Читать книгу Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman - Franz Werfel - Страница 9

FÜNFTES KAPITEL

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Worin ich an einem Festmahl teilnehme, von einem Hund angesprochen werde und mich ahnungslos einem heiklen Thema nähere.

WIR GINGEN durch die Flügeltür in ein von etwas klarerem Lichte erfülltes Nebengemach, nicht anders, als in der Vorzeit eine Gesellschaft es tat, wenn sie zu Tisch gerufen wurde. Erstaunlicherweise war das Zimmer mit dem großen Familientisch nicht das Eßzimmer, sondern dieses hier, das weder Tisch noch irgendeine Sitzgelegenheit besaß. In der Mitte des Raumes erhob sich, von einem runden und niedrigen Gitter umgeben, aus einer flachen Vertiefung eine rötlich schimmernde Skulptur. Es war ein abstraktes Kunstwerk, das kein erkennbares Lebensbild darstellte. Am ehesten glich es einem süß elegisch geneigten Doppelkristall, wobei der größere Kristall den kleineren überragte wie die Mutter das Kind auf ihrem Schoß. Je mehr ich hinsah, um so unzweifelhafter wurde auch das abstrakte Kunstwerk zur Madonna mit dem Bambino, ein Vorwurf somit, für den hunderttausend Jahre waren wie ein Tag. Je mehr ich übrigens mich in die Skulptur vertiefte, um so klarer, ebenbildlicher, formenschöner schien sie zu werden. Sie besaß demnach die Eigenschaft, den Eindruck, den sie im Betrachter hervorrief, während der Betrachtung zu verwandeln, zu klären, zu intensivieren. Ich beschloß aber sofort, diesem Werke keine zu genaue Beachtung zu schenken und mich durchaus nicht in ein Gespräch über Kunst einzulassen. Denn erstens war es zu früh dazu im Zuge meiner Forschungsreise. Zweitens hatte ich vielzuviel unmittelbares Leben vor mir, um mich dem mittelbaren und abgespiegelten Leben hinzugeben. Und drittens war ich hochmütig genug zu glauben, daß ich auf dem Gebiete der Kunst nicht viel Neues erfahren würde. Auch hatte ich ja keine andere Erinnerungstafel als mein schwaches Gedächtnis, in das ich nicht allzuviele Einzelheiten eingriffeln wollte. Ich war willens, meine ganze Aufmerksamkeit den Menschen hier zu weihen und nur den Menschen. Beim Eintritt in das neue Gemach mit seinem klareren und bestimmteren Licht hatte man den zartgestalteten, nackten Persönlichkeiten weiche und mattfarbige Schleierstoffe gereicht, die sie, beinahe nach Art gewisser griechischer und römischer Plastiken, schönfaltig um ihre Körper warfen.

B.H. hatte sich jetzt dicht an meine Seite gespielt. Er flüsterte mir in eilig scharfem Kommentar zu, daß es keine größere Ehre für einen Gast gebe, als zu einem Festmahl geladen zu werden. Das Essen, soweit es nur Genuß und Ernährung sei, gelte als eine völlig private Tätigkeit. Im allgemeinen speise man so wenig in Gesellschaft, wie man das Gegenteil in Gesellschaft tue. Selten mehr als zwölfmal im Jahre werde ein gemeinsames Gastmahl zugerichtet, das aber stets auf eine sakrale Ursache oder einen zeremoniösen Zweck zurückzuführen sei: Feiertag oder Taufe, Trauungszeit oder Abscheiden (mir fiel hier zum erstenmal auf, daß B.H. statt des einfachen Wortes „Tod“ den geschraubten Euphemismus „Abscheiden“ verwendete). Die Einrichtung des religiösen Opfermahls, dachte ich, hat sich, wie es scheint, nicht nur erhalten, sondern ist lebendiger als zu meiner Zeit, zur Zeit vor meinem Tode, und ich dachte das Wort „Tod“ wörtlich wie zum Trotz.

B.H. warf mir unruhige Blicke zu aus seinen weichen, dunklen Augen, mir so vertraut aus unsern einstigen Schultagen. Ich verstand, daß er hier keine leichte Rolle spielte. Er selbst war ein Außenseiter, wozu er, seit ich ihn kannte, geboren schien durch seine feine und empfindliche Geistesart. Schon sein Aussehen und sein Anzug, Felduniform mit Wickelgamaschen, bewies, daß er nicht hierhergehörte, in die soeben verfließenden Zeitläufte. Andererseits aber war er das Medium, der Vermittler zwischen diesen soeben verfließenden Zeitläuften und unsern äußerst entlegenen und schon vor meinem Tode verflossenen. Er hatte den holden Leuten hier das gewiß nicht häufige Vergnügen bereitet, einen abgeschiedenen Geist der fernsten Vergangenheit in voller und durchaus nicht nur ekdoplastischer Erscheinung mit Frack und Orden bei sich empfangen zu können. Als Agent, der zwei Gegenparte zugleich vertreten mußte, fühlte er sich für beide verantwortlich, man wird das verstehen. Er wurde nervös, wenn ich den Mund auftat oder ein Schrittchen machte, immer einer neuen Entgleisung meinerseits gewärtig. Ich konnte ihm seine Ängstlichkeit nicht verargen, denn vielleicht hing von dem Erfolge des Unternehmens nicht wenig für ihn ab. Erweckte meine Erscheinung Befriedigung, Beifall, Sympathie oder gar gemütliches Wohlbehagen, flößte ich meinen Gastfreunden das muntere Gefühl ein, wie weit sie die alte urständige Welt, aus der ihr Besuch hereingeschneit kam, überflügelt hatten in dieser modernen Gegenwart, dann verbesserte sich die Stellung des Außenständers aufs vorteilhafteste. Vermutlich durfte er nach einer erfolgreichen Abwickelung dieser Visite einer wärmeren Form der Aufnahme und schließlich der vollen Einbürgerung hoffend sein. Ich bemerkte, und dies nicht ganz ohne Mißbilligung, daß der tibetanisch geschulte Wiedergeborene dem Kreise, in dem wir uns befanden, einen Schatten zu viel Demut und Verehrung erwies, wodurch er dessen Überlegenheit zuungunsten unseres einstigen gemeinsamen Zeitalters allzu geflissentlich betonte. Dies aber war nur die eine Seite seines nervösen Eifers, denn nicht minder brannte er darauf, mich, den alten Jugendgefährten, den Zech- und Diskussionskumpan verrauschter Nächte bis in den Morgen hinein, von der Höherwertigkeit einer Welt zu überzeugen, in die er mich unversehens aus der Todesnacht gelockt, zitiert und eingeführt hatte. Das war mir nicht neu an ihm. Wie oft hatten in den Gesprächen unserer Tage seine Augen mich gebeten, seinen Göttern zu dienen, das heißt eine Lehre, ein Buch, ein Bild, einen Autor, eine Musik, für die er schwärmte, selbst für einen Gipfel zu halten und zu erklären. So wurde der arme B.H. im Dienste der Sache zwischen Anfang und Ende, zwischen den Polen eines ganzen Jahrhunderttausends hin und her gerissen.

Io-Rasa, die Mutter der Braut, hatte nun mit einer anmutigen, ja preziösen Geste die Versammelten zum Mahle eingeladen. Ich kann nicht sagen, auf welche Weise mir die Namen der Persönlichkeiten hier bekannt wurden. Die Übergänge meiner Erlebnisse verwischten sich manchmal. Ich tat was alle andern taten. Wir stellten uns im Kreise um das Bildwerk auf. Die Festesmahlzeiten wurden stehend eingenommen. Auch hierin dürfte ein gedankenvoller Geschichtsforscher nur eine logische Entwicklung erkennen. Die antiken Völker, einschließlich noch der Griechen und Römer, hatten, auf Diwans ausgestreckt, ihren übermäßigen Tafelfreuden gehuldigt. Wir zu unserer Zeit, nicht viel mehr als sechs- oder siebzehnhundert Jahre nachher, pflegten auf Stühlen, am besten mit bequemen Lehnen, ein rundes Stündchen zu sitzen, wenn ein Diner serviert wurde. Diese hier standen. Da sie jedoch einen zarten, wenn auch lieblichen Körperbau besaßen, wären sie bei einem unserer normalen gesellschaftlichen Mähler glatt zusammengebrochen, ehe noch das runde Stündchen um war. Es mußte daher alles flink und flott gehen, um die verfeinerten Glieder der jüngsten Menschheit, die zugleich die zuhöchst gealterte war, nicht zu überlasten. Die antike Todsünde der Völlerei hatte ja schon in meinen Tagen der salatessenden Magerkeitsfanatiker auszusterben begonnen. Zuerst liegen beim Essen, dann sitzen, und endlich stehen, das nenne ich eine Klimax der Aufrichtung.

Wir umgaben also in einem Kreis das abstrakte Kunstwerk, das die Aufgabe zu haben schien, die Augen und die Seelen zu erfreuen, während der Körper die Speisen genoß. (Man wird aber sogleich sehen, wie veraltet ich dachte, wenn ich meinte, daß nur der Körper die Speisen genoß und im Gegensatz dazu Augen und Seele eine ästhetische Korrektur brauchten.) Es wurde eine Tischordnung innegehalten, ohne daß es einen Tisch gab. Die übliche Tischordnung übrigens. Der Ehrenplatz zur rechten Hand der Hausfrau und Brautmutter Io-Rasa wurde mir, dem exotischen Gaste, zugewiesen. Zu meiner rechten Hand stand eine Dame in unverwüstlicher Jugendschöne, welche man „die Ahnfrau“ nannte und mit ausgesprochener Ehrfurcht allseits behandelte. Es war die Ururgroßmutter des Hausherrn und Brautvaters Io-Fagòr, nun bald an der Grenze des Lebens angelangt. — Die lange Lebensdauer brachte es mit sich, daß oft fünf und sechs Generationen nebeneinander blühten und gediehen. Der Bibelkenner, der die Geschlechtsregister bis zur Sintflut im Gedächtnis hat, wird sich darob nicht verwundern oder gar Ärgernis nehmen. Die geringere Menschenzahl und das längere Leben standen auch jetzt und hier in einem schlüssigen Verhältnis, das am Alten Testament jederzeit nachgeprüft werden kann. — Älter als die Ahnfrau rechter Hand war rund um diese nicht vorhandene Tafel vielleicht nur noch der Wortführer, der lebhafteste und quickest beredte Mann. Ja, diese Junggesellen, die recht eigentlich ein parasitäres Dasein führten, verdienten sich ihren Unterschlupf durch Witz, Vielwissen, Erzählerlust, Unterhaltsamkeit und kavaliersmäßig umständliche Galanterie, wodurch sie jeden Historiker teils an die Sykophanten Athens, teils an die Abbés des ein wenig späteren achtzehnten Jahrhunderts gemahnen sollten, die ja allesamt auch nur Outsider und Mitesser der Gesellschaft gewesen sind. Ich, weiß Gott, war leider kein Historiker noch sonst ein gelehrter Kopf und bedauerte die vielen hundert Schulstunden, die ich, fauler als B.H., geschwänzt hatte, um, von Lebensneugier besessen, durch die alten Straßen unserer Heimatstadt zu flanieren und in kleinen Wirtshäusern Bier zu trinken und Billard zu spielen. Wie viel Fragen brannten mir nun auf der Zunge, die ich B.H. hätte zuflüstern mögen. Dieser stand aber am andern Ende des Kreisdurchmessers und wurde mir durch das abstrakte Kunstwerk verdeckt. Ich empfand es mehr als rücksichtslos, daß man einen zitierten Geist des Altertums zwischen zwei Tischdamen der Gegenwart placiert hatte, anstatt ihm seinen Mentor oder Vergil hilfreich zur Seite zu stellen.

Nach und nach hatte ich mich mit dem Phänomen der Lebensdauer abgefunden. Aber wie sollte ich mir erklären, daß diese Körper überhaupt nicht alterten und sich veränderten, nicht einmal an der Grenze des äußersten Greisentums? Die Ahnfrau neben mir hatte dieselben kleinen, festen Brüste wie irgendein junges Mädchen. War da eine unbekannte Begnadung der Natur im Spiel, unausdenkbar für frühere Zeitläufte, eine willensstarke Diät, von jung auf geübt, oder nur eine ganz und gar durchtriebene Kosmetik? Ich muß gestehen, diese Alterslosigkeit erfreute mich durchaus nicht, sie erschreckte mich, sie bedrückte mich, sie war mir unheimlich wie ein verborgener Frevel, wie der Ausfluß einer ungeheuerlichen, höchstgezüchteten Sündhaftigkeit, die mit zielbewußt härtestem Egoismus das wahre, dichtgefügte Leben für ein endloses Scheinleben preisgab. Die Ahnfrau duftete wundervoll nach einem ganz leisen Wohlgeruch ihres Fleisches. Dennoch vermied ich es, sie anzusehen. Ich drehte und wendete mich hilfesuchend, um B.H.s Gesicht ins Blickfeld zu bekommen.

Es gelang mir nicht, denn Io-Rasa, die Hausfrau, reichte mir einen Becher aus dickem Kristall. Das Mahl hatte begonnen. Es bestand aus sechs Gängen, von denen jeder in andersfarbigem und andersgeformtem Kristall gereicht wurde, dessen Hohlraum nicht viel größer war als der eines Eierbechers. Man merkt somit bereits, daß die Speisenfolge aus einer Reihe von Getränken bestand, aus drei sehr heißen und drei eiskalten. Die heißen hellrosa, ziegelfarben und bouillonbraun, die eiskalten pistaziengrün, safrangelb und cremeweiß. Dieses flüssige Menü half mir über eine verlegene Angst hinweg, die mich die ganze Zeit bedrängt hatte, daß ich nämlich mit unbekanntem Bestecke werde hantieren müssen. Dennoch sah ich den Leuten getreu auf den Mund. Sie nippten mit prüfenden, winzigen Schlücklein vom Becherrand, sehr nachdenklich, sehr träumerisch und schweigsam. So schlückerte ich denn auf dieselbe Weise das Gebotene.

Mit einiger Phantasie hätte ich schon vor dem Mahle folgern müssen, daß die feste Nahrung dem Menschengeschlechte längst abhandengekommen sei. Die bloße Vorstellung, sich vom toten Fleische zu nähren, hätte in meinen Gastfreunden wahrscheinlich ein krasseres Grauen erweckt als in mir die Vorstellung, ein Menschensteak mit Zuhilfenahme von Worcestersauce verschlingen zu müssen. Ihr Grauen aber schien sich nicht nur auf Fleisch zu beschränken, sondern ebenso auf Pflanzennahrung zu erstrecken, auf den Genuß jeder kreatürlichen, jeder geschaffenen Form und darüberhinaus sogar auf das Verzehren künstlich hergestellter Formen, als da sind Kuchen, Backwerk, Torten und so weiter. Wie weit bei dieser radikalen Entwicklung der Ernährungsgeschichte die Notwendigkeit mitwirkte, die Zähne zu schonen, konnte ich nicht erforschen. Ich wußte jedoch, daß nächst den Haaren der Abnutzungskoeffizient einer hochgereiften Natur am meisten die Zähne gefährdete. Immerhin, die Zähne, die ich sah, blitzten vor Schmelz und waren gewiß nicht künstlich. Man genoß somit nichts anderes als drei salzig-suppige, zwei fruchthaft-klare Gänge und zum Abschluß einen milchigdicklichen Trank, dies alles in den denkbar kleinsten Portionen. Nicht sofort verstand ich, warum diese Portionen so klein sein mußten. Ich gestehe, es war für mich anfangs überhaupt ein ziemlich unverständliches Essen, nein, Trinken, nein, Nippen oder Naschen.

Ich habe vorhin das altmodische und affektierte Wörtchen „schlückern“ gebraucht, wahrscheinlich, um damit mein Mißtrauen auszudrücken, daß die dargereichten Säftchen, die man beinahe nur tropfenweise schluckte, ihren Mann ernähren könnten, und sei er auch nur ein stattlicher Revenant wie ich. Bald jedoch sollte ich eines besseren belehrt werden. — Alles Essen, das wir zu uns nehmen, hat eine zwiefache Bedeutung. Es führt erstens unserm Geschmackssinn ein Erlebnis zu, und es befriedigt zweitens das Verlangen des Körpers nach Kalorien. Das Geschmackserlebnis hat es nur mit der Substanz einer Speise zu tun, die Befriedigung des Verlangens nur mit der Materie derselben Speise. Es besteht ein unzweifelhafter philosophischer Unterschied zwischen Substanz und Materie, denn die Materie ist nichts als Materie, die Substanz aber ist gestaltete Materie, Materie zur Potenz einer Wesensidee erhoben. Um ein Beispiel anzuführen: das Wasser ist Materie, das Meer ist Substanz. Einst — ich spreche von der Zeit vor meinem längst verschollenen Tode ―, einst übertraf die bei uns bei Tisch servierte Materie bei weitem die Substanz, das heißt, man mußte eine ganze Menge Fleisch essen, um das Geschmackserlebnis eines gebratenen Rehrückens durchgenießen zu können. Dieses Verhältnis hatte sich in der abgelaufenen Zeit aufs wundersamste umgekehrt. Es wurde uns hier ein Maximum von Substanz in einem Minimum von Materie serviert. Und weil bereits vom Meere die Rede ging, so muß ich es verkünden, daß der zweite Gang, jenes ziegelrote Süppchen im dicken Kristall, das Meer an sich war. Wohl richtig, auch zu meiner Zeit hatte ich vom Meere, von der Wesensidee des Meeres so manchen Bissen und Schluck verkostet. Was sind schließlich ein Dutzend Whitestable Austern, mit dem richtigen Chablis dazu, anderes als die Substanz „Meer“? Enger noch, die Wesensidee „Nordsee“? Und das Scherenfleisch eines Helgoländer Hummers mit seiner impertinent äquivoken Süßigkeit, die sich erst im Nachgeschmack ganz preisgibt? Und die billigen Portuguèses, Oursins, Violettes, die man an den Straßenecken aller südfranzösischen Häfen den ganzen lieben Tag lang feilbietet? Sind sie mit ihrem Algen- und Tangduft nicht das personifizierte Mittelmeer, diese ordinären Portuguèses? Und eine Bisque d’Hommard bei Prunier in Paris? Und eine Bouillabaisse in einem Fischerdorf zwischen Marseille und Toulon? Und eine Grancevola, eine Meerspinne, in einer venezianischen Taverne, mit ein wenig Essig und Öl und Pfeffer verabfolgt? Sie ist nicht nur Meer und Mittelmeer, sie ist eine noch näher bestimmte Substanz, die Adria. — Und doch, in den wenigen Tropfen des ziegelroten Saftes genoß ich das alles zusammen und auf einmal, und zwar auf eine schwerelose und gar nicht beschreibbare Art. Jeder der sechs Gänge entfaltete sich so zu einer geistigen Einverleibung, zu einer erkennenden Einversinnlichung bedeutsamer Substanzen kraft des Geschmackes. Man nahm ein Schlückchen zu sich, zwei, drei Tropfen. Diese Tropfen zergingen auf der Zunge und verbreiteten ihre Wärme oder Kälte, je nachdem, durch den ganzen Organismus wohlig bis in die Finger- und in die Zehenspitzen. Jetzt wurde es mir auch klar, warum man beim Essen stand, nämlich um dem Lustbehagen leichtere Möglichkeit zu geben, sich den feinsten und fernsten Nervenenden mitzuteilen. Zugleich aber mit der physischen Lust durchdrangen die angenehmsten Vorstellungs- und Bilderreihen den Geist, so daß ich wie alle andern Teilnehmer allgemach jedem einzelnen Tropfen dieses wahrhaft mentalen Mahls nachhing, nachsann, nachträumte. Zu meiner Zeit hatten allein die Hochmusikalischen mit ähnlicher Einversinnlichung etwa einer Orchesteraufführung von Debussys „La Mer“ beigewohnt, mit welcher derzeit ein Diner eingenommen wurde.

In den Pausen des Essens, so wollte es wahrscheinlich die Sitte, hielten der Wortführer, der Hausweise und der Beständige Gast längliche Reden, die ohne Zweifel an mich gerichtet waren, da ich öfters das Wort „Seigneur“ ausnehmen konnte. Ich begriff so gut wie nichts davon. Mein sonderbares geistiges Vermögen, die Sprache dieses Zeitalters schon auf den ersten Anhieb verstehn oder gar sprechen zu können, verebbte natürlich von Zeit zu Zeit, und dann wirrte ich in meinen Antworten Deutsch, Französisch, Englisch und Italienisch durcheinander, und der Schweiß trat mir wiederum auf die Stirn. In solchen Augenblicken begann B.H. sich meiner zu schämen und lugte zeichengebend und einsagend hinter dem abstrakten Kunstwerk hervor. Die andern aber verstanden mich immer oder taten wenigstens so, was ihrer Furcht vor dem Ungemäßen und Unangenehmen zuzuschreiben ist. Freilich hatte dieses Verständnis seine Grenzen, wie es sich bald herausstellen wird.

In einer Pause nach dem dritten Gang wandte ich mich, nur um verlegene Konversation zu machen, an Io-Rasa, die schöne Brautmutter zu meiner linken Hand:

„Man speist in diesem Hause ausgezeichnet. Offen gesagt, ich habe in meinem Leben noch nie so gut gespeist. Freilich, es ist meine erste Mahlzeit in meiner jetzigen, so überraschenden Anwesenheit, denn von dem vorigen Leben will ich ja gar nicht reden. Sie führen eine vortreffliche Küche, Madame.“

B.H.s Kopf fuhr verzweifelt hinter seiner Deckung hervor. Ich hatte wieder eine unverzeihliche Gaffe begangen. Wie konnte man in dieser ästhetischsten aller Welten vom Essen reden, als lungre man in einem nach aufgewärmtem Gulasch stinkenden Bierbeisl? Ich erschrak. Doch die Dame ließ mich nichts fühlen. Sie lächelte bezaubernd mit ihren wunderschönen, vom Lichte ein wenig verwischten Zügen und entledigte sich aufs liebenswürdigste ihrer Pflicht, einen Gründling wie mich mit zarter Unauffälligkeit zu belehren:

„Wir führen keine eigene Küche, Seigneur. Die Rezepte, die sich seit Jahrhunderten im Besitze unserer Familie befinden und die auf keine andere Familie ohne den Stempel des Notars übertragbar sind, werden auf zentralem Wege hergestellt.“

Aha, da hätten wir ihn wieder, den zentralen Weg, dachte ich, und erhob meine Stimme, zu fragen:

„Ist es etwa der Arbeiter, Madame, der sich zugleich auch als Traiteur betätigt?“

„Sie wissen schon vom Arbeiter, Seigneur?“ fragte Io-Rasa ziemlich erstaunt. „Sie sind recht wohl informiert.“

„Nicht hinreichend, Madame, bei weitem nicht hinreichend“, erwiderte ich. „Aber ich ahne etwas sehr Großes an diesem Arbeiter, und ich weiß, daß er als einziger den Vollbart trägt.“

„Das ist nicht alles“, meinte sie, „und es ist auch nicht genau so. Den Vollbart tragen auch noch einige andre Personen.“

Alle Gespräche in der Runde verstummten. Ich hätte auch ohne B.H.s Blicke genau gefühlt, daß es nicht zum guten Ton gehörte, an eine Dame mehrere Fragen nacheinander zu richten. Aber mein Forscherdrang und das Interesse, das der Begriff des „Arbeiters“ in mir erweckte, ließ sich nicht bemeistern:

„Ist der Arbeiter nur ein Mann, oder ist er auch ein Gegenstand?“ fragte ich und schämte mich dieses Satzes, der mich an irgendein archaisches Gesellschaftsspiel gemahnte.

Ehe aber Io-Rasa, die Brautmutter, meine ungehörige Frage noch beantworten konnte, wurden wir durch ein kleines Ereignis unterbrochen, welches die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf sich zog. Ein Hund sprang ins Zimmer. Wahrhaftig, es war ein Hund, ein Hund mit vier Pfoten, rotbraunem Fell, großen haarigen Ohrlappen und einer länglichen Schnauze. Schmal, mittelgroß und überaus lebhaft wie er war, konnte ich seine Rasse nicht bestimmen. Er schien aber konzentrierter ein Inbegriff der Hundheit zu sein als die Hunde zu meiner Zeit, die vielfach übertriebene Züchtungsprodukte gewesen sind. Ich sage und schreibe:

Hund. Was aber war aus dem Hund seit tausend Jahrhunderten in immer engerem Umgang mit Menschen und menschlicher Pflege geworden? Leibesform, Fell, Schnauze, Ohrlappen, Pfoten, all dies war vollauf hündisch geblieben. Durch die traurige und tiergefesselte Grundierung dieses Hündischen aber äugte, ächzte, schnupperte, schmeichelte die Menschenhaftigkeit hervor, genauer, die Angemenschtheit, in jedem Zu- und Wegspringen, im Zögern oder in der Entschließung der Bewegungen und vor allem im aufmerksamen Blick, im abschätzenden Blick, im habgierig berechnenden Blick. Ich traute meinen Augen nicht. Doch noch viel weniger traute ich meinen Ohren, als der Hund zu reden begann. Es war ein Bellen, aber ein hundertfach modulierteres als das mir bekannte Hundegebell, aus dem sich ein beschränkter, jedoch zum Ausdruck des Hundegeistes hinreichender Wortschatz ganz natürlich zu entwickeln begann.

„Der Hund spricht ja“, kam’s mir über die Lippen.

Alle sahen mich erstaunt an. Bisher hatte ich mich trotz steifer Hemdbrust und weißer Binde dem Abenteuer gewachsen gezeigt. Jetzt schienen meine feingesichtigen Gastfreunde zu denken: Was will er eigentlich? Der Hund spricht ja? Die Hunde sprechen seit jeher. Sollten sie einmal nicht gesprochen haben? O du Idiot, sagte ich zu mir selbst, natürlich haben die Hunde immer gesprochen. Daß sie sich jetzt auch gewählt ausdrücken können, das liegt im Gesetze der Entwicklung und ist nichts Erstaunliches. Wann werde ich endlich genügend ruhige Nerven haben, um mir keine Blößen mehr zu geben?

Inzwischen sprang das Tier abwechselnd am Brautvater Io-Fagòr und an der Brautmutter Io-Rasa empor; im übersprudelnden Hundegestammel seiner Herrschaft den Hof machend und, wie mir sofort auffiel, mit der durchtriebenen und käuflichen Naivität eines Kinderfilmstars etwa, die Worte durcheinanderplärrend. Es war komisch, dieses seelisch verderbte Tier bediente sich eines affektierten Argots. Es bellte gewissermaßen in einem langgezogenen, neckischen Tonfall:

„’n Tag, Mamachen, ’n Tag, Papachen, da seid ihr ja. Wo wart ihr denn? Gibt’s nichts für mich? Heut ist doch erstes Hochzeitsfestmahl, da muß es was für mich geben. Vom Grünen bitte, vom Pistaziengrünen. Io-La hat mich heraufgeschickt. Wer ist denn alles da? Darf ich den Gummiball am Springbrunnen jagen? Bitte, bitte! Was ist das für ein Leben? Ihr wißt doch, Sur braucht seinen Auslauf. Haha, hmhm!“

Plötzlich witterte der Hund, daß es hier nicht mit ganz rechten Dingen zugehe. Er unterbrach sein kindlich tuendes Geplapper und prätentiöses Gekläff. (Zweiundfünfzig Jahre, wie man mir verriet, hatte er schon auf dem Buckel.) Er begann am ganzen Körper zu zittern, legte die Ohren zurück, klemmte den Schwanz zwischen die Hinterbeine und stieß, mich entsetzt anstarrend, ein langes, singendes Gewinsel hervor. Na endlich, dachte ich, bemerkst du etwas. Deine redlichen Vorfahren waren schlechtere Schauspieler und Deklamatoren als du. Aber ihr ungebrochener Instinkt hätte ein Gespenst sofort entdeckt, im Umkreis einer Meile mindestens, gleichgültig ob es im steifen Hemd erschienen wäre oder im Negligé seines Kirchhoflakens.

Dem Hundegebell entrang es sich winselnd:

„Mamachen, Papachen, was ist das, was habt ihr mir da wieder angetan? Den da soll es doch gar nicht geben! Den gibt es ja auch gar nicht. Der gehört nicht her zu uns. Laßt mich fort . . .“

Trotz dieser artikulierten Worte schlug die echte Tierangst jetzt über seiner durchtriebenen Angemenschtheit zusammen. Ich aber, bestürzt über meine Situation und angeekelt sowohl von der Kalfakterei als von der Feigheit des Hundes, brummte in mich hinein:

„Vor mir muß sich niemand fürchten, du, außerdem bin ich ja nicht wirklich tot. Ich atme, ich esse, wie du siehst, lieber Hund.“

Der Hausherr, Io-Fagòr, noch verlegener als ich, setzte dem Zwischenfall ein rasches Ende:

„Hinaus mit dir, Sur! Winsle unsern Gast nicht an! In den Garten, du Dummkopf, und sei pünktlich zurück . . .“

Ohne Abschied entwich Sur. So menschlich er sich auch gab, er hieß nur Sur. Das Präpositiv Io, das Ich bedeutet und mithin Unsterblichkeit, wurde ihm trotz allen Fortschritts und aller Verhätschelung doch nicht zugebilligt.

„Entschuldigen Sie, bitte, Surs Taktlosigkeit“, wandte sich Io-Fagòr zu mir, „es gibt eben doch Grenzen der Hundeerziehung, selbst bei geistig und moralisch befähigteren Exemplaren. Aber gewisse Demokraten wollen es nicht wahrhaben. Sie sind verbittert, daß zwischen Menschenund Hunderechten Unterschiede bestehn. Ich erinnere nur an die berühmte Publikation: ,Der Unfall, als Hund geboren zu werden, und die Verpflichtung des Menschengeschlechts zur Ersatzleistung an die betroffene Kreatur.“

„Das geht entschieden zu weit“, gelang es mir noch zu sagen. Darauf aber stieß mir ein gesellschaftlicher Unfall zu, der mich und infolgedessen auch B.H. in die schmählichste Lage brachte: Ich wollte klipp und klar vor dem Hausherrn bekennen, was in Bezug auf Sur meine bestimmte Empfindung und feste Ansicht war: „Ihr Hund, mein Herr, ist ein sehr schlechter Charakter.“ Plötzlich aber war ich der Sprache dieses Zeitalters, in dem ich so unerwartet mich auf Besuch befand, ganz und gar nicht mehr mächtig. Während ich noch knapp vorher mit den wunderschönen Herren und Damen reifen Alters hier aufs unbewußteste in ihrem Idiom parliert hatte, als sei es meine eigene Muttersprache, brachte ich plötzlich keine Silbe dieses Idioms mehr über die Lippen und verstand auch keine Silbe mehr. Es war ein grauenhaftes Impotenzgefühl, an das ich mich noch jetzt erinnern kann. Das Herz schlug mir bis zum Hals, und ich glaubte zu ersticken.

„Votre chien“, stammelte ich zuerst französisch, „a un très mauvais charactère.“

Der Mann sah mich verdutzt und verständnislos an. Niemand antwortete. Da versuchte ich’s auf italienisch:

„Il Suo cane a un molto brutto carattere.“

Die Betretenheit rings wuchs. Ich murmelte mechanisch den Satz in ein paar andern Sprachen, in denen ich mich dank meines langen Exils ein wenig ausdrücken konnte. Es hat gewiß geklungen wie in der Berlitz-School: „This dog has a very bad character“ — „Ten pies má bardzo marny charakter.“

Ich hörte, wie Io-Rasa und Io-Fagòr mit lächelnden Worten mich über die Situation hinwegzuheben versuchten. Es klang wie Aztekisch oder Zapotekisch:

„Titl bitja, topotla clan, potoltuk quel queme misesopono.“

Da hatt’ ich’s nun. Es war wie zuckriges Gezwitscher. Ja, wenn man so eine Sprache nur von außen sieht wie eine Hausfront, da weiß man nichts von den Bewohnern. Da gibt’s auch keinen Unterschied zwischen astronomischer Fortgeschrittenheit und uranfänglicher Primitivität.

„Hilf mir doch, B.H.“, entrang es sich mir.

Das Gesicht meines Freundes, der nun beinahe drohend, in voller Figur hinter der Skulptur hervorkam, war ganz bleich. Er preßte eine Hand an die Schläfe, wie um den Kopfschmerz zu betonen, den ich, seine verkörperte Blamage, durch mein Benehmen in ihm hervorgerufen hatte.

„Haltung, F.W.“, flüsterte er scharf, „und ein bißchen Psychologie, möchte ich bitten. In der monolingualen Sprache dieses Zeitalters kann man verletzende Dinge, die man aufdringlicherweise für Wahrheiten und Aufrichtigkeiten hält, nicht öffentlich ausdrücken.“

Da war’s, als ob mir jäh Ohren und Kehle wieder aufgingen und, unversehens und unbewußt der derzeitigen Sprache wieder mächtig, wandte ich mich mit einer Verbeugung an unsern Hausherrn, Io-Fagòr:

„Ihr Hund ist sehr schön und sehr klug“, sagte ich. Das ging wie geschmiert, und ich empfand nicht den geringsten Gewissensbiß bei dieser Lüge, noch auch das Bedürfnis, das auszudrücken was ich wirklich dachte. Ich hatte darüber hinaus die erleuchtete Empfindung, daß es heutzutage auch gar nicht notwendig war, auszudrücken was man dachte, da jeder es bis zu einem gewissen Grade schon wußte. Ich fügte zu meinem Lob noch folgende Frage hinzu:

„Was für einer Rasse gehört der Hund Sur an? Ich konnt’s nicht genau unterscheiden . . .“

Neues Erstaunen der Runde. Der Beständige Gast fragte unsicher:

„Was verstehen Sie unter ,Was für Rasse’, Seigneur? Ist Hund nicht Hund? Es gibt ja doch nur eine Art Hund.“

Genau an diesem Punkte der Unterhaltung begann ich, die Gesichter zu unterscheiden. Aus dem blassen Hintergrunde der allgemeinen Schönheit und Jugendlichkeit traten, zum erstenmal für mein Auge, individuelle Züge und Differenzen hervor. Der Beständige Gast zum Beispiel hatte eine lange Nase und tiefere Einbuchtungen der Wangen als die andern Persönlichkeiten. Auch verschwand seine Stirne beinahe unter dem silbernen Lockenaufbau aus opalisierender Masse. Er erinnerte mich an die Büste eines barocken Habsburgers oder Bourbonen mit Allongeperücke. Über der Betrachtung der Gesichter vergaß ich zu antworten. Daher mischte sich B.H. ins Gespräch, um keine Pause aufkommen zu lassen und mir zu helfen:

„Mein Freund F.W.“, sagte er, „hat einige Rassen und Arten von Hunden gekannt.“

Und er zwinkerte mir ermunternd zu, ich möge frisch drauflos erzählen und mich unterhaltsam über diesen harmlosen Gegenstand verbreiten, bei dem ja nicht viel passieren konnte.

Da ich mich aber durch B.H.s Ermunterung unangenehm aufgeführt fühlte, schwieg ich, der unterscheidenden Betrachtung der Gesichter hingegeben. Darauf schwärzte sich der Hausweise ins Gespräch, ein etwas dickeres Gesicht als die andern, mit einer Spur von Doppelkinn, ein zugleich eitler wie weichlicher Mann wahrscheinlich, der vom Wortführer als eine überflüssige Nebenerscheinung des Haushaltes tyrannisiert zu werden pflegte:

„In der folkloristischen Abteilung unseres Sephirodroms“, sprach er schnell, als ob er befürchte, seinen Satz nicht ungestört beenden zu können, „ja, in dieser Bibliothek beschäftigen sich mehrere Dissertationen mit einem Mythus über fünf oder sechs verschiedene Hundearten, von welchen jede einem besonderen Zwecke gedient haben soll, der Tötung von Tieren die eine, der Führung von Blinden die zweite, der Bewachung kleiner Kinder die dritte, der Verfolgung von Verbrechern die vierte und der Vollbringung gewisser Zauberriten, mit Göttin Hekate zusammenhängend, die fünfte.“

Er hatte recht gehabt, für seinen Satz zu fürchten, denn der Wortführer schnitt ihm mit einer Handbewegung die Rede ab. Ich aber sagte:

„Es wäre ein Fehler, das einen Mythus zu nennen, wovon die Dissertationen im Sephirodrom handeln. Sie sehn, ich gebrauche schon keckerweise das Wort Sephirodrom, ohne ganz genau zu wissen, was es bedeutet. — Nein, das mit den Hunderassen ist durchaus kein Mythus, sondern geschichtliche Wirklichkeit.“ Und ich begann aufzuzählen: „Windspiele und Bernhardiner und Chows und kleine Pekinesen und Wolfshunde und Doggen und Dobermans und Terrier . . .“

B.H. winkte mir ab. Nun aber verneigte sich der Wortführer gegen mich:

„Ihnen, Seigneur“, sprach er, „der einer farbenreichen, formenstrotzenden Märchenwelt entsprossen ist, muß die unsere, die moderne Welt sehr verarmt erscheinen . . .“

„Nicht verarmt“, entgegnete ich, ebenso höflich wie er, denn ich wußte schon, daß man sich mit jedem Wort angenehm machen sollte. „Nicht verarmt, aber vereinfacht Geht nicht der Aufstieg des Lebens vom ich-losen Gewimmel zur einmaligen Persönlichkeit, vom tausendfach wiederholbaren Cliché zur Rarität, von der ameisigen Emsigkeit zur ruhevollen Vereinzelung? In diesem Sinne scheint Ihre Welt, meine Herrschaften, hoch über unsere emporgestiegen zu sein, mag sie auch an Buntheit und Formenfülle verloren haben unter dem grellen und ewig wolkenlosen Himmel dort oben. Ist es nicht Wesen des Schöpferischen überhaupt, daß es sich im Anfang der wahllosen Üppigkeit befleißigt, um auf dem Höhepunkte, durch auswählende Kritik gezügelt, einer vornehmen Kargheit und fast heiligen Sterilität zuzuneigen? Wir nannten das seinerzeit den Weg zum Klassischen und Monumentalen.“

B.H.s Blicke nahmen mich an die Kandare. Ich hatte mit meiner Kulturphilosophie wahrscheinlich wieder die Grenze überschritten. Das Wort „heilige Sterilität“ glich einem Tintenklecks auf einem säuberlichen Glückwunschbrief.

„Mein Freund bevorzugt seit jeher allgemeine Reflexionen“, sagte B.H. und lächelte begütigend nach allen Seiten, „das ist so seine Art.“

Der Hausherr Io-Fagòr aber senkte nachdenklich den Kopf. Mein physiognomisches Unterscheidungsvermögen hatte sich nun schon so weit entschleiert, daß ich genau empfand, dieses ist nicht nur der vornehmste, sondern auch der bedeutsamste Mann unter den Anwesenden. Es schien mir, als sei sein Gesicht blasser und männlicher als das der andern. (Die Glätte der Haut und das Fehlen der Rasur auf den Männergesichtern hatte anfangs einen störenden Eindruck bei mir hervorgerufen.) Io-Fagòr sprach mit einer tiefen Stimme, an meine Worte anknüpfend:

„Ich verstehe Seigneur sehr wohl. Er hat recht, wenn er das Erreichte lobt. Wir könnten ganz zufrieden sein mit dem Zustand unter unserm ewig grellen und ewig wolkenlosen Himmel, wenn nur die Natur sich überreden ließe, solch einem günstigen Zustand konservative Dauer zu verleihen. Aber die Natur führt immer etwas im Schilde. Und was den Menschen betrifft, unsre guten Familien sind nicht alle auf der Höhe ihrer Aufgabe. Das lässig häusliche Leben, die tatlos beschauliche Ruhe, die Freiheit von allen Zwecken und Zwängen, das heitere, absichtslose Spiel, alles was Gott uns nach so vielen Wirrsalen eines schier endlosen Altertums geschenkt hat, ohne daß wir ein schlechtes Gewissen darum haben müssen, es wird von unsern Kindern nicht mehr als Lust empfunden . . .“

Und indem er sich mit einer tiefen Verbeugung an die Ahnfrau wandte, der die archaisch stilisierten Locken der Silberperücke sich über den makellos zarten Nacken ringelten, schloß er:

„Ihre Generation, Madame, war die absolute Höhe, denn sie kannte keinen Zweifel.“

Die Ahnfrau lächelte mit blitzend weißen Zähnen und hellen Augen, die freilich recht tief in den Höhlen lagen. Ich empfand jetzt beim Anblick dieses schönen Gesichtes einen leichten Schreck, ich kann nicht sagen warum. Vielleicht ahnte ich einen Zynismus ohnegleichen, den die folgenden Worte der Ahnfrau preisgaben oder auch verbargen:

„Ja, was man gehabt hat, das hat man gehabt.“

Meine Worte schienen vorhin den Hausherrn bekümmert zu haben. Es war nun an mir, meinen Fehler zu verbessern:

„So wenig ich auch noch mit meinen eigenen Augen in Ihrer Welt gesehn habe“, begann ich, „so sehr kann ich doch bereits das Ungeheure beurteilen, das Sie in der Wohleinrichtung des Lebens geleistet haben. Es ist Ihnen gelungen, die menschliche Lebensdauer rund zu verdreifachen, und viel mehr als dies, es ist Ihnen gelungen, diesem Leben den häßlichen Verfall des Alters fernzuhalten. Einem Traum, der so alt ist wie der Mensch selbst, haben Sie, dem Augenschein nach, zur Erfüllung verholfen. Der Jungbrunnen der frühesten Sagen und Märchen ist Wirklichkeit geworden. Sie alle sind ewig jung und ewig schön wie die Götter Griechenlands. Ich erwähne diese Götter eigens, weil es mich so heimisch anmutet, daß Sie in Ihre Sprache griechische Wörter mischen. Aber vielleicht wissen Sie nichts mehr von dem Ursprung dieser Wörter. Sie haben ferner das Problem gelöst, das uns zu meiner Zeit am tiefsten niederdrückte. Die Arbeit ist kein Fluch mehr, den eine Welt von Sklaven zugunsten einiger Nutznießer oder Regierer trägt. Sie haben aber mit diesem Fluch zugleich den Fluch der Technik abgeschafft, der die Sklaven und Nutznießer insgleichen um ihre Seele brachte, indem er sie mit Massenwaren, Massengenüssen, Massenkünsten, Massennichtigkeit und Massenmord überschwemmte. Es geht in Ihrer Welt alles so unfaßbar leicht zu. Ein köstliches Festmahl, aus den konzentriertesten Substanzen bestehend, gewissermaßen das Rosenöl der Nährfreude, es wird zentral hergestellt, doch auf Grund höchst persönlicher und seit Jahrhunderten patrizisch vererbter Rezepte. Sie reisen auf mentalem Wege, indem Sie das Ziel mittels eines Spielzeugs auf sich zu bewegen, was nicht die geringsten Kosten verursacht und keinen Dampf, kein Öl, keine Elektrizität oder sonstigen Kraftverbrauch in Anspruch nimmt. Sie haben den Globus unifiziert. Es gibt keine Rassen und Nationen mehr, sondern nur eine einzige Menschheit. Es gibt auch keine Sprachen mehr, sondern nur eine einzige Sprache, die Monolingua, kein künstliches Esperanto, sondern eine organische Sprache des Wohllauts, und ich muß Sie um Nachsicht wegen des barbarischen Akzentes bitten, den meine schwere Zunge aus der Vorzeit mitschleppt. Es gibt auch nicht mehr den ursprünglichen Unterschied zwischen Stadt und Land, den Unterschied zwischen der landschaftlich erhabenen Einöde, in der einst der unbelehrte Ackerbauer oder Bergbewohner sein hartes Leben fristete und der dicht gedrängten Großstadt, der lasterhaften und infektiösen Megalopolis, wo die proletarisierten Millionen keinen Raum und keine Zeit hatten. Sie haben, die gesellschaftliche Bestimmung der Menschheit vollendend, die Erde umgeschaffen zur All-stadt, zur Panopolis — verzeihen Sie einem alten Humanisten die klassische Wortbildung — Pan und Panis, zur All-stadt und zur Brotstadt, denn jedermann bekommt das zur Ernährung Notwendige in der Form des leichtesten, des raffiniertesten, des familiärsten Genusses ins Haus geliefert, und zwar ohne eitel großmächtige Technik, ohne Röhrenleitungen und hydraulische Vorrichtungen, an die nur zu denken bereits den Appetit verdürbe. Ich gestehe, zu meiner Zeit hätte ich nicht geglaubt, daß dies alles je würde erreicht werden können . . .“

Das Mahl schien zu Ende zu sein. Ich hatte das süß und eiskaltcremige Tränklein zu schnell hinuntergeschlürft und fühlte einen sonderbar Ich-bekräftigenden Schwips, dem es zuzuschreiben war, daß ich ohne alle Schüchternheit so viel redete, was vermutlich meiner Erscheinung gar nicht gut anstand. Io-Fagòr — sein Kopfputz war noch immer von Gold — hielt während meiner Rede das Haupt gesenkt. Er schien nicht ganz einverstanden zu sein. Darum vielleicht wollte der Wortführer jetzt vom Gegenstande ablenken:

„Sie haben soeben, Seigneur“, sagte er, „aufs gefälligste das Lob des heutigen Tages gesungen, und die Zufriedenheit eines verständnisvollen und wohlwollenden Gastes erfreut die Wirte immer . . . Wir möchten die Kräfte unsres wohlwollenden und verständnisvollen Gastes nicht allzusehr in Anspruch nehmen, zumal er eine so weite Reise zurückgelegt hat, um uns einen hoffentlich langen Besuch abzustatten. Aber vielleicht könnten Sie, Seigneur, in einigen erklärenden Merkworten, in einer netten Causerie uns Kunde geben von sich und von dem, was Ihnen denkwürdig, im Gegensatz zu unserem Leben, an jenem Leben scheint, das Sie vor geraumen Epochen verlassen haben . . .“

„Aber das würde doch zu weit führen, Monsieur“, sagte ich erschrocken.

„Schildern Sie nichts Allgemeines in ihrer netten, kleinen Causerie, Seigneur“, beruhigte mich der Wortführer, „sondern bleiben Sie persönlich, rein persönlich . . .“

Dieses Wort „persönlich, rein persönlich“ klang in meinen Ohren mild hypnotisch nach. Ich fühlte recht undeutlich, wie mir ein hart gepolsterter Streckstuhl untergeschoben wurde, auf den ich mich mit gelösten Muskeln müde fallen ließ. Die Herren und Damen umgaben mich in einem nahen, angenehmen Kreis. Ich sah erstaunt und mit übersichtiger Verschwommenheit die irisierenden Kopfaufsätze von Gold und Silber, die keusch verwischte Fleischfarbe der nackten Körper unter den durchsichtigen Schleiern. Mein Blick suchte B.H. Er lächelte und schien ganz zufrieden mit mir zu sein. Da schloß ich die Augen. Sofort verschwand die Gegenwart einer fremden Zukunftswelt und machte Platz der Vergangenheit einer heimatlichen Gegenwartsweit, die gleichsam mit dem Augenblick meines Todes stehengeblieben war wie eine Uhr. Von jener, der gegenwärtigen Zukunftswelt, hatte ich vorhin mit einiger Eloquenz schmeichlerisch schwärmen können, über diese, die vergangene Gegenwartsweit, wie gewünscht nett zu causieren, gelang mir keineswegs. Gewiß enttäuschte ich den kühlen und leicht beschwingten Geist des Wortführers, der jedes Problem in Causerie einzuwickeln gewöhnt war, da ja im Plaudern sein Hausamt bestand. Es waren aber auch keine schlagenden Aphorismen, keine erklärenden Merkworte, die ich zustande brachte, sondern vage Umschweife, Gleichnisse und Beispiele. Ich war eben nur ein Urmensch . . . „Ich stelle mir jetzt vor, Messieurs-Dames“, sagte ich, ohne die Augen zu öffnen, „daß ich zwölf Jahre alt bin . . . Es ist Mitte Juli, das Schuljahr zu Ende, vorigen Samstag wurden die Zeugnisse verteilt, wir sind aufs Land gefahren, die Eltern mit uns Kindern . . . Zehn Wochen Sommerferien liegen vor mir, eine Unendlichkeit von Faulheit, Neugier, Körperlust und Seelenglück: Schwimmen im See, Segeln, wildes Spiel mit den andern Buben, Kroquet-Turnier, Wagenfahrten, Ausflüge, Bergbesteigungen, Picknicks, ungewöhnliche Mahlzeiten in kleinen Wirtshäusern, Sommerfeste, Coriandolischlachten, Feuerwerk, Illuminationen, Rasten auf weiten Almwiesen, Schlaf an Waldrändern, die nach Zyklamen duften und nach dem würzigen Koniferenboden unzähliger gestorbener Herbste. Ah, wieviele Abenteuer fühl ich auf mich warten, Abenteuer . . . Es ist noch immer der fünfzehnte Juli . . . Meine Herrschaften, warum fällt plötzlich während einer Minute dieses unerschöpflich langen Gnadentags dem Zwölfjährigen ein, daß an demselben Fensterchen, an dem er steht und auf die ewigen, schattenwerfenden Berge starrt, es einmal nicht mehr der fünfzehnte Juli sein wird, sondern der fünfzehnte September und alle die Abenteuer des Glücks und der Pflichtlosigkeit, die jetzt vor ihm liegen, hinter ihm liegen werden, und wie ist das geschehn, im selben Augenblick ist der fünfzehnte September auch wirklich da . . . Verstehn Sie mich, verstehn Sie mich?“

Ich wußte nicht, ob sie mich verstanden. Keine Antwort zerriß die Nacht vor meinen geschlossenen Augen. Da versuchte ich, es an einem andern Beispiel zu erklären:

„Wir hatten in unserer Welt eine prächtige Einrichtung, Oper hieß sie. Sie werden darüber wohl nichts mehr vernommen haben . . . Oper . . . Bitte hilf mir, B.H.!“

„Sympaian“, sagte B.H., verdolmetschend.

„Sympaian“, wiederholte der Chor einiger Stimmen, durch den bekräftigenden Klang andeutend, daß ihm die Sache durchaus nicht unbekannt sei.

„Sympaian oder Oper, gleichviel“, hörte ich mich hinter schwarzen Schleiern sagen. „Ich war mehr als ein Enthusiast, ich war ein Opernfanatiker. Die Arie ,Celeste Aida’ des Tenors ist gesungen. Jetzt wird die breite Melodie der Amneris eintreten ,Quale insolita gioiaʻ, dann das atemlose ,Forse lʻarcano amore scopri chè m’arde in core’, damit sich schließlich auf der schaukelnden und verschobenen Stütze eines synkopierten Hornstoßes und eines kleinen, leisen Paukenwirbels das sinnbetörende, ja schwindelerregende Terzett entwickele, das gekrönt ist von dem schmerzlich stolzen Sangesbogen des Soprans: ,Ah no, sulla mia patria non geme il cor.’ Das alles kenne ich Takt für Takt, dem allen warte ich, bange ich sehnsuchtsvoll entgegen, es noch einmal zu genießen und zu verewigen im Seelengenuß. Doch im Augenblick, wenn die Melodie sich entfalten will, erfaßt mich die Herzensangst, daß sie im Nu zu Ende sein werde und vorbei, und sie ist schon vorbei in mir, ehe ihre Begleitung im Orchester noch recht begonnen hat . . . Verstehn Sie mich, verstehn Sie mich? . . .“

Wieder Schweigen. Ich öffnete die Augen noch immer nicht:

„Meine Zeit, Messieurs-Dames, war sehr kurz, an der Ihren gemessen. Sie glich in mancher Hinsicht jenen Melodien, die wir von unsern Vorfahren überliefert bekamen, in deren Anfang das Ende und in deren Ende der Anfang beschlossen war, und die, während sie noch abliefen, schon ausgeatmet hatten, weil wir sie als süße Erinnerung in uns trugen: ,Oh terra addio, addio o valle di pianti’. Die Zeit brannte von beiden Enden auf die Mitte zu, und die Mitte war mein unbeschütztes und ausgesetztes Ich. Mit dreißig Jahren versetzte ich mich ins vierzigste, ich der leichtsinnigste, gewissenloseste Sündenlümmel, den ich kenne, mit vierzig ins fünfzigste, immer dachte ich zurück oder vorwärts, nie war’s Gegenwart auf meiner Uhr, und als plötzlich alles um war, hatte es noch kaum begonnen und doch seit jeher gedauert. Verstehn Sie mich? . . .“

Ich öffnete die Augen. Die wunderschöne Ahnfrau näherte sich mir . . . Ich wollte aufspringen. Sie winkte mir mit ihrer Marmorhand, der man die Eiseskälte ansah, sitzen zu bleiben.

„Ich verstehe, Seigneur“, sagte sie in ihrem zynisch schwingenden Kontra-Alt, „daß Sie sich leidenschaftlich ans Leben geklammert haben in den Anfängen der Menschheit . . .“

Darauf ich, die persönliche Wahrheit vermeldend:

„Oft leidenschaftlich ans Leben geklammert, Madame, oft leidenschaftlich aus dem Leben fortgewünscht . . . Ich nehme an, daß man auch heute noch fühlt, was das Erwachen eines Liebenden am Morgen ist, wenn ihm der Verlust einer Geliebten, einer Mutter, eines Kindes mit einem Schlage bewußt wird . . . Das Erwachen eines Verurteilten im Untersuchungsgefängnis . . . Das Erwachen im Schützengraben um vier Uhr morgens vor dem Angriff . . . Wir waren bedroht, immer bedroht vom Verlust und vom extremen Schicksal des Ichs oder des uns verbundenen Dus . . .“

Das ,extreme Schicksalʻ war ein Euphemismus. Ich war schon so weit, daß ich um keinen Preis das nackte Wort ,Todʻ gebraucht hätte. Da sagte der Beständige Gast, der mit dem charakteristischen Barockkopf:

„Nun, das ist bei uns wirklich anders, denn wir gehn den letzten Weg freiwillig und zu Fuß.“

Jetzt stand ich auf und verbeugte mich:

„Nicht ich habe das erklärende Wort gesprochen, sondern Sie, mein Herr. Ja, in der Freiwilligkeit und in der Vorherbestimmung der eliminierenden Wendung liegt der ganze Unterschied. Unsere Nerven waren tagaus, tagein terrorisiert vom vorhergeschen Unvorhergesehenen. Jeder Atemzug unserer Zeit war bedroht. Inzwischen aber hat das Menschengeschlecht seine größte Tat vollbracht. Sie haben die wilde Zeit domestiziert, Messieurs-Dames . . . Sie sind weder von außen noch von innen mehr bedroht.“

„Wir sind bedroht“, sagte Io-Fagòr langsam, nachdem eine schwangere Pause vorübergegangen war. Alle sahen sich bedeutsam an. Die Elfenbeinfarbe ihrer Gesichter schien um einen Schatten bläulicher zu sein.

„Wir sind bedroht, Seigneur“, fuhr der Brautvater mit gedämpfter Stimme fort, „und zwar grausamer und schrecklicher als Sie es jemals waren.“

„Überschätzen Sie den Gegensatz der Generationen nicht“, suchte ich zu beschwichtigen, an die Worte denkend, die er vorhin über die Jugend gesprochen hatte. „In manchen Zeiten verschärft sich die natürliche Intention der Kinder gegen die Eltern. Das ist keine ernste Bedrohung, das ist eine Form der gesunden Entwicklung. Da hatten wir bei uns einen schwer lesbaren Philosophen, Hegel hieß er. Seine Theorie von der geschichtlichen Dialektik ist aber trotz allem ein Gemeinplatz geworden. Die Thesis ruft die Antithesis hervor, das Pendel muß von einer auf die andre Seite schwingen, nur damit die Sache weitergehe.“

„Mit dem Gegensatz von Eltern und Kindern hat es gar nichts zu tun“, versetzte Io-Fagòr und schüttelte seinen goldenen Kopf.

„Sollte etwa eine Naturkatastrophe drohen?“ forschte ich weiter, von ungebührlicher Wißbegier verführt. „Sie werden doch Mittel genug besitzen, sich vor Vereisungen oder Überflutungen zu schützen.“

„Diese Mittel besitzen wir wohl“, nickte der Hausweise, „aber nicht eine solche Katastrophe ist es, die uns schreckt.“

Ich suchte B.H.s Blick. Er wich mir aus.

„Weiß er noch nichts?“ fragte der Hausherr.

„Nein, er weiß noch nichts“, erwiderte B.H.

Das Mahl war zu Ende. Die Runde um das beunruhigend ausdrucksvolle, aber abstrakte Kunstwerk hatte sich aufgelöst, einem Lächeln und leichten Kopfnicken Io-Rasas, der Hausfrau, gehorchend. Die schöngesichtigen und feingestaltigen Männer und Frauen bildeten zwei streng getrennte Gruppen. Das war völlig im englischen Stil und verführte mich zu dem flüchtigen Einfall, die Welt müsse einst vor vielen Jahrzehntausenden durch die Angelsachsen unifiziert und dominiert worden sein, und davon sei diese puritanische Nachtischsitte noch in dieser fernsten Zukunft erhalten geblieben, eine prüde und fast heuchlerische Sitte übrigens, die angesichts der mangelnden oder überwundenen Leidenschaften auch ihren zwingenden Sinn verloren hatte.

Türen öffneten sich lautlos, und man sah in drei oder vier anstoßende Räumlichkeiten, deren jede von einem warmen, aber anders kolorierten Lichte erfüllt war. Die polychrome Beleuchtung schien in der gegenwärtigen Zivilisation wahrhaftig die Rolle der Haute Couture übernommen zu haben, denn während die lieblichen Figuren meiner neuen Mitmenschen mit ihrem schönschwingenden Schritt sich in den verschiedenen Salons verloren, wurden sie von der jeweiligen Lichtquelle jedesmal neu und andersfarbig kostümiert. Hier muß ich in meinen Bericht eine kleine persönliche Anmerkung einschalten. Als Astigmatiker war ich zu Lebzeiten verurteilt gewesen, stets Augengläser zu tragen. Nach meinem Hinscheiden aber schien man mir diese abgenommen zu haben, was einerseits meine Züge gehoben haben mochte, mich aber andererseits jetzt in beständige Verlegenheit brachte und mir meine Aufgabe ziemlich erschwerte, sah ich doch während meines ganzen Aufenthaltes alles recht verschwommen und vielfach nur in Umrissen. Die einfache Lehre, die man aus diesem Umstand ziehen sollte: „Lasset euern Dahingegangenen die Brillen auf der Nase, denn man kann nie wissen . . .“ Da waren die Ägypter und andre Völker aus den Anfängen der Menschheit viel vorsichtiger. Sie gaben ihren Toten eine vollkommene, gebrauchsbereite Ausstattung mit, die selbst die von wohlhabenden Bräuten übertraf. Ach, mir wäre schon mit einem alternativen Hemd, zwei Kragen, zwei Taschentüchern und vor allem meiner Brille gedient gewesen.

Ebensowenig wie von diesem Festmahl irgendwelche äußern Reste übriggeblieben waren, ebensowenig war man sich einer verdauenden Nachwirkung des Genossenen bewußt. Ich empfand weder Sättigung noch unbefriedigten Appetit, sondern nichts als eine leise und wohlige Erwärmtheit. Ja, ja, ich hatte mich nicht mit Materie vollgepampft wie in meinen guten Jahren (das hat auch seine Vorzüge gehabt), sondern mit Substanz, wenn nicht gar nur mit der Idee von Substanz, im winzigen Hohlmaß von dickem Kristall dargereicht. — Wenn es dem Leser bisher nicht selbst aufgefallen ist, so möchte ich sein Augenmerk darauf lenken, daß, wie zur Herstellung dieses Mahles, auch zu seinem Service eine Dienerschaft weder vonnöten war noch auch sich zeigte. Ich empfing das jeweilige Süppchen oder Tränklein im Becher jedesmal aus Io-Rasas Händen persönlich. Wie es dahin und wie die übrigen Becher in die Hände der andern Festgäste gerieten, das kann ich wegen oberwähnter Augenschwäche leider nicht angeben. Mit dem Auftrag einer solchen Berichterstattung sollte das nächstemal ein Verstorbener ohne jedes Gebrechen betraut werden.

Was mich an mir selbst jedoch am meisten erstaunte, war, daß ich kein Bedürfnis nach Tabak oder Alkohol empfand und meine Tasche weder nach einer Zigarettenschachtel abtastete noch auch nach einem Gläschen Kognak umherlugte. Sollten hunderttausend Jahre der Entziehung wirklich genügt haben, mir diese Laster abzugewöhnen? Doch selbst wenn diese Entwöhnungszeit zu kurz gewesen wäre, hätte mir meine mitgeschleppte Süchtigkeit auch nichts genützt. Denn die neue Mitmenschheit, der ich im Augenblick meinen Besuch abstattete, rauchte nicht, noch trank sie Branntwein. Mit den überstandenen Leidenschaften schien auch der Trieb nach stimulierenden Giften verschwunden zu sein, jene Rate dionysischer Selbstzerstörung, auf die wir in unserer Jugendzeit stolz gewesen sind bis zum albernen Wetteifer in allnächtlichen Exzessen. Wie hatte ich doch alle braven Jünglinge verachtet, die nichts vertrugen und um elf Uhr bereits zu Bette lagen, und wie jene „Sieger des Lebens“ verehrt, die bis zum Morgengrauen mit hochgerötetem Gesicht und schwimmenden Augen von Taverne zu Taverne zogen; diese Verehrung des Trinkers und des Trinkens hatten freilich nicht nur wir geübt, sondern nicht minder unser halber Zeitgenosse Plato (uns nur um rund zweitausend Jährchen voraus), der seinem bekannten Geisteshelden Sokrates die Kraft verlieh, mit siebzig die Jüngsten untern Tisch zu zechen, und sich trotzdem ziemlich nüchtern ins Morgenrot hinauszuschleichen. Nun, nicht Plato und wir, sondern diese hier hatten recht, das bewies ihre ewige Jugend. Hatten sie eigentlich recht?

Ich machte mich bei der ersten Gelegenheit an B.H. heran und verlangte flüsternd Aufklärung:

„Da hast dus selbst gehört“, grollte ich. „Man wundert sich darüber, daß ich die wichtigsten Dinge nicht weiß. Man kann es einfach nicht begreifen, daß du mich ohne alle Informationen läßt. Sei doch bitte nicht so zurückhaltend oder eifersüchtig . . .!“

Er sah sich zuerst betreten um, ehe er mich in einen der kleinsten Nebenräume lenkte, wo wir Hoffnung hatten, allein zu bleiben. Bevor wir aber dieses auffällig dunkle Salönchen erreichten, wurde ich von einigen der Herren angeredet und höflich ins Gespräch gezogen. Es war das leerste Gespräch, das sich denken läßt. So spricht man eben mit Materialisationen, und so antworten Materialisationen; dabei muß ich bekennen, daß die Gesellschaft mit vornehmstem Takte das Ungewöhnliche meiner Lage übersah und mir mit keinem Laut und Blick zu verstehen gab, daß ich keineswegs zu ihr gehörte, sondern lediglich aus der multituden Phantastik der Urwildnis in die große Vereinfachung der echten Kultur durch einen Lockruf verschlagen worden war. So kam man mir mit größter Eleganz zuvor, mich allzu minderwertig zu fühlen.

Und dann saß ich endlich mit B.H. im bernsteinfarbenen Dunkel des winzigen Salons, der eigens für Geheimgespräche unter vier Augen bestimmt zu sein schien. Ich in meinem alten Frack, er in seiner kopierten Uniform als Leutnant des Ersten Weltkrieges, bildeten eine Insel, ein fossiles Einsprengsel des zwanzigsten Jahrhunderts in einer unermeßlich weit vorausgestürmten Zeit. Das ist beinahe schon mehr als ein Vergleich, denn wir beide aus der fernsten Vergangenheit saßen wirklich wie zwei ausgestorbene Insekten im Bernstein der Gegenwart. Es herrschte um uns die tiefste Stille, da kein Mensch heutzutage den Ton zu erheben pflegte, da kein rauher Kehllaut, kein gackerndes Gelächter, kein zackiges Durcheinander von Worten sich losrang, sondern die lebhafteste Unterhaltung selbst einer zahlreichen Gesellschaft wie hinter Stimmschleiern geführt wurde. Warum im übrigen mein Freund, der Wiedergeborene, Wickelgamaschen und jene alte Militärbluse trug, vergaß ich zu eruieren, obwohl ich es mir immer wieder vornahm. Ich muß gestehen, ich fühlte eine unbeschreibliche Entspannung, ja Erschlaffung, als ich mich jetzt wieder allein fand mit meinem lieben Freunde B.H. Niemand nämlich, der es nicht erlebt hat — und wer hat es außer mir erlebt? ―, kann die Anstrengung ermessen, welche der Aufenthalt in einer Zeit- und Raumfremde so hohen Grades von Leib und Seele fordert.

„Also, was ist es, was ich nicht weiß, und was du mir unterschlägst?“ fragte ich und mußte ein krampfhaftes Gähnen der Erschöpfung unterdrücken.

„Der Dschungel“, versetzte B.H. ebenso einsilbig wie dunkel.

„Der Dschungel . . .? Was verstehst du . . .“

„Wahrscheinlich etwas anderes als du“, unterbrach er mich, und auf seinen Zügen malte sich deutlicher Abscheu: „Ich aber verstehe darunter das säuische Getümmel . . . Ich verstehe darunter den betäubenden Lärm von Ringelspielen und Jahrmarktsorgeln . . . Und Gockelhähne und Hühner halten sie auch.“

„Warum zum Teufel sollen sie keine Gockelhähne und keine Hühner halten . . .?“

„Ja, das muß ich dir wohl übersetzen . . . Was würdest du zu deiner Zeit über einen Bauernhof gedacht haben, auf dem man Aasgeier oder mörderische Kondore als Haustiere züchtete . . .?“

Nach einigem Hin und Her erfuhr ich fürs erste folgendes: Noch vor einigen Generationen und Jahrhunderten war der ganze Planet, bis auf die zum Teil eingeschrumpften Ozeane und seine toten oder unbewohnbaren Flächen, der herrschenden Gesittung unterworfen und mit jenem ergrauten aber federnden Rasenteppich allüberall bedeckt gewesen, der mir bei Betreten des Zeitalters zuerst aufgefallen war. Seit geraumer Zeit jedoch hatte sich dieses Bild verändert. Anfangs, vornehmlich „an den Rändern“ der Kultur, war etwas aufgebrochen, was mir in solchen unbestimmten und Abscheu verratenden Worten mitgeteilt wurde wie: „Dschungel“ oder „säuisches Getümmel“. Vorstellen konnte ich mir darunter nicht sogleich etwas, ich verstand aber bald, daß es sich bei dieser unheimlichen Sache nicht etwa nur um eine vegetative Unregelmäßigkeit handelte, sondern ebenso um eine menschliche Abirrung. Das Vegetative freilich blieb Ursache und Anstoß des späteren Mißgeschehens. Unerklärbar für die weltliche Wissenschaft und ihres Widerstandes spottend, hatten sich an verschiedenen Stellen der Erdoberfläche Sümpfe gebildet, die sich jedoch bald in blühende Wildnisse verwandelten, in smaragdgrüne Oasen, wo es wieder bergähnliche Erhebungen gab, duftige Täler, Seen, Flüsse und Bäche und hohe Bäume. Die Augen der Zeitgenossen wurden zu ihrem eigenen Entsetzen angezogen, wenn sie am Horizonte diese blauenden und so gefährlichen Eilande gewahrten.

„Und was weiter?“ wunderte ich mich, als ich es bis zu diesem Punkte erfaßt hatte. „Ihr tut ja so, als ob diese prachtvollen Unterbrechungen eurer öden Ebene Blattern und Aussatz wären.“

„Sie sind Blattern und Aussatz“, verwies mich B.H. „Weißt du denn nicht, daß das allerschlimmste auf dieser Welt Rückfälligkeit ist und Verführung zur Rückfälligkeit?“

Ich erfuhr aus abgerissenen Worten und in Eile, daß dieser Inseln immer mehr würden, daß sich sogar hier in der Nähe Californias ein solcher Dschungel befinde, daß dort nicht nur eine abscheuliche Fauna und Flora entstanden, oder genauer: wiederentstanden sei, sondern, gräßlich zu sagen, ein neuer Menschenstamm, gezeugt und geboren von Entsprungenen, von Mißratenen, die der Lockung zum Rückfall nicht hatten widerstehen können. Äffische Wesen seien daraus geworden, Zwerge oder Riesen, ungleich dem edlen Mittelmaß, das die Menschheit erarbeitet hat, Wilde, ein säuisches Getümmel, das Junge wirft wie die Katze und sie auch nicht länger trägt als diese . . .

„Es muß doch eine Kleinigkeit für euer Gouvernement sein“, zuckte ich die Achseln, „mit diesen bedauerlich Rousseau’schen Erholungsstätten von der Kultur fertig zu werden. Besitzt ihr nicht die entsprechenden Todesstrahlen, die im Augenblick einen solchen Dschungel mit Gockelhähnen und Hühnern wegrasieren können?“

Er griff sich an die Kehle und starrte mich erbleichend an:

„Was sagst du? Hast du denn noch nicht gehört, daß wir nicht imstande sind zu . . . etwas Lebendiges zu beseitigen?“

Es war ihm im letzten Augenblick gelungen, das Wort „töten“ zu vermeiden.

Hier wurden wir unterbrochen. Der Wortführer, dieser unterhaltsame und fürsorgende Abbé des Hauses, stand in der Tür des kleinen Salons mit seiner ein wenig zitternden Silberperücke und bat uns unter vielen Entschuldigungen in den Saal. Dort trat uns Io-Rasa, die schöne Brautmutter entgegen. Ich fühlte mich gestört, denn erstens wäre ich recht gern ein bißchen länger im Bernstein eingesprengt gesessen, und zweitens war nun meine Neugier und Forscherlust so weit erwacht, daß ich schnell mehr wissen wollte. Neben dem „Arbeiter“ bedrängte mich der „Dschungel“ am stärksten. Hoffentlich konnte ich meinen Aufenthalt hier lange genug ausdehnen, um einen Blick auf jenen Dschungel zu werfen, von außen wenigstens, wo durch Mithilfe der Natur der Mensch wieder einmal der Bürde seiner guten Manieren ledig geworden war. Da ich es nie allzusehr mit den Wohlerzogenen gehalten hatte, so mußte ich fürchten, daß der Dschungel mir nicht genug Grauen einjagen würde.

Die reizende Brautmutter durchdrang meine Geistesabwesenheit mit einem Lächeln:

„Unsre Kinder“, wisperte sie, „sehnen sich schon sehr danach, Sie zu begrüßen, Seigneur. Die Kinder sind ja schließlich die Hauptpersonen dieser Tage, und Ihr gütiges Erscheinen, für das wir nicht genug danken können, ist als Geschenk für Io-Do und Io-La gedacht.“

Die Dame deutete auf einen kleinen und sichtlich bescheidenen Mann in Silberkopfputz. Es war Io-Solip, der Vater des Bräutigams:

„Mein lieber Gegenschwieger hier“, konversierte Io-Rasa, „wird die seltene Ehre haben, Seigneur, Sie vorerst zu Io- Do, seinem Sohn, zu führen. Sie werden nicht nur einen charmanten jungen Mann kennen lernen, sondern einen Sammler und strebsamen Studenten der Historie.“

B.H. und ich folgten dem zarten und bescheidenen Herrn Io-Solip, der mir mit einer schützenden Handbewegung voranschritt, als müsse er mich davor bewahren, auf dem unbekannten Terrain dieser Zeit auszugleiten. Später erfuhr ich, daß soeben der Großbischof seinen Besuch angesagt hatte. Dieser Besuch war ein Teil der Festordnung. Da es sich um ein großes Haus handelte, sollte der Kirchenfürst am übernächsten Tag die Trauung selbst vornehmen. Die Hausfrau hatte mich geschickt aus den Empfangsräumen entfernt. Die Kirche nämlich verwarf, heute wie damals und immer, jede Art okkultistischer Aktivität als eine Entweihung des echten mystischen Strebens und als ein unerlaubtes Forschen im Verbotenen. Da diese Aktivität aber in letzter Zeit auf dem ganzen Globus erschreckend überhandgenommen hatte und derart raffiniert ausgebildet worden war, daß sie so glänzende Resultate und Realisationen aufzuweisen hatte wie zum Beispiel mich, so pflegte die Kirche, wie stets in solchen Fällen, ein Auge zuzudrücken, ohne einen Fußbreit von ihrem Standpunkt abzuweichen. Immerhin aber wäre es zu viel verlangt gewesen von einem Großbischof, daß er mit einem okkulten Phänomen gesellige Artigkeiten austausche, mit einer armen Seele in steifem Hemd und weißer Binde, die anderswohin gehörte als hierher, bestenfalls ins Fegefeuer, von wo sie vermutlich auch nur einen kurzen Urlaub erhalten hatte.

Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman

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