklich keinen Fall und keine Möglichkeit, wo ich etwas kaufen könnte, was ein andrer besitzt, und was einzigartig ist und nicht ein zweites Mal herstellbar?“
„Ich will ganz genau und ganz offen sein, mein lieber F.W.“, lächelte der Wiedergeborene jetzt. „Manchmal spielen wir Kaufen und Verkaufen . . .“
„Aha, ich verstehe, wie man Roulette spielt oder Baccarat oder Poker . . .“
„Im Spiel ist alles erlaubt“, verkündete B.H. „Spiel ist die wiederhergestellte verantwortungsarme Zeitdimension der Kindheit . . .“
„Sehr richtig“, mischte sich unser Abbé, der Wortführer, ins Gespräch, „Spiel ist die wiederhergestellte, schier ewige Zeitdimension der Kindheit. Doch nur das echte Spiel, das gewissermaßen sinnlos vor sich hinlallt, das nichts anderes ist als die träumerische Hingabe von Leib und Seele an die elementaren Kräfte, die uns umwogen. Gewinnspiel aber und Wettspiel haben nichts mit dem echten Spiel zu tun . . .“
„Und doch ist mir Kaufen und Verkaufen das liebste Spiel“, sagte Bräutigam Io-Do trotzig, und er fügte hinzu: „Ich würde sofort zehn Fernschattenzertrümmerer für eine mittlere Pulverflinte in Tausch geben.“
„Da sehen Sie nur unsre eheschließende Jugend“, schüttelte der Wortführer sein Haupt, worauf er den stark verrutschten silbernen Kopfaufsatz geraderücken mußte. Plötzlich aber deutete er mit ausgestrecktem Arm gen Himmel: „Was wollen Sie von der Jugend, da selbst die Weltallsweisen und Lebensgelehrten Wettspiele aufführen?“ Auf der schwarzen Schultafel des Firmaments waren jetzt neue Sternen-Schlagzeilen aufgesprungen. Sie lauteten:
„Größte Streitfrage aller Zeiten. — Match zwischen Professor Io-Sum und Professor Io-Clap wird fortgesetzt. — Kann Existenz Gottes zureichend bewiesen werden? — Heutiger Stand des Wettspiels: Fünfzehn Punkte gegen siebzehn Punkte für Professor Io-Clap.“
Ich muß dem Leser ein Geständnis machen: Das Wort „Professor“ leuchtete am Himmelsgewölbe nicht auf, sondern etwas, was dem griechischen Ausdruck „Sophistes“ ähnlich sah und nahekam. Ich habe von der Monolingua nichts behalten als die merkwürdige zirpende und zwitschernde Lautbildung, die ich schon einmal mit dem Aztekischen verglich und die Erinnerung an eine Menge griechischer Fremdund Lehnworte, mit denen die Zeitgenossen seltsam genug viele ihrer Einrichtungen bezeichneten. Das Griechische, zum Teil auch das Lateinische und Hebräische hatte sich als Gelehrten- und Theologensprache durch die Jahrzehntausende fortgeerbt wie die christkatholische Kirche (vielleicht sogar durch sie) und jene andere Erscheinung aus der Urzeit, die noch zur rechten Zeit in meiner Erzählung auftauchen wird. Also von „Professor“ war keine Rede, sondern etwa von „Sophistes Io-Sum“ und von „Sophistes Io-Clap“. Da aber das Wort Sophist bei uns einen absprechenden Beiklang hat, habe ich mich in frecher Übersetzerart entschlossen, es mit unserm bewährten „Professor“ zu übertragen.
„Wie findest du das?“ sah mich B.H. forschend an.
„Es ist gewiß die größte Streitfrage aller Zeiten“, entgegnete ich höflich, „doch auch die älteste, was die Formel schon besagt. Ich könnte jeden Betrag wetten — oh, ich bitte um Verzeihung, man wettet ja nicht — daß ich nichts mir Unbekanntes darüber zu lesen bekommen werde.“
B.H. war ziemlich pikiert im Namen seiner Zeitgenossen. Er wandte sich mir voll zu:
„Beweist es nicht einen beträchtlichen geistigen Fortschritt, daß man in dieser Stunde rund um den ganzen Erdball der großen Menge dieses Match bietet anstatt wie in der Vorzeit ein Baseballspiel, eine Radiotie oder eine Nuditätenrevue? . . .“
„Nuditäten sind ja ziemlich überflüssig geworden“, sagte ich einfach.
Diese sarkastische Antwort konnte meinen Freund nicht mehr treffen, denn alle wandten den Blick jetzt zum schwarzen Brett der Himmelszeitung, auf welcher die Sternschrift wieder zusammenzuhüpfen begann. Sie glich, ins Kosmisch-Erhabene gesteigert, den Lauftiteln zur Zeit des stummen Kinos oder den aufleuchtenden und verlöschenden Neonreklamen an den Häuserfronten der großen Boulevards unsrer Metropolen:
„Professor Io-Clap siebzehn Punkte. — Professor Io-Sum fünfzehn Punkte. — Professor Io-Sum kommt zum Zug. — Er hat in unermüdlicher Tagesarbeit von vollen zwanzig Minuten seinen Gedanken in achtundfünfzig Worte konzentriert. — Achtung! Achtung! Es folgen die achtundfünfzig Worte Professor Io-Sums . . .“
Die himmlische Schultafel wurde für eine halbe Minute schwarz, sogar beträchtlich schwärzer als vorher, dann begannen die Sternlein wieder zusammenzuhüpfen, um der Lehrmeinung des Sophistes Io-Sum über die größte Streitfrage aller Zeiten zur Schrift zu dienen, die ich hier übermittle:
„Die menschliche Sprache, selbst unsre Monolingua, ist nur ein Geschöpf des Geschöpfes. Das Geschöpf des Geschöpfes kann nur das Geschöpf beweisen, nicht aber den Schöpfer. Das Geschöpf hingegen, vorzüglich der Mensch, ist die Sprache des Schöpfers. Der Schöpfer beweist durch diese Sprache hindurch seine Haupteigenschaft, die Allgüte, indem trotz allem jedes Geschöpf lieber ist als nicht ist.“
Bravo, bravo, alter Schlaumeier, Sophistes und Professor Io-Sum, das haben Sie recht hübsch auf der Drehbank der Monolingua gedrechselt in den zwanzig Miuten ihrer unermüdlichen Tagesarbeit! Welch ein Fleiß für die zarte Konstitution des modernen Denkers, dachte ich amüsiert in mich hinein. Es ist ein wackerer Aphorismus, mehr literarisch zwar als professoral oder gar aus Glaubensdemut erflossen. Der Gedanke spielt mit seinen achtundfünfzig Worten und hüllt sie in den gehörigen wolkigen Dunst, wie es sich für solche Themata gehört. Nehme ich aber den Gedanken selbst aufs Korn, so begrüße ich einen meiner ganz alten Bekannten oder mindestens jemand, der einem dieser ganz alten Bekannten sehr ähnlich sieht. Es sind übrigens zwei Gedanken, recht pfiffig gemixt. Das Geschöpf ist die Sprache des Schöpfers. Solche Einfälle hat unsereins mit neunzehn Jahren recht verschämt aufs Papier geworfen. Kommt alles aus dem Prolog des Vierten Evangeliums: „Im Anfang war das Wort. Und das Wort war bei Gott . . .“ usw. — Der zweite Gedanke aber ist erst der eigentliche: Gott beweist sich in seiner Güte dadurch, daß wir, die Geschöpfe, lieber sind als nicht sind, trotz allem. Also sie verfügen auch über ein „trotz allem“, meine werten Ios beiderlei Geschlechts? Ewige Jugend oder Alterslosigkeit, eine Lebensdauer bis an die Grenze der Sättigung, ja des Überdrusses, Sicherheit und Sorglosigkeit auf jedem Daseinsgebiet, kein Krieg, keine Arbeit, die ganze Produktion der Güter besorgt ein prächtiger Arbeiter mit vermutlich blondem Vollbart und liefert sie jedem ins Haus; Spiel ist das Hochziel des Menschen, und zwar lallendes Kinderspiel, bewußtlos entspanntes Anheimgegebensein den Weltkräften, während ein bißchen Glücksspiel oder Wettspiel fast schon unerlaubte Friktionen und Übertretungen sind. Und am Ende gar, da doch auch dieses mentale Schlaraffenleben ein Ende nehmen muß, da ahne ich einen ganz und gar wundervollen Trick, das weitaus interessanteste Detail meines hiesigen Aufenthalts, in das eingeweiht zu werden mir noch bevorsteht. Und doch, auch hier dieses „trotz allem“, das vielleicht gar nicht so sehr verschieden ist von jenem ruhmreichen „trotz allem“, aus dem Roms Sklaven und Märtyrer die christliche Kirche gemauert haben. Wer weiß, wer weiß . . . Neugierig bin ich jedenfalls auf Sophistes Io-Claps Gegenzug.
Ein braunes Gemurmel rundum rauschte mir brandungsgleich ins Ohr und unterbrach meine Überlegungen. Die Menschenmenge auf der zentralen Plaza mochte sich inzwischen verfünffacht haben. Wahrscheinlich fanden sich allabendlich auf der Riesenwaagschale dieser Agora Zehntausende zusammen, um sich im bläulich schwarz-weißen, aber sonst beinahe taghellen Sternlicht zu ergehen, die Himmelszeitung zu lesen und ihre Meinungen über die verschiedenen mentalen Matches auszutauschen. Hunderte von Gruppen fanden sich zusammen, auf ihren Schlittschuhen schwungvolle Schleifen beschreibend.
Überall schwebten die Gestalten in ihren matten Changeant-Schleierraffungen durcheinander. Die goldenen und silbernen Kopfaufsätze zitterten und schimmerten unruhig auf. Aus dem kreisrund abgegitterten Bergwerk oder Teichbecken, das das versenkte Denkmal des „Letzten Krieges“ umschloß, stieg ein martialisch rötlicher Schein empor. Der Fremdenführer dieses Zeitalters hatte sich längst wieder ins Erdinnere zurückgezogen. Die Schultafel auf dem Firmament, wo Professor Io-Sums Gedanke mehrmals hintereinander reproduziert worden war, starrte wieder schwarz und schwärzer. Rührend schien mir’s immerhin, daß sich die gegenwärtigen Menschen ringsum nicht über die Wahl eines politischen Parteikreisleiters, über einen Industriestreik oder eine Börsenkatastrophe ereiferten, sondern über die größte Streitfrage aller Zeiten, den Gottesbeweis, hinsichtlich dessen, wie ich hörte, sogar heimliche Wetten abgeschlossen wurden. Bräutigam Io-Do wandte sich mit bedauerndem Achselzucken an mich:
„Es tut mir leid, Seigneur, Sie haben Pech. Heute, am dritten Tag der Woche, ist immer das fadeste Abendprogramm.“
Ich stellte an den Fiancé die Frage, was für ein Programm zum Beispiel für morgen vorgesehen sei. Morgen werde eine „Rätselsoirée“ abgehalten, bekam ich zur Antwort, konnte aber diesen Begriff nicht mehr näher erklärt bekommen, da das schwarze Rechteck oben wieder sich mit Sternenschrift zu füllen begann. Und nun war es Professor Io-Clap, der zum Gegenschlag ausholte:
„Fünfzehn Punkte für Professor Io-Sum. — Siebzehn Punkte für Professor Io-Clap — Die letzte Runde des Wettspiels ist im Gange. — Io-Clap, der große Improvisator, hat seine Antwort auf Io-Sums neuen Beweisgrund in Vorbereitung. — Er wird in vier vier Zehntel Minuten die ungeheure Geistesanstrengung erfolgreich beendet haben. ― Es fehlen dahin noch zwei zwei Zehntel Minuten. — Wir stehen knapp vor der Entscheidung im Weltmatch über die größte Streitfrage aller Zeiten. — Wenden Sie nicht die Augen vom Himmel. — Das Komitee hat schon den Beschluß darüber gefaßt, ob die Entscheidung durch allgemeine Abstimmung erfolgen soll oder durch den Preisspruch eines Unparteiischen. — Wenden Sie die Augen nicht vom Himmel. — Drei fünf Zehntel Minuten der Arbeit sind vergangen.“
„Das nenne ich aber ein imposantes Stück von amerikanisiertem Journalismus und gehauter Stimmungsmache“, flüsterte ich B.H. ins Ohr.
Mein Freund sah sich nach allen Seiten um, dann flüsterte er zurück:
„Das Objekt der Stimmungsmache aber ist kein Pferderennen und keine ,Quiz-Veranstaltungʻ, sondern immerhin der Beweis vom Dasein Gottes . . .“
„Beides ist dasselbe geblieben, B.H.“, zuckte ich die Achseln, „der Mensch und seine geistigen Grenzen . . .“
Jetzt ging wieder das braune Raunen durch die Menge, denn die Sterne schrieben und schrieben:
„Vier zwei Zehntel Minuten. — Professor Io-Clap leistet noch immer Gedankenarbeit. — Vier vier Zehntel Minuten. — Die Arbeit ist beendet. — Wenden Sie die Augen nicht vom Himmel. — Professor Io-Clap hat seine Ansicht in hundertsiebenundvierzig Worten konzentriert. — Die letzte Runde geht zu Ende. — Professor Io-Claps hundertsiebenundvierzig Worte . . .“
Und wieder wurde die Schultafel schwarz und noch viel, viel schwärzer als je zuvor. Atemlos schwieg die Menge der Himmelszeitungsabonnenten, und auch mir klopfte das Herz unterm steifen Hemd. Dann begannen unter allgemeiner Spannung die Sternlein wieder zusammenzuspringen und schrieben Io-Claps Gedanken wie folgt:
„Mein Gegner behauptet, daß der Wille des Seins, zu sein und nicht zu sein, den strikten Beweis dafür bilde, daß dieses geschaffene Sein einem schaffenden Sein entflossen sei. Ich aber frage den Sophistes Io-Sum: Kann eine Bejahung in sich selbst ihre Verneinung tragen? Kann das Sein die Idee des Nichtseins überhaupt fassen? Kann das Leben, sofern es nicht seinem Gegenteil bereits angehört, dieses Gegenteil überhaupt wollen können? Dreimal nein! Der Selbsterhaltungstrieb, d. h. der unbekehrbare Wille des Seins, zu sein, ist nicht eine wandelbare Eigenschaft, sondern eine Hypostase, ja die Natur dieses Seins selbst, die von ihm nicht weggedacht werden kann. Der Wille des Seins zum Sein ist daher unwidersprechlich immanent und deutet auf nichts hin als auf sich selbst. Es ist ein in der Logik unerlaubter Sprung, aus diesem Willen zum Sein auf einen jenseitig bewußten, persönlichen und gütigen Ursprung des Seins zu schließen.“
Sapperlot, diesmal aber war’s professoral, und nicht zu wenig. Da lob ich mir meinen träumerischen Sophistes Io-Sum mit dem ahnungsvollen Herzen und den unerlaubten logischen Sprüngen. Io-Clap hingegen und sein Stil sind ja eine richtige Neuauflage unsrer schwierigen Herren Hegel bis Heidegger. Die Monolingua klingt nahezu deutsch in dieser Diktion. Auch zeigt Io-Clap die echte Verschlagenheit des deutschen Professors, der mit seinem Präzisionskauderwelsch immer bereit war, „dem Willen zum Sein“ beizuspringen, sei’s als Infinitiv, sei’s als Pronomen Possessivum, ob dieser Wille nun Fridericus hieß, Wilhelm II. oder, oder, na, wie heißt der Kobold? Ich lese noch einmal in Sternschrift: „Kann das Leben, sofern es nicht seinem Gegenteil bereits angehört, dieses Gegenteil überhaupt wollen können?“ Warum denn nicht soll es wollen können? Da haben wir ihn, den tückischen Herrn Sophistes. Er weiß sehr genau, daß dieses Leben manchmal recht leidenschaftlich sein Gegenteil wollen kann oder können will. (Übrigens, auch hier ist wieder das Wort „Tod“ durch den Euphemismus „Gegenteil“ ersetzt.) Vielleicht gibt es auch heute dann und wann Selbstmord und gräßliche Krankheiten. Für diese Fälle schmuggelte der Professor, um sich logisch zu sichern, den Nebensatz vom Leben ein, das bereits seinem Gegenteil angehört. Imposant, imposant! Oh, wie kenne ich diese Schliche. Es ist recht merkwürdig, daß ich jetzt für mein eigenes Zeitalter, die Anfänge der Menschheit, einen befriedigten Patriotismus empfinde und mich hinterlistig glücklich fühle, daß die Philosophie und Metaphysik seit Heraklit, Plato, Aristoteles, Thomas, Cartesius, Kant, Schopenhauer und Bergson nicht den geringsten Fortschritt gemacht zu haben scheint, sondern eher einen Rückschritt — werden doch offensichtlich dergleichen Disputationen, wie wir sie einst in einer Kaffeehausecke abgeführt haben, heut und hier für titanische Gedankenarbeit gehalten.
„Finden Sie nicht, Seigneur, daß Sophistes Io-Clap äußerst intelligent formuliert?“ fragte mich jetzt der Wortführer, dessen schmales Gesicht unterm silbernen Lockenaufbau Voltaire glich, freilich einem sonderbar jugendschönen Voltaire und nicht dem bekannten satirischen Affen.
„Untadelig intelligent“, erwiderte ich höflich. „Ich wundere mich nur, daß man nach so vielen geistigen Schiffbrüchen im Laufe der Jahrtausende noch immer dieselben Fehler begeht wie einst. In den Anfängen der Menschheit wußte man es längst, daß die größte Streitfrage aller Zeiten nicht allein mit den Waffen des Intellekts zu entscheiden ist, obwohl die römische Kirche das Dasein Gottes für die Einsicht der menschlichen Vernunft zugänglich hielt . . .“
Bevor aber der Wortführer und die andern Junggesellen das Gespräch mit mir fortsetzen konnten, trat das unerwartete und für mich atemberaubende Ereignis ein, das mich mit einem Schlage berühmt machte, am dritten Tage des vierten Monats der siebenhundertzweiundvierzigsten Sonnenwoche der Null Komma Null Null Null dritten Evolution im elften Weltengroßjahr der Jungfrau, auf dem Geodrom, als welches, wenn ich nicht irre, die zentrale Plaza des ganzen bewohnten Globus sein mußte. Es begann damit, daß ich meinen eigenen Augen nicht traute. Mitten am Nachthimmel dieser entlegenen zukünftigen Gegenwart, auf der schwarzen Schultafel der „Abendsterne Heute“ stand mein eigener Name, vermehrt um das persönlichkeitsverleihende Präpositiv, jenes „Io“, welches den Menschen von jeder andern Kreatur unterscheidet. Mit blassem Schrecken las ich diesen Namen, von dem ich mich in einer unnennbar fernen Nacht verabschiedet hatte, und zwar, wie ich glaubte, auf immer und ewig; denn mein wirkliches unzerstörbares Ich konnte von Namen und Bewußtsein ebensowenig ganz bedeckt werden wie etwa ein erwachsener Körper von einem Taschentuch. Welche Verlegenheit, welche Last! Und es kam noch weit schlimmer. Die „Abendsterne“ verkündeten in geradezu erregtem Brio, daß sich das „Komitee für die größte Streitfrage aller Zeiten“ außerordentlich freue, heute dem P. T. Publikum eine seltene Überraschung bieten zu dürfen, nämlich mich, und zwar nicht nur den frühweltlichen „Seigneur“ schlechtweg, was ja schon Überraschung genug wäre, sondern einen geistig rüstigen Seigneur, einen mit allen philosophischen Wassern gewaschenen Eiszeitler, Prädiluvialisten und Vorsonnentransparenzler, der es sich zur Ehre anrechne, als Unentschiedener in der letzten Runde zwischen Sophistes Io-Sum und Sophistes Io-Clap zu fungieren, um nach einem gerechten und mental wohlbegründeten Urteilsspruch dem Sieger den Preis der hellgelben Handgelenkschleife zuzusprechen. Niedergedonnert stand ich da. Mein Mund öffnete und schloß sich schnappend. Plötzlich versuchte ich, auf meinen sausenden Hermesschuhen auszubrechen. Aber schon umgab mich die Gruppe unseres Hauses, allen andern voran der goldbehelmte Bräutigam, den dieses Ereignis mit prickelnden Emotionen zu versorgen schien.
„Was soll ich machen, B.H.?“ flüsterte ich und fühlte, daß ich bleicher war, als es selbst einem Gespenste zukommt.
„Keine Geschichten sollst du machen“, flüsterte B.H. zurück.
„Bedenke doch meine Verwirrung“, flüsterte ich.
„Laß dich laufen“, flüsterte er zurück, „und folge nur deinen Einfällen. Je mehr Zick-Zack, um so besser.“
„Wohin geht es?“ fragte ich, schon etwas lauter, und fühlte mich mutiger werden.
„Zum Uranographen“, antworteten alle, wie aus einem Mund.
Und da war er auch schon, der Uranograph, der Himmelsschreiber, der Redakteur en chef der „Abendsterne“. Er stand mitten in der kühlen, freien Nacht vor einem wackligen Pult. Vor ihm lag nichts als zwei, drei schmierige Blätter Papier. Jedesmal, wenn er mit einem abgenagten Bleistiftstummel ein paar Worte auf solch einen gelblichen Käszettel warf, begannen die Sterne eifrig durcheinanderzuhüpfen und Texte zu bilden. Wie? Ja, das war eben das optische Manöver. Der Uranograph bot uns den vollendet gelangweilten Gesichtsausdruck dar, der ein nicht unwichtiger Bestandteil der journalistischen Berufsehre ist. Der echte Journalist nämlich neigt zu der Überzeugung, daß die Fakten an sich gar nicht da sind, sondern erst dadurch ins Leben treten, daß er sie berichtet. Nachdem er sie dann freilich berichtet hat, gibt er ihnen, als einem Teil seiner selbst, ein bißchen mehr Ehre als vorher. Er gehört somit zu den Leuten, die von einem heimlichen Schöpferhochmut verzehrt werden, der nur ein einziges Luftloch nach außen besitzt, eben jene gelangweilte und sichtlich abstrapazierte Suffisance, die nicht einmal durch den Weltuntergang interessiert werden kann. Der Uranograph sah mich also mit abstrapazierter Suffisance an, als wäre für ihn eine Materialisation aus den vierziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts nicht nur eine alltäglich selbstverständliche, sondern auch eine verdächtige Erscheinung. Nachdem mir seine Augen eine Zeitlang das berufliche Niladmirari zu verstehn gegeben hatten, fragte er mich mit leiser und brummender Stimme:
„Haben Sie Ihre Entscheidung getroffen, Seigneur?“
Die gelangweilte Miene des Uranographen und seine gleichgültige Stimme, die vermutlich ausdrücken wollte, daß er an mich ebensowenig glaubte wie an alle andern Fakten, die er mit seinem abgenagten Bleistiftstummel an den Himmel schrieb, diese Miene und diese Stimme gaben mir, indem sie mich beleidigten, eine gar köstliche Frische und Energie:
„Die Gedankengänge Io-Sums und Io-Claps“, sagte ich, „sind beide in sich geschlossen und voll vertretbar.“
Ein schwacher Schimmer von Aufmerksamkeit glomm im Blick des Uranographen auf:
„Soll das heißen, Seigneur“, fragte er, „daß Sie den Wettkampf für unentschieden erklären?“
„Nein“, erwiderte ich mit leichtem Nachdruck. „Ich erkläre ihn für entschieden, und zwar zugunsten Professor Io-Sums.“
Der Uranograph gähnte. Es war der erste Mensch des Zeitalters, den ich auf dieser physischen Reaktion der Abgespanntheit ertappte.
„Und welche Begründung“, fragte er, „haben Sie für Ihren inappellablen Urteilsspruch, Seigneur?“
„Eine sehr einfache und sehr schlüssige“, sagte ich langsam, Wort für Wort setzend, während mir das Herz warm wurde vor lauter oxydierendem Rechthaben, „Sophistes Io-Sum hat nur achtundfünfzig Worte zur Formulierung seines Gedankens verarbeitet, Sophistes Io-Clap hingegen hat hundertsiebenundvierzig Worte zur selben Konzentration nötig gehabt. Der Gedanke Io-Claps, der außerdem kein unabhängiger Grundsatz ist, sondern nur eine Widerlegung, ist daher um neunundachtzig Worte schwächer als der Gedanke Io-Sums. Rechnen wir zehn Worte als einen Punkt, so hat Sophistes Io-Sum in der letzten Runde neun Punkte gewonnen und somit in diesem Match über Sophistes Io-Clap vierundzwanzig zu siebzehn gesiegt.“
Der Bleistiftstummel des Uranographen flog über den Käszettel, so daß das hinkende Schreibpult noch mehr wackelte als vorher; als völlig uninteressierter Redakteur zeichnete er die Arithmetik meiner Wahrheitsfindung getreu nach, ohne sie anzuerkennen oder zu verwerfen. Ich freilich war sehr stolz auf mein Urteil als Umpire. Die Formel meiner Wahrheitsfindung lautete mir im eigenen Ohr wie ein Newtonscher Grundsatz: „Zwischen zwei Wahrheiten, die demselben Thema zur Erkenntnis dienen, ist diejenige mit der gelben Handgelenkschleife preiszukrönen, welche weniger Worte und Silben zu ihrem Ausdruck vonnöten hat . . .“
Jetzt, lang nach meiner Rückkehr aus jener zukünftigen Gegenwart in unsere gegenwärtige Gegenwart, finde ich den lauten Erfolg meines Wahrspruchs sowohl unverständlich als auch übertrieben. Das mit der Wortzahl als Gradmesser der Wahrheit war doch eher ein leichtfertiger Witz als ein ehrliches Prinzip philosophischen Forschens, zumal im Hinblick auf Ernst und Erhabenheit unserer Streitfrage. Sei es wie es sei, dort und damals, im fast taghellen Sternlicht empfand ich heitere Genugtuung darüber, daß ich mich nicht blamiert, sondern trefflich aus der Affäre gezogen und dazu noch ein neues Prinzip aufgestellt hatte. Das Verwunderliche war, daß dieses Prinzip — wer zu viel Worte macht, hat als Philosoph verloren — „der Menge“ auf dem ungeheuren Geodrom sofort einleuchtete. Applaus und metallenes Beifallsgetrampel von abertausend Schlittschuhen wirkte elementar. Es war gerade das Pointierte, Ironische, der leichtgeschürzte Ernst meines Urteils, was dem mentalen Zeitalter gefiel, das vor heftigen Berührungen durch Geist und Gefühl zurückschauderte. Überdies schätzte man mehr das Äquivalent für attisches Salz und gallische Würze als das für deutsche Gründlichkeit, wie es sich im Sophistes Io-Clap durch die Jahrzehntausende fortgeerbt zu haben schien. In dem Beifall, den ich erntete, mochte sich sogar Überdruß an den Professoren und am ewigen Thema dieses Wettstreits entladen. Eines aber muß immer wieder gesagt werden: Heute — ich spreche von der Zeit, in der ich diese Seiten schreibe —, heute wäre die öffentliche Diskussion eines solchen Themas vor dem breitesten Publikum der Welt eine blanke Unmöglichkeit, da nur einzelne und wenige den Bildungsgrad, den Sprachschatz, die Freiheit von materiellen Vorstellungen und die geistige Entwicklungsstufe besitzen, um einer philosophischen Deduktion überhaupt folgen zu können. Damals — ich spreche von jenem Abend, der in rund hunderttausend Jahren kommen wird — besaß diese Freiheit von materiellen Vorstellungen und diesen Bildungsgrad so gut wie jedermann, da schon seit grauestem Menschengedenken jedermanns Zeit ausschließlich aus freier Zeit bestand, und die Menschheit, nachdem sie die Natur gebändigt hatte, ohne intimen Umgang mit dem Geisterreich und dem Reich des Geistes an Langerweile verreckt wäre. Die Sache mit meinem unerwarteten Erfolg lag aber noch verwickelter. Ich hatte zwischen zwei Typen zu richten gehabt. Von diesen beiden Typen war Io-Sum der Einfache, der Gläubige, der Inspirierte, Io-Clap der Intellektuelle, der Ungläubige, der Skeptiker. Diese beiden Typen repräsentierten, wie mir bald aufzudämmern begann, einen uralten Zwist, der auch durch die gegenwärtige Menschheit ging. Ich hatte Io-Sum, dem Inspirierten, meinen Kranz gereicht. Bald wurde mir durch die schlecht verhehlte Verstimmtheit des Wortführers, des Hausweisen und des Beständigen Gastes klar, daß ich wider den Wunsch dieser meiner neuen Freunde das Urteil gefällt hatte. Die Junggesellen gehörten alle der älteren und ältesten Generation an. Io-Fagòr, der Brautvater, hatte ja während des Festmahles seiner Madame Urgroßmama, der allerschönsten Ahnfrau, das Kompliment gemacht, man habe nur zu ihrer Jugendzeit das richtige Leben gelebt. Zugleich aber hatte derselbe Io-Fagòr die Dekadenz der modernen Jugend darin erkannt, daß sie nicht mehr dem reinen Spiel ergeben sei, sondern in überwundene Leidenschaften zurückzusinken drohe, ähnlich wie auf dem vom eisengrauen Rasen vernunftvoll bedeckten Erdball da und dort jene absonderlichen Dschungel aufplatzten, mit ihren „Hühnern und Gockelhähnen“ und, wie Io-Fagòr es genannt hatte, dem „säuischen Getümmel“. Für das Zurücksinken in überwundene Leidenschaften hatte mir Bräutigam Io-Do durch seine kriegerische Sammlung und seinen Spleen für Fernsubstanzzertrümmerer und Pulverflinten ein überraschendes Exempel gegeben. Mir schwante also bereits am ersten Abend meines Aufenthaltes, daß die älteren Leute hier einer Art von Rokoko, einem ancien régime nachtrauerten, in welchem das mentale Zeitalter die leichten Farben bevorzugt hatte (das Hellgrün und Blaßblau der Reisekügelchen), daß aber die Jugend nunmehr schwerere und tiefere Tinten ins Leben zu schmuggeln begann, vielleicht, wer weiß es, sogar ein veritables Blutrot.
Während all diese Widersprüche mein trotz aller Strapazen überklares Hirn durchzuckten, das unbeschadet so langer trainingsloser Nicht-Existenz sich den enormen Anforderungen dieses Tages nicht minder gewachsen zeigte als mein Körper, flogen wir, unsere Hausgruppe und ich, kreuz und quer durch die applaudierende und schleierschwenkende Menge über die zentrale Plaza. Ich nahm gleichsam auf diese Weise dem fremden Zeitalter die Parade ab, ähnlich wie einst hohe Staatsbesuche es gemacht hatten, Könige, Präsidenten, Prinzen, Marschälle, Premierminister, wenn sie an der Spitze ihrer Eskorte die Ehrenkompanien abschritten oder abritten. Am meisten schien meinen Erfolg Bräutigam Io-Do zu genießen, der schließlich die unmittelbare Ursache dieses Erfolgs war und ihn auf das Konto seines großen Lebensfestes setzen konnte. Zeremonienmeister aber war diesmal nicht der Wortführer, der sich noch immer verschnupft zeigte, weil ich in meinem Verdikt dem Skeptizismus und Agnostizismus ein Schnippchen geschlagen hatte, sondern der Beständige Gast, ich meine jenen, welcher in seiner plastisch silbernen Allongeperücke einem barocken Serenissimus glich. Jetzt sauste er an der Spitze unseres Trupps. Hie und da hob er die Hand, dann mußten wir unsern Hui unterbrechen. Sofort wurden wir von Neugierigen umrundet. Ein für mich neues Phänomen dieses astromentalen Zeitalters bestand auch darin, daß jeder jeden zu kennen schien. Wie wenige Millionen mochten es sein, auf welche das Menschengeschlecht zusammengeschrumpft war? Ohne Zweifel auf genau so viele wie zu seiner Fortfristung die gereifte Erkenntnis als notwendig festgestellt hatte. Es gab jedenfalls niemanden, der den andern nicht grüßte und von diesem nicht begrüßt wurde. Der Gruß, umständlich und überaus formell, gemahnte mich teils an die Art, wie zu meiner Zeit Chinesen sich begrüßt hatten, teils aber an den Gruß preußischer Offiziere bei Betreten eines Zimmers, denn man neigte den Kopf bei völlig steifem Oberkörper, um die gebrochene Linie zu vermeiden.
B.H. begründete die zeremoniöse Intimität aller mit allen damit, daß die Menschen im Vollbewußtsein dessen, daß sie nicht irgendeiner im Kampf ums Dasein siegreichen Tierrasse angehörten, sondern die einzige Menschheit und somit die Mitte des Universums waren, einen höheren Grad von gegenseitiger Achtung einander zu zollen gelernt hatten. Man war ein Bekannter schon durch die Tatsache, daß man Mensch war. Und einen Bekannten nicht zu grüßen, das allein hätte schon bedeutet, ihm Mißachtung und Feindseligkeit zu beweisen. Wir blieben also dann und wann stehn, wenn der Beständige Gast es gebot, und ich machte Kopfneigungen bei steifem Oberkörper und nahm ebensolche Kopfneigungen entgegen, obwohl ich dieser Menschheit nur im Sinne der zurückeilenden Zeitdimensionen angehörte, nicht aber im Sinne des gleichzeitigen Raumes, in dem ich mich nur auf Widerruf befand, was ich in diesem Augenblick sehr hell und mit einem leisen Amüsement empfand. Immer wieder wurden Fragen an mich gerichtet, die seit den Anfängen der Menschheit bis zu ihrem Ende immer dieselben sind und bleiben werden:
„Ist das Ihr erster Besuch des Geodroms, Seigneur?“
„Jawohl, es ist mein erster.“
„Und ist Ihr Eindruck wirklich so groß, wie die ,Abend-Sterne’ es soeben behaupteten?“
„Mein Eindruck ist gigantisch.“
„Damit machen Sie uns eine große Freude, Seigneur.“
Warum machte ich ihnen eine so große Freude mit dem bißchen leeren Lob? Warum waren sie so eitel? Waren sie denn so arm? Sollte man auch heute noch an Minderwertigkeitsgefühlen leiden?
„Sagen Sie offen, Seigneur, erkennen Sie an uns einen Fortschritt?“
„Fortschritt ist ein zu schwaches Wort für den Bergweg der Höherentwicklung, den Sie zurückgelegt haben, meine Damen und Herren.“
„Hat irgend jemand in Ihren Tagen, Seigneur, diesen Bergweg vorhergeahnt?“
„Nein! Zu meiner Zeit war die volle Bändigung der Naturkräfte durch Technik Inbegriff aller Zukunftsträume, wozu ja auch der Kampf um ein bißchen soziale Gerechtigkeit noch gehörte. Eine astromentale Kultur in heutiger Art lag außerhalb unserer Vorstellungskraft und unseres Wunschtraums.“
„Oh, ist das wirklich so, Seigneur?“
Steife Verbeugung meinerseits und seinerseits.
Sie waren unsicher, sehr unsicher. Io-Sums „Trotz allem“ nagte an ihnen.
Plötzlich begann der liebe Herr Io-Solip ziemlich unruhig und nachdenklich zu werden:
„Ich bin soeben von meinem Gegenschwieger Io-Fagòr angerufen worden“, sagte er.
Darauf sah ich mir den kleinen gutherzigen Bräutigamsvater genau an, ob ich etwa einen winzigen Fernsprecher oder Radioempfänger in seinen Händen entdecken könne. Nichts dergleichen.
„Womit und auf welche Weise sind Sie angerufen worden?“ fragte ich gespannt.
Um meine kindische Unwissenheit zum Schweigen zu bringen, übernahm B.H. sofort die Erklärung in wegwerfendem Ton:
„Wir rufen einander im Geiste an“, sagte er, „das mag dir genügen. Es gehört dazu freilich eine ganze Menge von Erziehung und Praxis. Man muß die Gewandtheit haben, dem Strom der inneren Vorstellungen und Bilder willentlich Einhalt zu gebieten und das Bild desjenigen, den man anrufen will, mit höchster Plastik herauszuarbeiten . . . Ich will es später mit dir üben.“
„Wir sollen schnell nach Hause kommen“, sagte Herr Io-Solip und verriet eine gewisse Nervosität, „Io-La, die Braut, Io-Fagòrs herrliche Tochter, ist schon sehr ungeduldig und ungehalten; man möge ihr endlich Seigneur vorführen.“
„Ich betrachte den Wunsch der jungen Dame als Befehl“, sagte ich mit altfränkischer Galanterie, doch innerlich von der Sehnsucht besessen, „nach Hause“ und zur Ruhe zu kommen. Mich erfüllte die Hoffnung, ich werde nach rascher Absolvierung jener Dame Io-La oder Lala, wie sie genannt wurde, mich irgendwo niedersetzen können, am liebsten in dem Bernsteingelb des kleinen Salons, und gemeinsam mit B.H. wieder ein Fossil sein dürfen. Meine Hoffnung wurde schnell durchkreuzt. Der Fremdenführer dieses Zeitalters schwebte an der Spitze eines sichtlich offiziellen Häufleins auf uns zu. Das Komitee der größten Streitfrage aller Zeiten hatte einen Beschluß über mich gefaßt, der meiner Sehnsucht nach der gebrochenen Linie keine Rechnung trug. Ich sollte unverzüglich vor den Welthausmeier geführt werden, um von ihm eine Auszeichnung für meinen philosophischen Preisspruch zu erhalten.
„Welthausmeier?“ fragte ich. „Major Domus Mundi? Ist dieser Begriff zurückzuführen auf die regierenden Satrapen der Merowinger- und Karolingerzeit?“
Niemand konnte antworten. B.H., der es vermutlich hätte können, schien es nicht zu wollen.
„Ist der Welthausmeier hier das Staatsoberhaupt?“ fragte ich weiter.
„Er ist der Geoarchont, der Erdballpräsident“, erwiderte B.H.
„Ich bitte um Verzeihung“, zögerte ich, mit einem Blick zu meinem Freunde hin. „Ich denke aber, daß ich morgen, sollte ich noch leben und hier sein, viel präsentabler sein werde als jetzt . . .“
Man überstürzte sich in Beteuerungen, daß ich präsentabler gar nicht werden könne, als ich soeben war. Nicht einmal das Argument, daß die herrliche Lala, die Braut dieser Tage, ungeduldig auf meine Vorführung warte, wurde zugelassen. Das Weltoberhaupt hatte befohlen.
„Meine Herrschaften“, sagte ich, „sehen Sie hier diese mittelmäßig ehrenvolle Auszeichnung an meiner Brust. Der Staat, der sie mir verliehen hatte, wurde drei Wochen darauf von der Weltgeschichte bis auf weiteres kassiert. Es ist ein böses Omen. Man soll unzuverlässige Leute, die auf so imaginären Gebieten arbeiten wie ich, nicht durch Orden und Ehrenzeichen hervorheben wie verläßliche Beamte, Politiker und Kommerzianten. Gewandtheit im schriftlichen Ausdruck ist eine Gabe, aber keine Leistung, und noch viel weniger eine Tugend.“
Man schalt meinen Aberglauben und beruhigte mich allen Ernstes. Jedes Kind wisse, daß die geeinigte Menschheit sich im Gleichgewicht befinde, welches nur durch eine kosmische Katastrophe aufgehoben werden könnte. Da fragte ich, ohne einen Seufzer zu unterdrücken:
„Befindet sich der Regierungspalast in der Nähe? Werde ich Gelegenheit haben, mir die Hände zu waschen, ehe ich vor Seiner Exzellenz erscheine?“
B.H. sah mich ziemlich verstört an. Es tat mir leid, daß ich ihn immer wieder blamierte.
„Regierungspalast“, schüttelte er den Kopf. „Der Welthausmeier wohnt im Schilderhaus!“
Nein, der Amtssitz des Erdballpräsidenten oder Geoarchonten war mehr als ein Schilderhaus. Es war eine Art von Wachtstube in einer grobgezimmerten Baracke, die an militärische Ubikationen gemahnte, wie ich sie seinerzeit, das heißt meinerzeit, gut gekannt habe. Nur der Farbanstrich in hellgrünen und hellblauen Streifen mochte in der verschütteten Erinnerung des Wiedergeborenen das Wort „Schilderhaus“ heraufbeschworen haben, worunter man jene runden oder viereckigen hölzernen oder steinernen Kästen versteht, die dem auf und ab schreitenden Schildoder Wachtposten Schutz während eines Unwetters bieten sollen. Des Welthausmeiers Schilderhaus lag am nördlichen Hochrande der Waagschale im Kranz der mir noch immer unverständlichen Architektur, deren Symbole und Ornamente weit massiver die Erdoberfläche überragten, als es von der Mitte des Geodroms den Anschein gehabt hatte. Verglichen mit diesen Architekturen stach die absichtliche, ja übertriebene Niedrigkeit und Nichtigkeit des höchsten Amtssitzes mir ins Auge. Es war beinahe ein Trost zu denken, daß vermutlich auch der Erdballpräsident dieses Zeitalters in den luft- und lichtreichen Labyrinthen unter der Erde seine geräumig prächtige Dienstwohnung innehabe. Gleich hinter der ungehobelten Wachtbaracke oder, um bei dem falschen, aber merkwürdigeren Begriff zu bleiben, gleich hinter dem Schilderhaus des Geoarchonten wölbte sich eine weite, hohe Kuppel aus durchsichtigem Material, so daß man in das Innere dieses opalisierenden Kuppelraumes blicken konnte. Dort lagen auf Strecksesseln mit einander zugekehrten Fußenden, die einen Kreis bildeten, etwa dreißig regungslose Persönlichkeiten, die entweder wirklich schlummerten oder im Halbschlafe eine gesundheitsfördernde Bestrahlungskur durchzumachen schienen.
„Ein Sanatorium?“ fragte ich B.H.
Er schüttelte lächelnd den Kopf:
„Ganz im Gegenteil, mein Lieber; es sind die Zusammenstimmer.“
„Wahrscheinlich Staatsbeamte, Verzeihung: Weltbeamte, die Feierabend machen?“
„Die wichtigsten Weltbeamten sogar, F.W. Vielleicht wird dir das ungebräuchlichere Wort mehr sagen. Es sind die Symphronisten oder Zusammenstimmer. Sie stimmen im Geiste die scharf eingestellten Wünsche zusammen und halten dadurch die Ordnung im Reiseverkehr aufrecht. Es ist keine Kleinigkeit, das kannst du dir wohl denken, etwa tausend Reisen in der Minute zusammenzustimmen, denn viele Leute bewegen gleichzeitig dasselbe Ziel auf sich zu. Daß es zu keinen Zusammenstößen kommt, dazu ist schon wirklich eine höhere Mathematik vonnöten . . .“
Obwohl die Spiegelfläche des Erdbodens nur in einem ganz schwachen Winkel nach oben anstieg, mußten wir uns vor dem Schilderhaus des Geoarchonten doch wie richtige Eisläufer in Schleifen und Bögen umeinander bewegen, damit wir vom Rande der Waagschale nicht wieder hinabglitten, dem Denkmal des Letzten Krieges entgegen. Die Menschenmauer hielt ziemlich weiten Abstand von unserer Hausgruppe, die sich nun um den Fremdenführer dieses Zeitalters und zwei oder drei Komiteemitglieder vermehrt hatte. Was mir als dem Kinde meiner Zeit sofort als sehr bedenklich auffiel, war der Umstand, daß des Erdballpräsidenten lächerliches Schilderhaus völlig unbewacht und ungesichert war. Weit stand die gestreifte Tür offen. Kein Leibgardist, kein Wachtposten, kein Detektiv, kein Schutzmann, kein Konfident, ja nicht einmal ein ordinärer Portier hätte einem präsumtiven Attentäter den Eingang verwehrt. Das Metier des Welthausmeiers schien demnach weder sehr beneidet noch auch umworben zu sein. Ich versuchte, auf meinen Schlittschuhen immer in B.H.s Nähe zu bleiben.
„Wie ist der Name seiner Exzellenz, des gegenwärtigen Geoarchonten?“ fragte ich.
„Er hat keinen Namen“, erwiderte B.H. leise.
„Ich meine, wie er wirklich heißt, wie er bürgerlich heißt . . .“
„Der Welthausmeier heißt überhaupt nicht. Weder wirklich noch bürgerlich. Bei der Investitur wird sein Name feierlich aus allen Dokumenten gelöscht. Sogar sein ,Io’ hat er aufzuopfern.“
„Das muß aber sehr unangenehm sein“, entfuhr es mir.
Der Hausweise, der meinen Ausruf gehört hatte, blieb dicht vor mir stehen:
„Es gehört zu meinen Pflichten, Seigneur, Ihnen einen Abriß der Konstitution zu geben . . .“
Er kam nicht weiter. Denn schon hatte ihn der jach heranstürmende Wortführer unterbrochen (welche Geschmeidigkeit im hohen Alter):
„Ihre Pflicht ist die reine Spekulation, sonst nichts. Des Wortführers Pflicht hingegen ist die Darstellung der Dinge in Schrift und Rede . . .“
„Nicht des Wortführers Pflicht, der nur ein Hausredner ist“, ertönte die heisere Oratorenstimme des Fremdenführers dieses Zeitalters, der plötzlich alle hoch überragte und genau so aussah wie eine unvergessene Lesebekanntschaft meiner Knabenzeit, ich meine den ägyptischen Isispriester Arbaces aus Bulwers „Letzten Tagen von Pompeji“.
„Wessen Pflicht ist es, einen Fremden zu führen, der nicht nur einen Hausbesuch macht, sondern einen Weltbesuch?“
Alle schwiegen beschämt. Die Autorität dieses hohen Bürokraten zu bestreiten, wagte niemand.
„Die Wahl des planetaren Archonten“, begann der Fremdenführer trocken und doch auch hoheitsvoll, „erfolgt kraft unserer Verfassung auf dem Wege des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechtes . . .“
Der genannte Begriff, „Allgemeines, gleiches, direktes und geheimes Wahlrecht“ klang meinen Ohren wohlvertraut, ja ich muß gestehen, allzu wohlvertraut. Die politischen Reden und Zeitungen meiner eigenen Jugendzeit waren von ihm erfüllt gewesen, und die Öffentlichkeit meines Heimatreiches hatte ihn hoch gefeiert, als er eines Tages, das alte Klassenrecht ablösend, zum Gesetz erhoben wurde. Wir freilich, die Studenten jener so ruhigen Zeit, jenes Weekends der Weltgeschichte vor 1914, ich verstehe darunter B.H., mich und alle unsre Freunde, hatten uns recht wenig um Politik und Politiker gekümmert, die uns allesamt als Vertreter der niedrigen, bierigen Unbildung und Geistlosigkeit verächtlich waren. Wir selbst waren das, was jene bierbäuchigen Politiker ihrerseits wiederum mit Verachtung „weltfremde Ästheten“ nannten. Wir waren’s in der festen Überzeugung, hoch über der gewöhnlichen Menschheit zu schweben, weil wir Gedichte für wichtiger hielten als Lohnkämpfe in der Industrie, als Zollgrenzen und die Sprachenfrage in nationalen Streitgebieten. Als nach dem Weekend der Weltgeschichte ihr blutiger Wochentag wieder anbrach, sollten wir nur allzubald eines Besseren belehrt werden. Als ich aber jetzt, unzählige Jahrhunderte nach jenen verrauschten Kämpfen um die Demokratie, welche immer wieder verloren und immer wieder gewonnen wurden, aus dem Munde des Fremdenführers die altvergilbte und vorvergangene Wortfolge hörte: „Allgemeines, gleiches, direktes und geheimes Wahlrecht“, empfand ich nicht nur vergleichsweise die Enttäuschung eines Touristen, der sich die Peterskirche in Rom größer und dunkel-heiliger vorgestellt hatte, sondern auch etwas von jener ästhetenhaften Spottsucht meiner Jünglingszeit wider den Ernst der Politik. Ich wurde aber sofort aufgeklärt, daß es um das Wahlgesetz dieses Zeitalters durchaus nicht so bierbäuchig altväterisch bestellt war wie der bloße Klang der Phrase es vermuten ließ.
„Berechtigt zu wählen“, so setzte die radioartige Stimme des Fremdenführers die Belehrung fort, „ist jeder Mann, jede Frau, jeder Junggeselle, jede Junggesellin, kurz jegliches Io, welches das dreiunddreißigste Lebensjahr vollendet hat. Berechtigt, gewählt zu werden sind immerdar nur elf entpersönlichte Persönlichkeiten. Es sind die Seleniazusen, die Mondgeweihten . . .“
Der Kürze wegen werde ich versuchen, die direkte Rede des Fremdenführers zu unterbrechen und diese sonderbare Sache mit eigenen Worten zu umschreiben. Ich muß zugeben, daß ich, außerstande irgendwelche Notizen zu machen, die ich freilich nicht hätte mitbringen können, mir von den einundzwanzig Bedingungen, welche die Selenezusia, die Mondgeweihtheit, ausmachen, zwar einen wichtigen Teil, nicht aber alle gemerkt habe. (In dem Worte „Mondgeweihtheit“ wird gar mancher einen Rückschritt bis zur mythologischen Epoche der Menschheit verspüren, bis weit hinters allgemeine Wahlrecht meiner eigenen Jugendzeit zurück — dieses Gefühl wird aber irrig sein und den Tatsachen durchaus nicht gerecht werden.) Die elf Seleniazusen, welche, ohne es selbst zu wissen, die Kandidatur für das oberste Weltvorsteheramt innehatten, wurden von einer geheimen Kommission nach gewissen gesetzlich geforderten körperlichen Merkmalen und geistigen Eigenschaften aufgestellt, und zwar erfolgte ihre Erkürung schon im zarten Alter von fünf Jahren.
Von ihrem fünften Jahre an wurden sie unmerklich aber beständig überwacht. Die Zahl der auf diese Weise unbewußt zur Kandidatur Zugelassenen konnte bis auf einhundertzehn anwachsen, die erst im Bedarfsfalle — das war die Erledigung der Erdballpräsidentschaft — auf die verfassungsmäßig vorgeschriebenen Elf von der geheimen Kommission heruntergesiebt wurden. Diese Kommission war immerfort auf der Suche nach kleinen Kindern, welche die Eignung für das höchste Amt der geeinigten Menschheit besaßen. Im Hinblick auf dieses verschwiegene Suchen, Prüfen und Küren wurde das Wahlrecht „geheim“ genannt, und nicht etwa im Hinblick auf die Geheimhaltung des Wahlzettels, wie einst. Bei der Eröffnung dieser Dinge mußte ich B.H. anblicken, den Tibetaner, der vermutlich noch stärker als ich an die Suche nach dem kindlichen Dalai Lama, nach dem wiedergeborenen Buddha in der verbotenen Stadt Lhassa gemahnt wurde. So kehren alle Motive in der Geschichte wieder, ungeachtet der Zeiträume. Ich hielt aber den Mund.
Folgende körperliche Eigenschaften habe ich mir gemerkt, an welchen die Kommission nach altüberlieferter Vorschrift die echten Seleniazusen und Erdballpräsidentablen zu konstatieren pflegte: Der Ringfinger der linken Hand mußte um mehr als einen Zentimeter länger sein als der Zeigefinger und womöglich auch noch den Mittelfinger überragen. Die Schilddrüse mußte langsamer als normal funktionieren, so daß viele der Präsidentablen, ohne freilich die Gesetze der allgemein erreichten Schönheit zu verletzen, oft zu leichtem Embonpoint neigten. Ferner mußte der Seleniazuse nicht nur mehr Fähigkeit zum Schlaf entwickeln als der gewöhnliche Mensch, er mußte überdies mit offenem Munde schlafen. Der Grund für letzteres sollte eine nach rechts verkrümmte Nasenscheidewand sein, welche den Sonnenatem behinderte, der durch die rechte Nüster eingesogen wird, während die offene linke Nüster dem Mondatem freien Raum läßt. Dies ein Teil der körperlichen Merkmale. Auch die geistigen und seelischen Eigenschaften, die ich hier anführe, sind mehr als unvollständig: Langsames, aber wenn nötig tiefschürfendes Denken. Hang zu Träumerei und Geistesabwesenheit. Menschenscheu, Schüchternheit, Einsamkeitssucht, Neigung zu generösen Verallgemeinerungen und Abstraktionen. All diese Eigenschaften setzten eine zweifellose Schwäche des Tatsachen- und des Machtsinnes voraus. Gerade diese Schwäche aber wurde (oder besser gesagt, sie wird einmal werden) vom Oberhaupt gefordert, vermutlich, um den machtstrebenden Typus von der Macht zu verdrängen, um dem Ehrgeizigen die Ehre zu versalzen und um Tyrannis und Despotie in der menschlichen Natur radikal zu brechen. Während ich dies niederschreibe, kommt mir noch eine biographische Kondition in die Erinnerung zurück, welche vom mondgeweihten Regentschaftskandidaten, wenn nicht gefordert so doch erhofft und erwartet wurde. Es war nicht etwa nur das einfache Zölibat, sondern eine ausgesprochene unglückliche Liebe (etwas, wie man sich denken kann, zur Zeit äußerst Seltenes), die der Präsidentabilis am bürgerlichen Wendepunkte seines Lebens zu leisten hatte, eine unglückliche Liebe ganz alten Stils, am besten mit durchweinten Kissen und schlechten Gedichten. Erst nach dieser Offenbarung einer verletzlichen und selbstunsicheren Seele, welche die zölibatäre Resignation zur Folge hatte, war die Eignung, das heißt die Nichteignung zur höchsten Macht völlig erwiesen.
Nun noch rasch gehandelt über die Wahlprozedur selbst, soweit mir die Belehrung des Fremdenführers darüber Klarheit verschaffte. Die Amtsdauer des jeweiligen Major Domus Mundi war lebenslänglich. Sie endete erst damit, daß derselbe aus dem Dasein abging. Das Geheimnis dieses Abgangs, welches die Worte Sterben und Tod geflissentlich immer und immer wieder vermied, werde ich, wie schon gesagt, erst am Ende meines Besuches lüften dürfen. Daß dieser Abgang „freiwillig und zu Fuß“ erfolgte, das hatte fürwitzigermaßen der Beständige Gast mit der Barockphysiognomie schon während des Festmahls im Hause der Hochzeiter verraten. Ich selbst will nichts weiter verraten und bitte auch den Leser inständig, keinesfalls die letzten Seiten dieses Buches aufzublättern. (Auch die Beziehung zwischen Leser und Autor muß ja auf Vertrauen gegründet sein.) Die Freiwilligkeit des letzten Weges schloß es ja schon beim durchschnittlichen Zeitgenossen aus, daß er in überraschender und nicht vorherberechneter Art aus dem Leben verschwand — um wieviel mehr erst beim höchstgestellten Zeitgenossen. Und doch, gerade in seinem, des Höchstgestellten Falle, war nur die geheime Kommission vom Antritt seines letzten Weges unterrichtet. Die Öffentlichkeit erfuhr erst davon, wenn die Wahlen ausgeschrieben wurden. In der Stunde aber, da der alte (und noch immer jugendschöne) Major Domus Mundi dahinging, wurden die elf Kandidaten der Nachfolgeschaft in ein klosterartiges Gefängnis geworfen, wo sie in strenger Klausur, Dunkelhaft und Leibesaskese das Wahlresultat abzuwarten hatten. Sollte einer aber annehmen, daß die elf präsidentablen Seleniazusen sich über Gefangenschaft und Entbehrung beklagten, der würde weit danebenschießen. Sie klagten einzig und allein über das Mißgeschick, das gar bald einen unter ihnen treffen mußte, nämlich zum höchsten Range über den Menschen erkoren zu werden. Wie oft beschworen sie ihre Wärter und die Mitglieder der Kommission, sie entschlüpfen und ins Nichts zurücksinken zu lassen oder auch sie für immer in Dunkelhaft zu halten; nur einer einzigen Gefahr suchten sie zu entgehen, der Gefahr, in den Mittelpunkt irdischer Angesehenheit zu geraten.
Für den geneigten Leser wird diese Verhaltungsweise ebenso schwer zu verstehen sein wie für mich und die ganze Welt, in die ich von dort wieder zurückkehrte. Unsre Könige, Präsidenten, Vizepräsidenten, Minister, Staatssekretäre, Gouverneure, Regierungsräte, Bürgermeister und Dorfschulzen kleben an ihren diversen Thronen und Amtsstühlen. Sie klammern sich an den Armlehnen dieser Sitzgelegenheiten mit verzweifelten Fingern fest, so daß sie bestenfalls ein Fußtritt oder eine aufrührerische Kugel herunterbefördern kann. Sind sie wählbar, würden sie sich am liebsten zwanzigmal zu Amt und Würden wählen lassen, um ja nicht die Schmach zu erleben in die Reihen der Unscheinbaren und Namenlosen zurücktreten zu müssen. Der Politiker ist nämlich nur ein Parasit des Ruhmes. Was der Begabte sich durch die Ungewöhnlichkeit seines Wesens und Wirkens verdient, den Namen, das erschleicht sich der Politiker durch die gewöhnlichsten Gewöhnlichkeiten, auf Tagungen, Konventionen, Parteikongressen, in Versammlungssälen und den Hinterzimmern der Intrige, des Kuhhandels und der Korruption. Wie bergschwer niederpressend, wie zermürbend, wie atemverschlagend ist doch der Besitz der Macht. Muß nicht ein nur mittelmäßig moralisches Menschenwesen sich vor jeder folgenreichen Entscheidung in Nachtschweiß und Angstträumen winden, wenn diese allein von seiner Unterschrift abhängt? Und doch, die Mächtigen gediehen in der Zivilisation des zwanzigsten Jahrhunderts prächtig. Sie wurden alt, hatten gute Nerven und volle Bäcklein, und die besten unter ihnen tafelten, tranken und rauchten mit sichtbarer Lebensfreude. Es war, als wären sie über Menschenmaß aufrechtgehalten worden vom stählernen Korsett eines dämonischen Hochmuts, von einer orgiastischen Hybris, der die letzten Winkel ihres Selbst mit dauernder Wonne füllte, die nichts andres schwächen konnte, es sei denn der Verlust der Macht. Dieser allerdings war eine Tragödie, an der sie ähnlich, aber noch schneller hinwelkten als der Schauspieler, dessen Karriere zu Ende ist, denn auch sie lebten ja nur vom Schall und Schein, den ihr kurzfristiger Name aufwirbelte. Soweit die Machthaber unsres, das heißt des zwanzigsten Jahrhunderts; und ich habe nicht einmal von den pathologisch Machtbesessenen gesprochen, den Diktatoren und ihren Unterteufeln.
Wie anders die Seleniazusen der fernen Zukunft, in welcher ich mich soeben mit Leib und Seele befinde. Auf den Knien lagen sie vor ihren Kurmännern und flehten, von dem Nachtmahr der Macht, der Würde, der Ehre befreit zu bleiben, wobei als einzige Erleichterung des Unglücks galt, daß der Erwählte überhaupt nicht mehr werde „heißen“ müssen, so daß wenigstens nur ein Namenloser und daher nicht Identifizierbarer die Last der Ehre trug. — Inzwischen aber wurden im Zuge des Wahlprozesses die Namen der Präsidentablen an den Nachthimmel geworfen, nebst genauer Conduite, unerbittlicher Charakterisation und Biographie, und zwar von der Hand des Uranographen der „Abendsterne“, damit die große Masse der Wähler sich ein Bild von jedem Erwählbaren machen könne. Das wiederholte sich allabendlich und dauerte seine Zeit. Dann erst erfuhr das Volk das festgesetzte Datum des Wahlaktes. Was es aber nicht erfuhr, war der Umstand, ob derjenige als gewählt zu betrachten sein werde, der die meisten, oder derjenige, welcher die wenigsten Stimmen auf sich vereinigte. Das entschied ein kleines Gremium von Chronosophen und Geistesforschern. So aber blieb es dem Wähler verborgen, ob er durch seinen Stimmzettel den Erkorenen in das Schilderhaus des höchsten Weltranges bugsierte oder es ihm verschloß. Wenn mir diese Frustration des Wählers jetzt nach meiner Rückkehr oft unbegreiflich erscheinen will, damals, das heißt dereinst in fernster Ferne, als ich sie zum erstenmal aus dem Munde des Fremdenführers vernahm, entzückte sie mich wie ein kühn erratenes Rätsel oder die elegante Lösung eines schwierigen mathematischen Problems.
Als ich vorhin das Wort „Schilderhaus“ in Verbindung mit dem Worte „Welthausmeier“ vernommen hatte, da war in mir der Gedanke entstanden, daß die Machtfunktion in ihrem obersten Vertreter sichtbar und sinnbildlich erniedrigt werden sollte. Ich erwähne diese falsche Anwandlung nur, um die ehrfurchtgebietende Wirklichkeit des Mächtigen, der unter der Macht litt, des Ehrenreichen, der keine Ehre wollte, deutlicher hervorzuheben, denn schon war der Fremdenführer in der Hoheitsbaracke verschwunden, und meine Hausgruppe schob mich ihm nach mit sanftem Drucke durch die offene Tür in die bräunliche Dämmerung hinein. Ich unterschied zuerst zwei kleine Lämpchen auf dem Fußboden, zwei Nachtlichter, Totenlichter hätte ich beinahe gesagt, deren Schein sich kaum durch die Dämmerung arbeiten konnte. Es waren die ersten „natürlichen“ Lichtquellen, die ich in dieser Welt der unsichtbaren und differenziertesten Beleuchtungsarten zu Gesicht bekam, flache Schnabellämpchen antiker Fasson, wie man sie in Babylon und im ältesten Rom verwendet haben mochte, ölgefüllte Gefäßlein, in denen ein Docht schwamm. So floß in schwachem Funzelschimmer an dieser Stätte des gegenwärtigen Geoarchonten das unnennbar Antike mit dem unnennbar Modernen zum ewig Menschlichen zusammen. Dies war vermutlich zu sinnbildlichem Ausdruck nicht anders beabsichtigt, denn nichts ist hartnäckiger im ewig Menschlichen als der Wunsch, der Wirklichkeit eine doppelte Bedeutung zu geben und den platten Dingen einen göttlichen Hinterhalt zu legen. Die sogenannten realistischen Zeitalter, die von der göttlichen Doppelbedeutung der Realität mit Erbitterung nichts wissen wollen, das zwanzigste Jahrhundert zum Beispiel, in welches ich aus des Geoarchonten Schilderhaus inzwischen heimgekehrt bin, werden von ihrer sinnentleerten Realität zerfressen wie von Schwefelsäure.
Jetzt begann ich deutlicher zu sehen. Zwischen den beiden archaischen Lämpchen aus Alt-Rom oder Babylon wuchs das Ruhelager des Weltregenten zu Beginn des zweiten Jahrhunderttausendes gegen den Hintergrund des engen Wachtlokals massig aus dem Dunkel. Das Kopfende war ziemlich hoch gebaut, so daß man die schlafende, in die violetten Ehrenschleier ihres Herrscheramtes gehüllte Figur darauf von Kopf zu Füßen überblicken konnte, und das Gesicht in seiner alterslos gelblichen Elfenbeinfarbe immer deutlicher hervortrat wie bei einem Aufgebahrten. Ja, er schlief, der wichtigste und hervorstechendste Mann dieser Zeit, der einzige Namenlose und daher mit sich selbst nicht Identifizierbare unter den lebendigen Ios, ihr ungekrönt gekröntes Haupt. Er schlief, wie sich’s für einen Seleniazusen gebührte, gleichmäßig atmend, doch mit halboffenem Mund. Man sah sogleich, daß dieser Schlaf nicht die übliche Schwäche unsrer gefallenen Natur war, die Erholung und Erquickung braucht, sondern eine Art von amtlichem Schlaf, währenddessen ein Teil der für mich undurchdringlichen Regierungsgeschäfte erledigt wurde. Ich mußte an die Zusammenstimmer auf ihren Strecksesseln unter der dicken Glaskuppel denken, an jene hohen Beamten, welche den mentalen Reiseverkehr der Menschheit in Übereinstimmung zu bringen hatten. Auch sie taten’s im Schlaf, mehr als das, kraft ihres Schlafes, obgleich ihr Amt an Rang, Würde und Wert tief unter dem des Weltoberhauptes stand. „Die Verwendung des Schlafes für erhöhte geistige Lebenstätigkeit“, dies enthüllte sich mir jetzt als ein völlig unbekanntes und unerklärliches Gebiet, auf dem der Mensch einen seiner bisnun größten Fortschritte gemacht hatte. Wir, ich meine den Leser und mich, wir verschlafen von unsern durchschnittlichen siebzig Jahren ein Drittel, das sind ungefähr dreiundzwanzig Jahre, wodurch eine schon recht hoch gerechnete durchschnittliche Lebensdauer auf die unbeträchtliche Zahl von siebenundvierzig Jahren zusammenschrumpft. Diese hier jedoch hatten es gelernt, während ihres Schlafes mehr zu sein als bestenfalls die Beute irgendeines träumenden Scheinlebens. Sie wirkten durch ihren formenden Geist, während sie ohne Bewußtsein zu sein schienen, nicht minder auf das Geschehen ein, als würden sie wachen. Sie lebten daher die hundertachtzig oder zweihundert Jahre ihres Erdenwandels ohne Abzug.
Ehrfurchtergriffen und kaum wagend zu atmen, vertiefte ich mich jetzt in das mondensanft leuchtende Gesicht des hohen Schläfers. Ureinst, in den Anfängen der Menschheit, einen Schläfer zu überraschen, das war stets eine sehr geschämige Sache gewesen. Davon gibt uns schon die biblische Geschichte Kunde, denn die Söhne Noahs überraschten diesen im weinbeschwerten, unruhigen Nachmittagsschlaf, wobei sie den Vater verspotteten und in unerhörtem, aber sehr charakteristischem Frevel seine Scham entblößten. Das soll bedeuten, daß der alte Schlaf (der Schlaf meiner Leser und der meinige) etwas war, in dem das Verhüllte aufgedeckt wurde, das uns so wohlbekannte „Unbewußte“, die wüste Vegetation, der Dschungel, das säuische Getümmel des inneren Lebens, über welches der Mensch nicht nur nicht Herr war, sondern das ihn jagte und hetzte durch das weglose Gestrüpp seiner selbst. Ach ja, jeder von uns antiken Schläfern glich dem um seine Achse bewegten noch jugendlichen Erdplaneten, im Inneren voll kochenden Magmas, außen übersät mit Millionen Pflanzenarten, über welchen Millionen Insektenarten hin und wieder taumelten, über welchen zehntausende Vogelarten sich wiegten, die hinabsahen auf bunt wogende Länder und Menschen. So reich an Vegetation, an unübersehbarem Formengewurle, an ungebahnter Unbewußtheit waren wir ureinst. — Wir sind es noch immer, meine Lieben, Gott sei Dank. Denn dieses Ureinst ist ja unser Jetzt. Wo meine Hand schreibt, da ist dieses Jetzt, wenn auch mein sich rückerinnernder Geist dem Jetzt um Jahrzehntausende vorausflügelt. — Dort aber, wo mein sich rückerinnernder Geist der Zeit vorausflügelt, hatte der Erdball selbst sich verändert. Er war eingeebnet und plan geworden. Es gab keine Berge und keine Vögel mehr. Es gab nur eine einzige Menschenrasse, und sogar die Hundeschaft hatte die Natur zu einer Generalsorte hinunterrationiert. Der Prozeß der Verkargung, den der Erdplanet, selbst ein belebtes Wesen, durchgemacht hatte, war zugleich ein Prozeß der Abstraktion, Abstraktion aber, Überwindung der Erfahrungsfülle durch den Begriff, ist Vergeistigung. Bei dem Prozeß der Abstraktion, der Vergeistigung des Erdplaneten, hatte auch der Mensch mitgehalten. Das heißt nicht gerade, daß er gescheiter geworden wäre; Sophistes Io-Sum und Io-Clap waren sogar viel weniger gescheit und auch denkschwächer als zum Beispiel Aristoteles oder der Aquinate. Das Reich des Unbewußten im Menschen aber war schmäler und gebahnter, und er schlief einen andern Schlaf.
Der hohe Herr dort, der seinen Namen bei der Investitur hatte drangeben müssen, schlief einen Schlaf von Alabaster, so dünn und durchsichtig lag auf seinem Gesicht eine Schicht von anwesender Abwesenheit. Unter dieser diaphanen Schicht schien er in einem Höchstgrad gelassener Konzentration an der Seele der Welt und an seiner eigenen Seele zu arbeiten. Es ist noch jetzt, in der Erinnerung, ein unvergeßlich bewundernswerter Anblick für mich. Selbst Bräutigam Io-Do, der sich vor dem Denkmal des Letzten Krieges der Drohung vermessen hatte, er werde den Welthausmeier persönlich wecken, stand versunken da und schwieg wie auf Zehenspitzen. Aus einem solchen Schlafe voll tief- und weitblickendster Überwachheit mußte niemand geweckt werden, das sah man. Hinter dem Kopfende des Lagers standen zwei dienstbereite Mutarianer. Rechts neben dem Schläfer wartete, horchend geneigt, der spiegelnde Kahlkopf des Fremdenführers. Links vom Schläfer wartete, ebenso horchend geneigt, ein andrer spiegelnder Kahlkopf; vermutlich der Zeremonialdirektor vom Dienst.
Plötzlich öffnete der Schläfer die Augen. Es waren herrliche dunkle, versunkene Geistesaugen, schöner als ich sie je gesehen hatte, doch bis zum Rande gefüllt von einer unbeschreiblichen Trauer. Wie? Diese von Trauer strahlenden Augen überwachten eine Welt, die im reinen zwecklosen Spiel ihr höchstes Ideal sah? Plötzlich fuhr ich zusammen, denn die Augen des Namenlosen sahen mich forschend unverwandt an, schon eine ganze Weile.
„Euer Exzellenz“, begann der Kopf zur Linken, „die Stunde des Tagesorakels ist gekommen. Der Uranograph wartet . . .“
Das Oberhaupt des Planeten gab keine Antwort. Das Wort hieß natürlich ebensowenig „Exzellenz“ wie es vorher „Professor“ geheißen hatte. Es ist nichts als eine schlechte Übersetzung.
Nun ertönte die heisere Rednerstimme des Fremdenführers dieses Zeitalters:
„Euer Exzellenz: Seigneur, aus den Anfängen der Menschheit, ist eingetroffen, um für seinen Preisspruch in der größten Streitfrage aller Zeiten das Ehrenzeichen aus den Händen von Euer Exzellenz zu empfangen.“
Die Augen des Geoarchonten sahen mich unverwandt an, und als sprächen sie allein, und nicht die sanfte, etwas zu hohe Stimme, hörte ich:
„Die Fremde, die in die Heimat kommt, macht sich selbst nicht heimisch, die Heimat aber fremd.“
Dies war ein hübsches Tagesorakel, wie es verfassungsmäßig jeden Abend in den „Abendsternen“ veröffentlicht werden mußte. Es war so ziemlich im Stil der antiken Dunkelsprüche abgefaßt, doch recht leichthin und trocken gesprochen worden, so etwa wie ein königlicher Richter mit murmelnder Routine sprechen würde: „Ich eröffne hiemit die Verhandlung im Namen Seiner Majestät, des Königs.“ Noch ahnte ich nicht, daß es sich um keine leere Zeremonie handelte, sondern um eine Weissagung, welche über mich erging, und deren Richtigkeit ich an mir selbst erfahren sollte. Der Namenlose hatte ein Zeichen gemacht. Daraufhin leierte der Kahlkopf zur Linken ein Doppelverschen herunter:
„ Der Schläfer verläßt sein Emporium.
Feinfühliger Zeuge, drehe dich um.“
Ich sah, daß alle sich umdrehten. Da ich etwas verwirrt war, mußte mir B.H. einen Schubs geben, damit ich dasselbe tue. Es gehörte nicht zur guten Sitte, hinzuschauen, wenn eine würdige oder gar bedeutende Persönlichkeit sich von ihrem Lager erhob. Der Übergang von einer körperlichen Haltung in die andre galt, außer im Falle frischester und unbedenklicher Jugend, für unschön und beschämend. Jetzt leierte der Kahlkopf zur Linken ein zweites Doppelverschen, das uns Seiner Exzellenz wieder zukehrte; ich müßte mir aber dieses Verschen, das ich vergessen habe, aus den Fingern saugen, und das will ich gerade in dieser Erzählung am strengsten vermeiden.
Obwohl ich mich nach letzterem Doppelverschen wieder umgedreht hatte, hielt ich meinen Blick noch immer niedergeschlagen, um des hohen Seleniazusen tiefe Geniertheit und sein beklommenes Rührmichnichtan, von dem die Luft fühlbar zitterte, nicht zu verletzen. Als ich den Blick nun hob, sahen mich die wundertraurigen Augen noch gespannter und unverwandter an, denn die trotz ihrer Behäbigkeit zierliche Gestalt in violetter Schleierraffung hatte sich mir genähert. Ich wußte jetzt, daß mein Blick dem seinen standhalten mußte. Es war nicht leicht. Nach und nach aber fühlte und wußte ich, daß die überfüllten Wunderaugen zu mir sprachen. Dies ist nicht nur die übliche Romanphrase, die Augen des Erdoberhauptes sprachen wirklich zu mir in der Augen- und Gedankensprache. Da die Monolingua jedermann verstand, die stumme Augen- und Gedankensprache aber nur der jeweils Angesprochene, so schien sie im Laufe der Zeiten zur einzigen Möglichkeit ausgebildet worden zu sein, einander diskrete Mitteilungen zu machen und Geheimnisse anzuvertrauen. Nach einigen nervösen und angestrengten Augenblicken verstand also auch ich, Urtölpel, oder glaubte zu verstehen, was der Major Domus Mundi mir anzuvertrauen hatte. Es war ziemlich peinlich für mich und hieß, in artikulierte Sprache übertragen, ungefähr wie folgt:
„Warum sind Sie hergekommen, Seigneur? Es ist nicht nur ungesund für Sie, sondern auch für uns, was ich in der Antithese meines Tagesorakels bereits ausgedrückt habe.
Der Mensch ist nur das Geschöpf seines Jahrhunderts und nichts andres als dies. Er gebe sich ganz und gar hin dem im Bestehen Fortschmelzenden, das er Gegenwart nennt. Wenn er als Historiker die Vergangenheit besucht im Moder-Raum der Dokumente und Grabschriften, dann ist es schon ein leichter Frevel, denn die Vergangenheit des Geschichtsgierigen kann niemals die echte Vergangenheit sein. Wenn er aber seine Nase in die Zukunft steckt, in den Moder-Raum der absoluten Leere, in welcher es keine Dokumente und nicht einmal Gräber gibt, dann ist es ein sehr großer Frevel, ja eine Sünde vor Gott, möge ihm auch Wahrtraum oder Tod dies und jenes Richtige zuflüstern . . .“
Es war, wie man mir zugeben wird, in der Tat mehr als peinlich, was ich durch die Sprache dieser Traueraugen da immer deutlicher zu verstehen bekam. Es war klipp und klar ein Hinausschmiß. Das Weltoberhaupt gab mir das Consilium Abeundi aus einer Gegenwart, in die ich durch eine falsche Tür eingetreten war. Wie recht hatte der Geoarchont. Ich gehörte nicht hierher. Aber war’s meine Schuld? Was sollte ich tun? Ich konnte nichts dagegen tun, wie meine Leser schon wissen, denn zu zerfließen hatte ich nicht gelernt. Was ich hingegen tat, war etwas äußerst Ordinäres. Ich deutete nicht nur mit lebhaftem Augenspiel, sondern mit effekthaschendem Kopf- und Fingerwink auf B.H., den Wiedergeborenen, indem ich alle Schuld für meine Anwesenheit in dieser verbotenen Gegenwart im Elften Weltjahr der Jungfrau auf ihn abwälzte. Gewiß, er war schuldig, bewußt oder unbewußt, indem er meinen Namen aus dem Alphabet gestochen hatte, B.H.s Schuld bedeutete aber keine Entlastung für mich. Darf man denn gegen seinen alten Mitschüler und besten Freund eine solche Felonie begehen, daß man ihn mit dem winkenden und stechenden Zeigefinger beim Vorstand anzeigt, sei’s auch in einem Fall, wo er schuldig und man durch seine Schuld ins Gedränge gekommen ist?
Ich weiß nicht, wie viel der hohe Seleniazuse von dem allen bemerkt hatte. Seine Augen waren meinem Zeigefinger nicht gefolgt. Sie ruhten weiter auf mir mit schöner und unbeschreiblicher Traurigkeit, ohne mehr zu sprechen. Sie wandten sich auch dann nicht ab, diese Augen, als die Hände des Geoarchonten plötzlich einen langen Einriß in seinen violetten Gewandschleier machten, ähnlich wie es die Orientalen noch heute tun, wenn sie einen Toten beklagen. Ich verstand die Bedeutung dieser zeremoniellen Handlung nicht sogleich. Erst als der Fremdenführer und meine andern Begleiter mir mit entsprechenden Gebärden und Blicken zuwinkten, streckte ich meinen linken Arm mit der schmachvoll aufgerauhten Hemdmanschette dem Welthausmeier entgegen. Die traurigen Wunderaugen gaben mich frei. Überschmale, ein wenig zitternde Elfenbeinhände aber befestigten einen Streifen des violetten Gewandschleiers lose an meinem linken Handgelenk. Ich hatte hiemit eine hohe Auszeichnung empfangen. Die violette Ehrenschleife sicherte mir die beste Behandlung, ja die unbedingte Bevorzugung durch die Zeitgenossen, welche nicht die meinen waren. Sie war zweifellos bedeutsamer als der provinzielle Orden an meiner linken Brustseite. Diesen hatte ich immerhin hierher mitgebracht. Würde es mir möglich sein, die Ehrenschleife dorthin als Beweisstück mitzubringen, wohin ich von hier würde gehen müssen? Während der ganzen Zeit, welche ich in der Gegenwart der fernsten Zukunft verbrachte, kam mir nicht ein einziges Mal der Gedanke, ich sei hier nicht nur auf flüchtigen Besuch, sondern könnte mich bleibend ansiedeln. Wohin aber werde ich von hier gehen müssen? Da ich aus dem Tod kam, wie ich glaubte, so werde ich doch wieder nur in den Tod gehn müssen, samt Orden und Schleife. B.H. also war dafür verantwortlich, daß ich zweimal sterben mußte. Recht geschieht ihm, dachte ich jetzt höhnisch, daß ich vorhin mit Fingern auf ihn gezeigt habe.
Ich sah das namenlose, mondgeweihte Welthaupt eifrig an, um mir den Adel dieses Antlitzes einzuprägen für immer. Es tat mir leid, daß ich es nicht mehr sehen sollte. Ich konnte ja nicht wissen, daß ich es noch einmal sehen sollte, in tragischer Stunde.